Vierzig Jahre nach Unterzeichnung ist mit dem Schengener Übereinkommen eines der erfolgreichsten Projekte europäischer Integration mit einem Paradox konfrontiert: Trotz zahlreicher Reformen, die der Stärkung des Außengrenzschutzes und des europäischen Asylsystems dienen sollen, halten zentrale Mitgliedstaaten unbeirrt an nationalen Binnengrenzkontrollen fest. Deutschland nimmt in dieser Entwicklung eine fragwürdige Vorreiterrolle ein. Es hat im September 2024 Kontrollen an den Grenzen zu allen seinen Nachbarn eingeführt und diese im Mai 2025 durch die systematische Zurückweisung von Asylsuchenden verschärft. Diese Maßnahmen konterkarieren das Kernversprechen Schengens – die Schaffung eines Raumes ohne Grenzkontrollen. Treibende Kraft dieser Erosion ist das ungelöste Problem der irregulären Migration, die das politische Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten kontinuierlich aushöhlt. Schengen droht in der Folge zu einer Dauerbaustelle zu werden, weil nationalen Sicherheitsinteressen Vorrang vor gemeinsamen Regeln gegeben wird.
Die chinesische Volksbefreiungsarmee (People’s Liberation Army, PLA) unterliegt derzeit einem Prozess grundlegender struktureller Reformen. Diese sollen ihre Einsatzbereitschaft und Schlagkraft erhöhen. Der Imperativ eines gegenüber der Parteiführung loyalen Militärs dominiert die Verteidigungspolitik und durchdringt die Organisationskultur der Armee. Die Zentralisierung der Entscheidungsgewalt beim Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission, Xi Jinping, und dessen Beharren auf strikter Parteidisziplin widersprechen der auftragsorientierten Operationsführung, wie sie die Militärdoktrin vorgibt. Die Fähigkeit zur teilstreitkräftegemeinsamen Operationsführung (Joint Warfare) setzt verstärkte Übungstätigkeiten voraus. Sie kann bestenfalls nach einem Generationenwechsel unter den Kommandeuren erlangt werden. Die Strukturen und Entscheidungsprozesse in der PLA bleiben intransparent. Sie fördern Gruppendenken und erschweren den Informationsaustausch mit externen Akteuren erheblich. Weil auch in Europa verstärkt eine Bedrohung durch China wahrgenommen wird und sich die Spannungen zwischen China und den USA verschärfen, gewinnen direkte Kontakte zur PLA an Bedeutung. Neben repräsentativen Treffen mit dem Verteidigungsministerium, der Zentralen Militärkommission und Kommandeuren der Teilstreitkräfte sollten vor allem informellere Formate aktiver und strategischer genutzt werden.
Europa muss seine Verteidigungsfähigkeit neu aufstellen, angesichts der Volten in Washington notfalls auch ohne die USA. Im März 2025 hat die EU eine Reihe von Initiativen auf den Weg gebracht, um die Rüstungsindustrie und die rüstungspolitische Zusammenarbeit zu stärken. Durch diese Vorhaben könnte sie auch ihre Partnerschaftsstrategie neu ordnen. Frühere Brüsseler Formate zur Kooperation im Rüstungsbereich standen ausschließlich Mitgliedern von EU und Europäischem Wirtschaftsraum (EWR) offen. Das im Mai 2025 von der EU verabschiedete SAFE-Instrument sieht hingegen für die Ukraine ein Level an Integration auf diesem Sektor vor, das dem eines EU-Staates nahekommt. Mit dem Vereinigten Königreich hat die EU hier über ein Sicherheitspartnerschaftsabkommen erstmals nach dem Brexit neue Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen. Auch Ländern wie Kanada, der Türkei, Japan, Südkorea oder sogar Indien will die EU über Partnerschaftsabkommen Anknüpfungspunkte bieten. Dies könnte der Beginn einer neuen Allianzstrategie werden.
In den Diskussionen, die auf EU-Ebene über das neue Emissionsminderungsziel für 2040 geführt werden, rückte zuletzt die Rolle internationaler Zertifikate in den Fokus. Die Diskussionen gewinnen auch deshalb an Dynamik, weil die Bundesregierung ihre Unterstützung für das Ziel, die Emissionen um netto 90 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 zu mindern, an die Bedingung knüpft, bis zu drei Prozent der Zielvorgabe mittels internationaler Zertifikate aus Partnerländern zu erfüllen. Wie das Ziel konkret ausgestaltet werden soll und was daraus für die europäischen Politikinstrumente folgt, wird in den bevorstehenden EU-Gesetzgebungsprozessen Anlass für Konflikte sein. Trotz offener Fragen zur Qualität, Zusätzlichkeit und Verfügbarkeit der Zertifikate ist eine frühzeitige Debatte über ihre möglichen Funktionen sinnvoll – um Politikinstrumente gegebenenfalls weiterzuentwickeln und spätere Korrekturen zu ermöglichen. Zielführend wäre es, den Einsatz internationaler Zertifikate auf dauerhafte CO2-Entnahmetechnologien zu konzentrieren, die in der EU selbst nur begrenzt skalierbar sind. Internationale CO2-Entnahme-Zertifikate könnten als Ausgleich von Restemissionen nicht nur einen Beitrag zur Bewältigung der noch bevorstehenden Herausforderungen auf dem Weg zu Treibhausgasneutralität leisten; die Etablierung einer institutionalisierten Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Entnahmemethoden würde zugleich eine wichtige Grundlage für das Erreichen netto-negativer Emissionen schaffen.
Beim Antrittsbesuch von Bundeskanzler Friedrich Merz in Washington richtet sich die Aufmerksamkeit vieler Europäer auf die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen. In geopolitisch unsicheren Zeiten erscheint ein stabiles Verhältnis zu den USA für die Sicherheit Europas unverzichtbar. Unter einigen Europäern herrscht jedoch Skepsis, ob der deutsche Bundeskanzler die EU schwächen könnte, indem er, wie zuletzt der britische Premier Keir Starmer, bilaterale Absprachen mit Trump trifft. Merz steht somit vor der Herausforderung, deutsche Interessen zu vertreten, ohne das Vertrauen der Partner zu gefährden – und ohne sich zu bilateralen Zugeständnissen drängen zu lassen.
In den zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen, die für die US-Regierung strategisch relevant sind, wäre ein deutscher Alleingang jedoch ohnehin wirkungslos. Geht es um die Übernahme der Lasten der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine, um Zölle, Verhandlungen über Regulierungsstandards oder die Politik gegenüber China, muss Merz mit den europäischen Partnern abgestimmt handeln – sonst schadet er deutschen Interessen. Der Bundeskanzler reist im »europäischen Korsett« an – das sollte Europa beruhigen und könnte ihm im Umgang mit Trump selbst nutzen.
Trump verlangt von den Europäern seit Jahren, mehr Lasten in der NATO zu übernehmen und die Verteidigungsausgaben zu steigern – zuletzt auf einen Anteil von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Merz kann in Washington die Aussage seines Außenministers Johann Wadephul unterstreichen, dass Deutschland seine Verteidigungsfähigkeiten massiv verbessern und die Ausgaben auf das von Trump geforderte Niveau steigern möchte. Zwar sollen davon nur rund 3,5 Prozent auf NATO-relevante Bereiche entfallen, doch bereits diese Ankündigung könnte Merz in Washington als Zeichen gestiegener Bereitschaft präsentieren.
Europas Rolle bei der Ukraine-UnterstützungIn einem möglichen Szenario eines US-Rückzugs aus der Ukraine-Unterstützung wächst der Druck auf die Europäer, finanziell und militärisch mehr Verantwortung zu übernehmen. Eine Garantie kann Deutschland jedoch alleine nicht leisten – weder konventionell noch nuklear. Umgekehrt könnte Merz auch nicht einfach dem Druck Trumps nachgeben und den deutschen – und damit zweitgrößten – finanziellen Anteil an der Unterstützung der Ukraine auslaufen lassen. Das würde die eigene Sicherheitslage Deutschlands gefährden. Ein gemeinsames europäisches Vorgehen ist daher essenziell.
Strittig bleibt innerhalb der EU die Frage, wie mit eingefrorenem russischem Finanzguthaben umgegangen werden soll. Während manche Staaten dafür plädieren, die Einlagen selbst zu nutzen, um über die Zinserlöse hinaus weiteres Geld für die Unterstützung der Ukraine am Kapitalmarkt zu beschaffen, ist nicht nur in Deutschland die Sorge groß, dass mit der Enteignung privater Guthaben das Vertrauen in den europäischen Finanzplatz verloren gehen könnte. Sollte Merz gegenüber Trump weitreichende Finanzzusagen machen wollen, bräuchte er dafür die Rückendeckung seiner europäischen Partner.
Handels- und Digitalpolitik in EU-KompetenzWeitere Forderungen aus Washington betreffen die Handelspolitik und regulatorische Fragen, darunter EU-Zölle oder die Regulierung digitaler Plattformen. In diesen Bereichen sind Merz allerdings die Hände gebunden. Zuständig ist dafür in erster Linie die Europäische Kommission, die in diesen bereits Gesetze wie den Digital Markets Act oder den Digital Services Act vorangetrieben hat, die inzwischen EU-weit gelten.
Ähnlich verhält es sich bei der Frage nach einer robusteren Außenwirtschaftspolitik gegenüber China, einschließlich der Zölle auf Elektrofahrzeugimporte. Deutschland ist zwar ein wichtiger Ansprechpartner, doch eine Hebelwirkung entfaltet sich nur durch koordiniertes Handeln der gesamten EU. Maßnahmen um das Land daran zu hindern, Waren aus staatlich subventionierter Überproduktion zu geringen Preisen auf den US- und auf den europäischen Markt zu bringen, lassen sich nur gemeinsam durchsetzen.
Friedrich Merz steht bei seinem Besuch in Washington vor seiner ersten großen außenpolitischen Bewährungsprobe. Einerseits erwartet Europa von ihm, dass er die transatlantischen Beziehungen stabilisiert. Andererseits darf er dabei die europäischen Interessen nicht aus den Augen verlieren. Das »europäische Korsett« hat dabei den Nachteil, dass es flexibles Handeln erschwert. Es hat jedoch den Vorteil, dass es Merz’ Vorgehen für die europäischen Partner vorhersehbarer macht. Das schafft Vertrauen in die deutsche Außenpolitik.
Georgien befindet sich an einer Weggabelung: innenpolitisch durch den Rückbau demokratischer Errungenschaften, außenpolitisch durch eine Rekonfiguration seiner Außenbeziehungen. Beeinflusst werden diese Dynamiken durch geopolitische Disruptionen in der Region und auf globaler Ebene. Im Umgang mit dieser Herausforderung sollte die EU eine bedachtsame Nutzung von Kommunikationskanälen im Sinne der demokratischen und europäischen Zukunft Georgiens prüfen, Kooperationsfragen eng an deren Implikationen für die Bevölkerung knüpfen sowie die Resilienz der georgischen Zivilgesellschaft stärken. Fortschritte anderer EU-Beitrittskandidaten würden EU-skeptische Stimmen schwächen und könnten den gesellschaftlichen Rückhalt für Georgiens europäische Perspektive festigen.
Die EU verfügt über ein weltweit einzigartiges Netz von Freihandelsabkommen. In oft langwierigen Verhandlungen hat sie dafür Vereinbarungen geschlossen, die über eine gegenseitige Öffnung der Märkte weit hinausgehen. Vielmehr beziehen die Abkommen wirtschaftliche und außenpolitische Themen mit ein, ebenso Fragen der ökonomischen Entwicklung und des Schutzes menschenwürdiger Arbeit, der Umwelt und der Menschenrechte. Allerdings ändern sich zunehmend die Rahmenbedingungen. Dies betrifft nicht nur die neuesten Aktivitäten der US-Regierung in der Handelspolitik, die Erosion der Welthandelsorganisation (WTO) als multilateraler Ordnungsrahmen oder die geoökonomischen Prioritäten anderer Akteure sowie die zunehmende Konkurrenz mit ihnen. Auch die Handelspolitik der EU selbst hat sich gewandelt, neue Ziele definiert und neue Instrumente entwickelt. Diese Herausforderungen bieten Anlass, die bisherige Praxis der EU auf den Prüfstand zu stellen, was den Umgang mit geplanten Freihandelsabkommen angeht. Das gilt für deren Inhalt und Zuschnitt, aber auch für die Verhandlungen mit den jeweiligen Partnern sowie die EU-internen Abläufe der Zustimmung und des Abschlusses. Wesentlich muss die EU in die Lage kommen, Freihandelsabkommen erforderlichenfalls leichter und schneller abschließen zu können. Sie kann dazu ihren Partnern in einigem Umfang eine Modularisierung und Dynamisierung der Vereinbarungen anbieten, ebenso eine Kooperation bei der Umsetzung der EU-seitigen autonomen Nachhaltigkeitsinstrumente. Die EU muss aber auch intern die Zustimmung zu Abkommen und deren Abschluss erleichtern und beschleunigen. Sie kann dabei in weitem Umfang von der Möglichkeit Gebrauch machen, den »Handelsteil« von Abkommen im Rahmen ihrer Handelskompetenz allein und mit einer qualifizierten Mehrheit im Rat abzuschließen.