Publikationen des German Institute of Development and Sustainability (IDOS)
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mar, 11/10/2016 - 15:58
Bonn, 12.10.2016. Am 16. Oktober ist es wieder soweit: Die Weltgemeinschaft erinnert am Welternährungstag an die Menschen, die auch in Zeiten des globalen Überflusses noch hungern. 1945 wurde an diesem Tag die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) gegründet. Seitdem ist die Zahl der Hungernden erschreckend konstant – etwa 800 Millionen bis eine Milliarde Menschen leiden weltweit an Unterernährung. Nur weil sich die Weltbevölkerung mittlerweile verdreifacht hat, ist der Anteil der Hungernden von etwa 35 % auf 11 % zurückgegangen. Doch ist dies wirklich ein Erfolg? Mittlerweile leben auch in Entwicklungsländern mehr Über- als Unterernährte. In Südasien und in Subsahara-Afrika jedoch sind sowohl die Anzahl als auch der Anteil der Hungernden immer noch besonders hoch.
Diese Zahlen selbst sind bereits skandalös. Dazu kommt, dass in den globalen Überschussregionen wie Nord- und Südamerika die „moderne“ Nahrungsmittelproduktion mit großen Maschinen, Mineraldünger und chemischem Pflanzenschutz an biologische, ökologische und gesellschaftliche Grenzen kommt. Andererseits werden in vielen armen Ländern die natürlichen Ressourcen durch Übernutzung auf niedrigem Produktivitätsniveau zerstört. Wasser für die Bewässerung etwa wird vielerorts knapp. Die Agrar- und allgemeine Biodiversität schwindet. Der Klimawandel bedroht die Landwirtschaft ausgerechnet in den ärmsten, subtropischen Weltregionen am stärksten. Krisen und Konflikte erschüttern die Selbsthilfekräfte ganzer Nationen. Hinzu kommen verstärkt Preisschwankungen auf den internationalen Agrarmärkten. Mit der Bioökonomie (Nutzung von Biomasse für Energie oder als Ersatz für Öl in der Petrochemie) entsteht neue Konkurrenz für Nahrungsmittel. Doch einfache Schuldzuweisungen und schnelle Lösungen gibt es nicht. Einerseits zeigt sich seit Gründung der FAO, dass es bisher keinen grundsätzlichen Mangel an Nahrung gab, sondern nur jeweils örtliche, zeitliche und personenbezogene Verteilungsprobleme. Aber ohne einen kontinuierlichen Anstieg der Nahrungsmittelproduktion ist der globale „Angebotsvorsprung“ schnell aufgebraucht. Und auch die Verteilung der Nahrungsmittel ist kein leicht lösbares Problem.
In den reichen Ländern ist eine stärkere ökologische Ausrichtung der Agrarproduktion notwendig. Dadurch sinkt jedoch die Produktivität, was zu steigenden Agrarpreisen national und auf dem Weltmarkt führt. In armen Ländern kann dies zu weiterem Hunger bei armen Konsumenten führen. Die Bekämpfung der Nahrungsmittelverschwendung sowie der Verzicht auf Fleischkonsum könnten dieses Defizit ausgleichen. Anders sieht es allerdings bei der steigenden Nachfrage der kommenden Jahrzehnte in den Entwicklungsländern aus, die weit über dem liegt, was derzeit im Überschuss oder einsparbar ist.
Die weltweite Agrarproduktion muss daher weiter steigen. Die Reserven dafür sind vor allem in den ärmeren Entwicklungsländern zu finden, wo die Erträge oft bei nur 20-30 % des realistisch gegebenen Potentials liegen und die vermeidbaren Nahrungsmittelverluste ähnliche Größenordnungen aufweisen. Darüber hinaus braucht es eine drastische Erhöhung des Anteils der Nahrungsproduktion, der auf den Markt angeboten wird, um die wachsenden Städte zu versorgen.
Der Schlüssel sind die Kleinbauern. Sie stellen immer noch zwei Drittel aller Hungernden. Können sie ihre Produktion steigern, hat dies zwei ernährungssichernde Effekte: Es wird mehr Nahrung produziert, und die bäuerlichen Haushalte erzielen höhere Einkommen. Dies kann nur gelingen, wenn sie – und ihre organisierten Strukturen – massive Unterstützung erhalten; Einerseits durch die Bereitstellung von kurzfristige Betriebsmitteln wie Düngemitteln, langfristige Investitionen wie Maschinen, (leichtere) Kreditvergaben, und andererseits aber auch durch gute (forschungsbasierte) Beratung. Dies alles muss in eine förderliche Agrarpolitik, in ländliche Entwicklungs- und kohärente Makropolitiken eingebettet sein. Die Produktion muss standortgerecht und nachhaltig sein. Dabei sind teilweise auch große Betriebe nützlich: Sie können mehr Risiken auf sich nehmen, für mehr Stabilität sorgen und die Organisation der Wertschöpfungsketten vorantreiben. Die kleinbäuerliche Produktion werden sie aber auf absehbare Zeit nicht ersetzen können.
Flankiert werden muss dies von sozialen Sicherungsprogrammen sowohl für die temporär und chronisch Armen ohne Land als auch für die Kleinbauern selbst. Längerfristig müssen auch Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft geschaffen werden, um die steigende Zahl junger Menschen zu beschäftigen.
Auch auf internationaler Ebene muss gehandelt werden: Freier Agrarhandel und regulierte Absicherungsmöglichkeiten gegen Ernteschwankungen, der Ausbau der internationalen Agrarforschung mit einer guten Verknüpfung in nationale Systeme, ernährungsorientierte Leitplanken für die Bioökonomie, Maßnahmen zur Sicherung der Biodiversität, die Einrichtung internationaler sozialer Sicherungssysteme für das Auffangen der großen, transnationalen Krisen. Weitere Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels sind Voraussetzungen dafür, dass auch der Aufbau einer „Klima-smarten“ Landwirtschaft gelingt. Nur dann können wir es noch schaffen, bis zum Jahr 2030 den Hunger weitgehend auszurotten. Erst dann sollten wir wirklich von einem Welternährungstag sprechen und diesen gebührend feiern.
lun, 10/10/2016 - 12:48
Bonn, 10.10.2016. Noch vor wenigen Jahren wäre die Aufmerksamkeit undenkbar gewesen, die der afrikanische Kontinent gegenwärtig erfährt. Die deutsche und europäische Politik sind angesichts anhaltender Flucht- und Migrationsbewegungen aus verschiedenen Teilen Afrikas erheblich unter Druck geraten. Die gerade begonnene Afrikareise von Bundeskanzlerin Angela Merkel steht daher im Zeichen der Flüchtlingspolitik.
Es sei eine „strategisch hochwichtige Frage“, wie wir in Zukunft mit unserem afrikanischen Nachbarkontinent umgehen, erklärte die Kanzlerin in der vergangenen Woche. Entwicklungsminister Müller fordert einen „Marshallplan“ für Afrika. Finanzminister Schäuble will im Rahmen der deutschen G20-Präsidentschaft 'Compacts' mit afrikanischen Ländern schließen, um Investitionen zu erhöhen. Die Zeit, in der Afrika jenseits der Entwicklungspolitik ein politisches Randthema war, scheint damit vorbei zu sein.
Dieses gewachsene Interesse an der Kooperation mit Afrika lässt sich nur zum Teil durch die Diskussionen zu Flucht und Migration erklären. So hat das wirtschaftliche Interesse an der Kooperation aufgrund von stetigem Wirtschaftswachstum in Afrika seit 2000 zugenommen. Daneben gibt es ein stärkeres Bewusstsein, dass nachhaltige Entwicklung in Deutschland und Europa sehr eng mit nachhaltiger Entwicklung in Afrika zusammenhängen. Wie die Kanzlerin vor ihrer Abreise betonte: „Wenn wir deutsche Interessen verfolgen wollen, müssen wir realistischerweise sagen, dass auch das Wohl Afrikas im deutschen Interesse liegt.“
Neben Mali und Niger wird Kanzlerin Merkel die Afrikanische Union (AU) in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba besuchen. In Mali beteiligen sich deutsche Soldaten an verschiedenen Missionen zur Stabilisierung des Landes. Durch Niger führen wichtige Transitstrecken für Flüchtlinge und Migranten. In Äthiopien wird Merkel vermutlich v.a. die AU besuchen, da die äthiopische Regierung nun den Ausnahmezustand ausgerufen hat, nachdem bei monatelangen Protesten hunderte Demonstranten durch den unverhältnismäßigen Einsatz der Sicherheitskräfte ums Leben gekommen sind. Nach ihrer Rückkehr wird sie zudem noch die Staatsoberhäupter von Tschad und Nigeria in Berlin treffen.
Der Aufbau besserer Lebensbedingungen und die Reduzierung von Fluchtursachen wie Repression und Bürgerkriege sind keine kurzfristig erreichbaren Ziele. Schnelle Lösungen, die die Zahl der nach Europa drängenden Menschen rasch abnehmen lässt, sind nicht möglich, wie auch die Kanzlerin betonte. Wichtige Orientierungspunkte für deutsche Afrikapolitik sollten sein:
Eine Kombination aus kurz- und längerfristig angelegten Kooperationsansätzen ist ein wichtiger Beitrag, um Herausforderungen in fragilen und post-Konflikt Ländern zu begegnen. Zu Recht betont die Kanzlerin gleichermaßen die Rolle der Entwicklungszusammenarbeit, die eher langfristige Perspektiven hat, und die auf kurzfristige Unterstützung ausgerichtete humanitäre Hilfe. Für beide Bereiche mehr Mittel sinnvoll einzusetzen, ist daher eine kluge Investition in die Zukunft.
Insbesondere in autoritär geführten Ländern stellt sich die Frage nach angemessenen Kooperationsstrategien. In einigen Ländern wie Ghana, Mauritius oder zuletzt Nigeria haben sich demokratische Strukturen gefestigt. In der Mehrheit der Länder ist der Grad der politischen Freiheiten seit 2005 zurückgegangen, etwa in Äthiopien. Studien belegen, dass Demokratieförderung einen wichtigen Beitrag leisten und bspw. in Nachkriegsländern, die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Konfliktausbruches reduzieren kann. Die Bundesregierung sollte daher die Förderung nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und sicherheitspolitische Kooperation sehr eng mit Demokratieförderung verknüpfen.
Die Stärkung regionaler Organisationen ist in der Kooperation mit Afrika sehr wichtig, sowohl um Frieden und Sicherheit als auch sozio-ökonomische Entwicklung zu fördern. Europa hat zuletzt vermehrt auf bilaterale Kooperation gesetzt (beispielsweise bei den EU-Migrationspartnerschaften, die auch bei der Reise der Kanzlerin ein wichtiges Thema sind). Die AU und andere Regionalorganisationen sollten jedoch weiter wichtige Partner bleiben. Der Besuch der Kanzlerin bei der AU ist deshalb ein richtiges Zeichen.
Ein gemeinsames Auftreten und Wirken der europäischen Partner ist unabdingbar. Zum einen gilt es, Kräfte in der Kooperation gemeinsam einzusetzen, um mehr Wirkungen zu erzielen. Beispielsweise in der Entwicklungszusammenarbeit, in der Förderung von Frieden und Sicherheit oder von Demokratie und Menschenrechten müssen die EU und ihre Mitgliedsstaaten stärker an einem Strang ziehen. Zum anderen sind vielfach afrikanische Partner durch die zersplitterten Kooperationsansätze unnötig belastest. Auch hier sollte Deutschland weiter eine konstruktive Rolle bei der besseren Verzahnung u.a. der EU-Entwicklungszusammenarbeit spielen.
Die Reise der Kanzlerin ist ein positives Signal für die Stärkung der Kooperation mit afrikanischen Ländern. Allerdings wird nachhaltige Entwicklung in Afrika auch durch Politik innerhalb von Deutschland und Europa beeinflusst. Deutsche und europäische Konsummuster und Produktionsstandards, Energie- und Klimapolitik, Agrarpolitik oder Steuer- und Finanzpolitik haben maßgeblichen Einfluss auf nachhaltige Entwicklungschancen in Afrika. Im Sinne der Nachhaltigen Entwicklungsziele fängt erfolgreiche deutsche und europäische Afrikapolitik daher 'zu Hause' an.
mer, 28/09/2016 - 13:29
Bonn, 04. Oktober 2016. Sigmar Gabriel hat jüngst die Transatlantische Partnerschaft (TTIP) für gescheitert erklärt und auch das kanadische Abkommen CETA schlägt hohe Wellen. Die Skepsis an Freihandelsabkommen ist auf einem historischen Hoch. Und nicht nur das. Auch die Zustimmung zu freiem Handel generell sinkt und Globalisierungskritiker in weiten Teilen der Welt bekommen Aufwind – sogar unter ehemaligen Freihandelschampions wie Deutschland. Wie kann man diese Trends erklären?
Erstens: Handelsregeln dringen immer weiter in sensible nationale Politikbereiche vor.
In Deutschland und der EU steht vor allem im Fokus der Debatte: Neuere Handelsregeln gehen häufig weit über den Abbau von Zöllen hinaus und betreffen auch Themen wie Verbraucher- und Umweltschutz. Durch TTIP sollen beispielsweise Standards, die sich zwischen den USA und der EU unterscheiden, durch regulatorische Kooperation angeglichen werden. Einigen sich die Verhandler auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, ginge das zu Lasten dieser Standards. Obwohl führende Politiker betonen, dass europäische Standards nicht gesenkt werden sollen – die Befürchtungen der Zivilgesellschaft sind massiv. Verbraucher- und Umweltschutz sollte in den Verhandlungen ernst genommen werden und nicht wirtschaftlichen Interessen zum Opfer fallen. Handelsabkommen sollten vielmehr dazu genutzt werden, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Sinne des globalen Gemeinwohls zu reformieren. Doch auch bei den klassischeren Fragen der Handelspolitik gibt es Raum für Diskussionen – nicht zuletzt aus der Perspektive der Entwicklungsländer.
Zweitens: Die positiven Auswirkungen des Freihandels sind hinter den Erwartungen einiger Länder zurückgeblieben.
Seit langem gelten Exporte als Wachstumsmotor. Die verstärkte globale Fragmentierung der Produktion bietet den Verfechtern der Marktliberalisierung ein weiteres stichhaltiges Argument: Um in globalen Wertschöpfungsketten wettbewerbsfähig zu sein, müssen auch importierte Zwischengüter kostengünstig verfügbar sein – eine klare Absage an Importzölle und den Schutz heimischer Industrien. Tatsächlich bieten globale Wertschöpfungsketten gerade für Entwicklungsländer große Chancen: Durch die Verwendung ausländischer Zwischenprodukte können sie die Teile des Produktionsprozesses übernehmen, die sie am besten her- oder bereitstellen können – ohne selbst eine ganze Industrie aufbauen zu müssen. Allerdings sind viele Entwicklungsländer vor allem in Niedriglohnsegmenten aktiv, z.B. dem Zusammennähen von Textilien. Kritiker betonen, dass der Freihandel Entwicklungsländer in ihrem aktuellen komparativen Vorteil, z.B. dem Export von Rohstoffen und dem einfachen Zusammenbauen importierter Zwischengüter, gefangen hält und dass Handels- und Investitionsabkommen ein „Upgrading“ zu höherwertigen Gütern und komplexeren Produktionsschritten erschweren. Es ist deshalb wichtig, eine Balance zu finden zwischen dem Abbau von Handelsbarrieren und der Wahrung eines gewissen Politikspielraums zur Umsetzung nationaler Entwicklungsstrategien.
Drittens: Nicht alle Menschen haben vom Freihandel profitiert.
Freihandel führt zu Veränderungen der Wirtschaftsstruktur: Spezialisieren Länder sich gemäß ihres komparativen Vorteils, werden diejenigen Sektoren wachsen, die die relativ günstigeren Produktionsfaktoren intensiv einsetzen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Arbeitsplätze dort verloren gehen, wo Produktionsschritte günstiger im Ausland durchgeführt werden können – z.B. das Zusammenbauen des iPhones in China. Die effizientere Verteilung von Produktion bringt also Gewinner und Verlierer hervor. Gleichzeitig sorgt sie für niedrigere Preise, die allen Konsumenten zu Gute kommen. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen allerdings, dass die armen Bevölkerungsschichten aufgrund unterschiedlicher Konsummuster weniger vom Freihandel profitiert haben als die reichen. Die Preise von Gütern und Dienstleistungen, die vornehmlich von reicheren Bevölkerungsschichten konsumiert werden, sind stärker gefallen als zum Beispiel von Agrarprodukten, für die die ärmere Bevölkerung einen großen Anteil ihres Einkommens aufwendet. Unterm Strich gilt jedoch: Der Wohlfahrtsgewinn durch Freihandel ist groß genug, dass die Gewinner die Verlierer kompensieren und am Ende alle profitieren könnten. In Zukunft sollten den unterschiedlichen Auswirkungen des Freihandels besser Rechnung getragen und angemessene Politikmaßnahmen diskutiert werden.
Der Freihandel war in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger Treiber ökonomischer Entwicklung. Wir sollten ihn in Zeiten von düsteren weltwirtschaftlichen Wachstumsprognosen nicht begraben. Aber wir brauchen eine neue Form des Freihandels. Einen Freihandel, der einer zum Teil berechtigten Kritik Sorge trägt. Damit das gelingt, sollte der internationale Handel auch im Einklang mit den globalen Nachhaltigkeitszielen stehen – ökonomisch, sozial und ökologisch. Die G20 ist ein wichtiger Akteur, um dieses Ziel umzusetzen.
lun, 26/09/2016 - 09:25
Bonn, 26.09.2016. Angesichts von über 65 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen weltweit befassten sich am vergangenen Montag die Vereinten Nationen auf einem eigenen Gipfel mit großen Flucht- und Migrationsbewegungen. In ihrer „New Yorker Erklärung“ bekennen sich die UN-Mitgliedsstaaten zu einer stärkeren Unterstützung der Staaten, die besonders viele Flüchtlinge aufnehmen, zu einem besseren Schutz der Rechte von Flüchtlingen und Migranten sowie zu verbesserten Integrationsmaßnahmen – all das freilich ohne rechtliche Verbindlichkeit. Nicht wenige Kritiker betrachten den UN-Gipfel deshalb lediglich als einen „Gipfel der warmen Worte“ und Absichtserklärungen, der aber keinerlei Wirkungen entfalten wird.
Der Gipfel ist aber auch Ausgangspunkt zweier Prozesse, einem zu Flucht und einem zu Migration, die in den nächsten zwei Jahren in zwei entsprechende Abkommen münden sollen. Es wäre außerordentlich wichtig, dass diese Abkommen dann tatsächlich einen internationalen Rahmen bilden, um Flüchtlingskrisen besser und fairer zu begegnen und internationale Migration gerechter zu gestalten. Denn bislang gibt es keine globale Regelung zur Steuerung von Migration – und jene für Flüchtlinge funktioniert nicht.
Die Genfer Flüchtlingskonvention gehört zu den ältesten Errungenschaften der Vereinten Nationen. Unter dem Eindruck millionenfacher Flucht und Vertreibung in Europa einigte sich die internationale Gemeinschaft 1951 auf verbindliche Regeln für den Umgang mit Menschen, die aus politischen Gründen vertrieben wurden. Doch das so etablierte globale Flüchtlingsregime lieferte schon damals keine Antwort auf große kriegsbedingte Massenbewegungen, wie sie etwa die indische Teilung 1947 nach sich zog.
Der große Zuwachs an Geflüchteten in den letzten Jahren hat diese Schwächen besonders deutlich gemacht. So sind die Lasten bei der Aufnahme der Flüchtlinge äußerst ungerecht verteilt. Eine Handvoll zumeist eher armer Länder – wie Jordanien, Pakistan oder Äthiopien – hat über die Hälfte der derzeit etwa 21 Millionen internationalen Flüchtlinge weltweit aufgenommen. Die meisten von ihnen leben schon seit Jahren außerhalb ihrer Herkunftsländer.
Umso bitterer ist es, dass sich die allermeisten Staaten dauerhaften Lösungen, die die Lebenssituation und die Perspektiven der Flüchtlinge maßgeblich verbessern würden, verweigern. Eine reguläre Integration wird den Geflüchteten oft verweigert. Die Größenordnungen der Umsiedlungen sind kaum der Rede wert: So wurden nicht einmal 5.000 der in 2015 anvisierten 160.000 Flüchtlinge innerhalb der EU umgesiedelt, um dadurch vor allem Italien und Griechenland zu entlasten. Die Unterstützung von Flüchtlingen in den Hauptaufnahmeländern ist zudem geprägt von chronischer Mittelknappheit, starker Konkurrenz der UN-Organisationen untereinander, mangelhafter Einbindung lokaler Organisationen und einer unzureichenden Verknüpfung mit Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit.
Noch schwieriger stellt sich die Lage für die rund 180 Millionen internationalen Migrantinnen und Migranten dar, die ihr Land nicht als Flüchtlinge vor Bedrohung und Gewalt verlassen haben, sondern auf der Suche nach neuen Lebensperspektiven für sich oder ihre Angehörigen zu Hause, etwa durch Rücküberweisungen. Im Gegensatz zum Flüchtlingsregime, aber auch zu vielen anderen globalen Themen wie dem Weltklima, dem Welthandel oder dem internationalen Postverkehr, gibt es keinen globalen Rahmenvertrag für eine Steuerung von Migration zwischen Staaten. Die globale Migrationsgovernance ist ein Flickenteppich aus regionalen Abkommen und den Mandaten unterschiedlicher internationaler Organisationen, die das Thema Migration nur in Teilaspekten berühren. Auch wenn sich in den letzten 20 Jahren die Wahrnehmung des Migrationsthemas gewandelt hat und Migration heute von den meisten Experten grundsätzlich positiv und als Chance für Entwicklung gesehen wird, leben viele internationale Migranten unter sozial, wirtschaftlich und rechtlich prekären Bedingungen. Versuche in der Vergangenheit, zumindest rechtliche Mindeststandards zu etablieren, scheiterten stets am Widerstand vor allem der Industrienationen. Eine zuletzt in vielen Ländern zu beobachtende Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus verschärft die Lage zusätzlich.
Doch es gibt erste kleine Schritte für eine bessere globale Steuerung von Flucht und Migration: Die Vereinten Nationen haben auf dem New Yorker Gipfel die Internationale Organisation für Migration (IOM), die zentrale Organisation für Migrationssteuerung zwischen Staaten, in das UN-System aufgenommen. Auch hat die Staatengemeinschaft nach US-Angaben dieses Jahr bereits 4,5 Milliarden US-Dollar mehr als 2015 für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt. Diese und weitere kleine Schritte werden notwendig sein, um bis 2018 den Boden für weiterreichende internationale Abkommen zu bereiten.
Dabei wird man wohl Pragmatismus walten lassen müssen, wenn unter dem Leitbild einer geteilten internationalen Verantwortung weitere Fortschritte erreicht werden sollen. Manche Staaten, wie Australien, Ungarn oder Polen, werden ihre ablehnende Haltung zur Aufnahme von Flüchtlingen einstweilen kaum aufgeben. Doch wenn diese Länder zumindest zu einer adäquaten und regelmäßigen finanziellen Beteiligung an der Flüchtlingshilfe verpflichtet werden könnten, wäre schon ein nächster Schritt getan.
Jörn Grävingholt und Benjamin Schraven sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn.
ven, 16/09/2016 - 14:10
In der Agenda 2030 mit ihren globalen Zielen für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) hat die Staatengemeinschaft den Versuch unternommen, universelle Governance-Standards zu definieren. Das Ziel 16 – welches „effektive, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen” sowie „partizipative Entscheidungsfindung” fordert – birgt das Potenzial, sich zu einer nützlichen Richtlinie für internationales Handeln gegenüber politischen Regimen jedweder Couleur zu entwickeln.
Von „Good Governance“ zu SDG 16
Lange Zeit gab es keinen allgemein gültigen Standard, an dem staatliche politische Prozesse gemessen werden konnten, lediglich auf regionaler Ebene, wie z.B. in der Afrikanischen Union. Auf die Begriffe Governance und Good Governance berief sich die internationale Politik zwar hauptsächlich in der Demokratieförderung oder in der Diskussion um die Bereitstellung öffentlicher Güter. Die Grundidee war hier zum einen, dass bestimmte Prinzipien wie die Universalität der Menschenrechte oder Rechenschaftslegung unterstützt werden. Jedoch sollten keine vorgefertigten politischen Modelle gefördert werden („no blueprints“). Doch zum anderen stellte die Governance-Förderung darauf ab, dass diese öffentlichen Güter wie zum Beispiel Gesundheitsversorgung, Bildung oder Umweltschutz sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen, insbesondere privatwirtschaftlichen, Akteuren bereitgestellt werden. Durch diesen Fokus auf Public-Private-Partnerships wurde die Diskussion um universell gültige Standards der Politikgestaltung vermieden.
Während die allgemeine Idee von Public-Private-Partnerships durch SDG 17 gestärkt wird („multi-stakeholder cooperation“), spricht SDG 16 explizit an, wie staatliche Institutionen und politische Prozesse organisiert werden sollen. Damit geht SDG 16 über die Idee von „Good Governance“ hinaus und bezieht sich direkt auf die Art und Weise wie politische Prozesse gestaltet werden sollen. SDG 16 formuliert, dass (politische) Institutionen „auf allen Ebenen“ „effektiv, rechenschaftspflichtig und inklusiv“ sowie Entscheidungsfindung „partizipativ“ stattfinden soll. Somit werden zwei wichtige Dimensionen politischer Systeme (Institutionen und Prozesse) direkt angesprochen. SDG 16 bietet damit eine Grundlage für internationales Handeln bezüglich nationaler politischer Ordnungen, also auch für den Umgang mit autoritären Regimen.
Ein wackliges, aber – immerhin – ein Fundament
Die Basis für eine internationale Antwort auf autokratische Regierungen mittels der SDGs steht – jedoch auf wackligen Beinen. Denn die Schlüsselbegriffe der „effektiven, rechenschaftspflichtigen und inklusiven Institutionen“ und „partizipativen Entscheidungsfindung auf allen Ebenen“ sind offen für Interpretationen. Diese Mehrdeutigkeit ist nicht per se von Nachteil, denn sie eröffnet die Möglichkeit, unterschiedliche kulturelle und historische Traditionen zu berücksichtigen, ohne die zugrunde liegenden Prinzipien – die sich in den Adjektiven ausdrücken – zu opfern. Ob ein partizipativer Prozess am besten über Kommunalwahlen oder direktdemokratisch über das Abhalten öffentlicher Diskussionen mit Konsensfindung durch traditionelle Autoritäten geschieht, ist dann zweitrangig – solange alle Menschen möglichst diskriminierungsfrei teilhaben können. Alle politischen Akteure – inklusive der Zivilgesellschaft – sind nun gefordert die in SDG 16 angelegten Prinzipien in konkrete Politiken zu übersetzen. Dies ist von autoritären Regierungen kaum zu erwarten. Umso mehr muss sich die Governance-Förderung explizit der Frage stellen wie eine Öffnung politischer Institutionen in autoritären Kontexten auf der Grundlage von SDG 16 erwirkt werden kann.
Auslegung – offen und werteorientiert
Wenn in der Außen- und Entwicklungspolitik Deutschlands, die eigenen Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte nicht verraten werden sollen, muss ein Spagat gelingen: Einerseits müssen politische Strategien offen sein für lokale und kulturell geprägte Umsetzungen der Governance-Prinzipien. Andererseits müssen sie erkennen, wann diese Prinzipien Ungerechtigkeit, Willkür und Ausbeutung verstärken anstatt sie abzubauen. Aufgrund dieser Erkenntnis können dann diejenigen lokalen Kräfte unterstützt werden, welche sich für tatsächlich effektive, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen einsetzen.
Das SDG 16 stellt damit keinen klaren Bezugsrahmen für einen entschiedenen und konfliktträchtigen Wandel hin zur weltweiten Einführung der Demokratie dar. Aber es gibt ein substantielles Ziel vor, das lokal angepasst und dessen Erreichen international unterstützt werden kann. Es fordert auf, sich intensiv mit den Gegebenheiten zu beschäftigen, legitime Interessen abzuwägen und schnelle Schlussfolgerungen zu vermeiden. Zum Beispiel wäre die Bekämpfung von religiös motivierten Parallelstrukturen durch die demokratisch gewählte Regierung in der Türkei dabei nicht von vorneherein zu verurteilen – so denn sie nach rechtsstaatlichen Verfahren abläuft („rechenschaftspflichtige Institutionen“).
Zu diesem Thema veranstaltet das DIE eine Podiumsdiskussion am 27.09.2016.
lun, 12/09/2016 - 11:06
Bonn, 12 September 2016. No priority is the priority – this seems to be the modus operandi for the implementation of the Sustainable Development Goals (SDGs) adopted in September of last year. No doubt, it is essential to understand that in today’s world of interconnected complex systems, the causes of some of the major economic and social failures can be traced to alarming environmental distress such as climate change. There is not much leeway to deny that we are living in the Anthropocene – the epoch in which human activity is primarily responsible for the changes in the Earth’s climate and biodiversity.
Climate change threatens livelihoods. This needs to be addressed immediately. However, the legitimate question of whether and how to prioritize the various development goals of the agenda’s three pillars – economic, social and environmental sustainability – arises particularly in the developing and least developed countries. For a resource constrained developing country, a value-based development standard like the Agenda 2030 is in the end a critical economic challenge.
While it is crucial to understand the ethical merit behind the idea ‘no priority is the priority’, it is not very difficult to recognize a natural pattern of crudely ordering these three pillars of development: For the developing world the priority is economic first, then social and then environmental. Any other understanding of development priority – or even an emphasis on holistic development – requires strong democratic leadership and coherent policy dialogues; not only between the developing countries and the international institutions like the International Monetary Fund (IMF), the World Bank (WB) or the United Nations. This dialogue also has to occur within these international institutions.
Many developing countries have reservations about the transition towards a green economy. This stance was reflected for instance in the 2011 five-year growth strategy document of Pakistan. It focused on achieving economic growth by enhancing productivity through better governance, market development, and competitiveness. There was a very limited emphasis on social inclusion. Sustainability measures were not mentioned at all. Although the recent roadmap document Pakistan 2025 raises the issue of inclusive growth and environmental concerns, it still conforms to the priority order mentioned above.
The set of macroeconomic policy measures that has been prescribed by the IMF and WB to achieve economic growth in developing countries – known as the Washington Consensus – does squeeze the budget for social progress. Austerity measures have been highly criticized by economists like Amartya Sen and Paul Krugman in the context of the potential exit of Greece from the Eurozone and the impending Brexit. This debate becomes particularly relevant in the context of the Agenda 2030. Amartya Sen has repeatedly been arguing in favour of an increase in social sector spending in order to create ‘capability’ in developing countries. He argues that India cannot develop with an uneducated and unhealthy labour force. India and Pakistan ranked 130 and 147 respectively out of 188 countries in the 2014 Human Development Index. Yet India has cut its already very low budget allocation to health and education in the past two years. In July this year, at the meeting of the G20 finance ministers and central bank governors in Chengdu (China), the IMF suggested that countries like the United States and Germany should spend more on infrastructure to help boost global growth. This statement can indicate a strengthening of fiscal policy responses globally, which is an important step towards a coherent international policy effort for achieving the SDGs.
Having no priority in implementing the SDGs leaves space for economic growth to be the means and eventually the ‘end in itself’. The strong possibility is that the holistic development we are aspiring to achieve by 2030, will be impossible without a prioritization of the 17 ambitious SDGs. And without the notion of priority it may also be very confusing and chaotic for the implementing authorities – no matter how specialized they are.
The ‘no priority policy’ can also be stressful to the local needs and preferences springing from culture, history, and traditions. Bhutan for instance – the only carbon negative country in the world – had the clear preference of achieving ‘happiness’ over economic growth; a choice that is fundamental and inspiring. The country invested and financed innovatively in ensuring good health and education to its citizens. The country has achieved one of the highest per capita gross national income (US$ 2409 in 2014) in South Asia over the past decade and a half.
We can overlook the problem of priority in implementing the SDGs in developing countries and continue to campaign for no priorities. But in the end, the resource constraints will reveal the preference, which may not be the outcome that we are aspiring to. Therefore, the ideal would be to recognize the priority problem and undertake an analytical scrutiny for a probable weighing scheme. The task will be to map the universal goals to national needs. This exercise is complex and challenging. But can we afford to delay it?
Sayan Samanta is an Indian researcher based in Bonn. His current research interest is the role of normative standards in achieving human well-being. He is an alumnus of the Managing Global Governance (MGG) Programme.
ven, 02/09/2016 - 15:25
Bonn, 02.09.2016. Am 4. und 5. September 2016 treffen sich die Staats- und Regierungschefs der G20 zu ihrem jährlichen Gipfel, dieses Mal im chinesischen Hangzhou. Die Messlatte für die chinesische G20-Präsidentschaft war von Anfang hoch angesetzt. Auch die chinesische Regierung startete ambitioniert. Es ging ihr nicht allein darum, eine breite Palette von technisch anmutenden Vereinbarungen auf den Weg zu bringen, die in einer Vielzahl von ministerialen Arbeitsgruppen vorbereitet wurden. Sie will sich darüber hinaus auch als globale Gestaltungsmacht mit einer langfristigen Vision präsentieren.
Ungeachtet der hohen Erwartungen, sind die Voraussetzungen für einen wegweisenden Abschluss der chinesischen G20-Präsidentschaft denkbar schlecht. Zunächst muss die G20 Antworten auf das stagnierende weltwirtschaftliche Wachstum und einen schwächelnden Welthandel finden. China selbst befindet sich derzeit in einer schwierigen wirtschaftlichen Übergangsphase und will als Vorbild für andere G20-Länder bei der Umsetzung struktureller Reformen gelten. Für wachstumsfördernde Fiskal- und Geldpolitik bestehen nirgends große Spielräume mehr. Von Europa, in dem vor allem Deutschland die strukturpolitische Agenda vertritt, sind keine Wachstumsimpulse zu erwarten. Mit der Brexit-Entscheidung der britischen Bürger wurde weitere Unsicherheit geschaffen, so dass das europäische Integrationsprojekt fundamental in Frage steht. Lateinamerika wird in Hangzhou mit neuen wirtschaftsliberalen Strategien vertreten sein, die gegenwärtig in Brasilien und Argentinien mit schweren Rezessionen verbunden sind. Die USA befinden sich in einem Wahlkampf, in dem sich die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Globalisierung wie auch in Europa in einem neuen nationalistischen Diskurs entlädt. Zudem befinden wir uns in einer Phase akuter sicherheitspolitischer Krisen, in deren Folge aktuell etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind. In diesem Umfeld wird es für die G20 nur schwer möglich sein, sich wieder – wie in der globalen Finanzkrise – überzeugend als weltwirtschaftliche Krisenfeuerwehr zu positionieren.
Vor diesem Hintergrund ist es ein wichtiges Signal, dass die chinesische Präsidentschaft die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu einer Priorität gemacht hat und sich damit eher an langfristiger Nachhaltigkeit als an kurzfristiger Krisenbekämpfung orientiert. Die Agenda 2030, die von einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs bei den Vereinten Nationen im September 2015 verabschiedet wurde, enthält einen Katalog von 17 Zielen, die weltweit eine umfassende ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung ermöglichen sollen. Die Staats- und Regierungschefs werden in Hangzhou einen Aktionsplan der G20 für die Umsetzung der Agenda 2030 annehmen. In diesem geht es nicht nur um die Umsetzung der Agenda-Ziele in Entwicklungsländern, sondern – ihrem Anspruch auf Universalität entsprechend – auch in den G20-Ländern selbst. Damit verleiht die chinesische Präsidentschaft der G20 einen normativen Bezugsrahmen, den es in dieser Form bisher nicht gab.
Damit ist das Thema Globalisierung allerdings nicht vom Tisch. Es wird von der G20 erwartet, dass sie eine Antwort auf die Frage gibt, wie die Bürger in Industrie- und Entwicklungsländern von offenen Grenzen für Handel und Investitionen profitieren können. Es ist erstaunlich, dass dieses zentrale Thema erst seit diesem Jahr in einer eigenen Arbeitsgruppe in der G20 diskutiert wird. Über Jahre bestimmten ritualisierte Bekenntnisse zur Welthandelsorganisation die Gipfelsprache. Zugleich nahmen die protektionistischen Maßnahmen der G20-Länder von Jahr zu Jahr zu. Die neue Arbeitsgruppe hat sich auf Pläne zur Reduzierung handelsbeschränkender Maßnahmen, zur Erhöhung der Transparenz von regionalen Handelsabkommen und einer Liste von neun Prinzipien zur internationalen Investitionspolitik geeinigt. Wer verfolgt, wie kontrovers in Deutschland über das Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) gestritten wird, dem wird die Tragweite dieses Dialogs auf internationaler Ebene bewusst. Allerdings muss der Konsens in der G20 zukünftig erst noch mit konkreten Maßnahmen unterfüttert werden.
Dies gilt im Übrigen auch für die Klimapolitik: Es wird von den G20-Ländern erwartet, dass sie das Pariser Klimaabkommen vom November 2015 in Kürze ratifizieren, damit es in Kraft treten kann. Noch wichtiger ist indes, dass sie durch überzeugende eigene Politiken zur Erreichung des Zwei-Grad-Ziels beitragen. Hier tut sich eine Kluft zwischen globalen Vereinbarungen und tatsächlicher politischer Umsetzung von Zusagen auf, die viele Beobachter – nicht zuletzt die auf langfristige Berechenbarkeit setzende Privatwirtschaft – zunehmend an der Glaubwürdigkeit von Gipfelerklärungen zweifeln lässt.
Damit wandert der Blick vom G20-Gipfel in Hangzhou zum nächsten Gipfel, dann unter deutscher Präsidentschaft, in Hamburg. Die Erwartungen an Deutschland werden ähnlich hoch sein wie im Falle Chinas. Da Deutschland ab Mitte 2017 in den Wahlmodus wechseln wird, findet der Gipfel bereits Anfang Juli statt. Es bleibt nicht viel Zeit, um die unter chinesischer Präsidentschaft begonnenen Großprojekte, wie die Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenda, fortzusetzen und die nicht erledigten Aufgaben – der Abbau von Subventionen für fossile Energien ist nur ein Beispiel – endlich anzugehen.
lun, 01/08/2016 - 10:00
Bonn, 01.08.2016. Im Entwicklungskooperationsforum der Vereinten Nationen (UNDCF) und der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) wurde letzte Woche über ein Konzept zur Messung von Süd-Süd-Kooperation (SSC) diskutiert. Es geht darum, den Beitrag der Entwicklungs- und Schwellenländer zur Agenda 2030 zu bestimmen. Bisher scheiterte eine einheitliche Datenerhebung an fehlenden Definitionen und Standards sowie mangels Einigung über die Plattform, auf der die Daten erhoben und bereitgestellt werden können.
Die Diskussion zur Datenerhebung für die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) hat begonnen. 22 Länder, darunter Deutschland, berichten bereits in diesem Jahr den aktuellen Stand der Umsetzung ihrer Nachhaltigkeitsziele an das High Level Political Forum in New York. Sie unterstützen damit die in der Agenda 2030 verankerte Forderung nach Rechenschaftsplicht, Transparenz und Verantwortung. Die Datenlage ist größtenteils unbefriedigend – sowohl für den Norden als auch den Süden. Diese gemeinsamen Schwierigkeiten bei der Messung bieten eine einmalige Möglichkeit für gegenseitiges Lernen zwischen verschiedenen Akteuren auf technischer Ebene, denn sie unterstützen die Vertrauensbildung für Klärungen auf politischer Ebene. Sollten die Länder des Südens nicht bald zu einer Einigung auf ihre Definition kommen, wird sich dieses Gelegenheitsfenster schließen.
Bisher argumentieren die Akteure der SSC vor allem politisch. Sie betonen, dass Süd-Süd-Kooperationen zwischen Entwicklungs- und Schwellenländern fundamental anders sind als Nord-Süd-Kooperation. Das Verständnis von SSC beruht insbesondere auf der Rolle, die Handel und Investitionen sowie Technologietransfer durch Länder in einem ähnlichen Entwicklungsstadium für jeweils beide Partner haben können. Dies geht über die reine Entwicklungshilfe durch Unterstützung und Darlehen hinaus. Allerdings wird in der Abgrenzungsdiskussion oft vergessen, dass auch der Norden mehr Beiträge leistet als der Entwicklungsausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit „offizieller Entwicklungshilfe“ erfasst.
Wenn die Schwellenländer eine breite Definition ihrer Zusammenarbeit bevorzugen, sollte dies angesichts des breiten Zielsystems der SDGs von allen Akteuren unterstützt werden. Die OECD beispielsweise diskutiert ein erweitertes Konzept zur Erfassung der Finanzströme, in dem auch die Süd-Süd-Kooperationen als wichtiger ergänzender Bestandteil zur traditionellen ODA-Konzeption dargestellt wird. Die Diskussion im Norden dient dazu, Klärungen über einzelne Elemente zu erzielen.
Auch für SSC geht es um Klärung, nicht um das Überstülpen „nördlicher“ Konzepte. Süd-Süd-Kooperation kann und soll explizit zum unmittelbaren gegenseitigen Nutzen sein. Aber sind damit automatisch der gesamte Handel und alle Investitionen als SSC zu erfassen? Oder braucht es Leitlinien, wie ausgewogen der gegenseitige Nutzen sein kann und soll? Es bleibt in der Süd-Süd-Zusammenarbeit völlig unklar, wann die Balance kippt und wir nicht mehr über SSC, sondern von reinen Investitionen zur Generierung von Gewinn sprechen. Zu diesen offenen Fragen kommen noch unterschiedliche Interessen innerhalb „des Südens“. Zwar bedarf es eines Erfassungsspielraums, der die besonderen Gegebenheiten der beteiligten Länder berücksichtigt, man kann sich aber nicht einmal auf grundlegende Definitionen einigen. Eine Erhebung von SSC ist, neben meist mangelhafter statistischer Kapazität in den Ländern, daher oft unmöglich. Um Vergleichbarkeit schaffen zu können, müssten Mindeststandards für einzelne Elemente, wie z.B. Investitionen, formuliert werden.
Welche Plattform ist geeignet, um die Daten zu erheben und bereit zu stellen? Akteure der SSC lehnen die OECD als „Organisation des Nordens“ ab. Während einige Schwellenländer die Notwendigkeit der globalen Erhebung grundsätzlich in Frage stellen, betonen andere Länder, eine Datenerhebung – und damit Rechenschaftslegung – wäre nur auf Ebene der Vereinten Nationen legitimiert. Sie betrachten die Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UNDESA) als mögliche Plattform, die bereits Daten zu Süd-Süd- Entwicklungszusammenarbeit (SSDC) erhoben und in Berichten des UNDCF vorgelegt hat – mangels Alternativvorschlägen angelehnt an OECD-Standards . Die G77-Länder und China unterstützen zudem die UNCTAD politisch. Sie wird traditionell als die Organisation der Entwicklungs- und Schwellenländer angesehen und hat bereits seit einigen Jahren das Mandat, eine statistische Datenbank zur Erhebung von SSC zu entwickeln. Die Umsetzung scheiterte bisher an fehlenden einheitlichen Standards.
Konzepte, die maßgeblich durch Industriestaaten gestaltet werden, bewerten Akteure des Südens als politisch schwierig. Die Schwellenländer betonen immer wieder, die Konzeption ihrer Zusammenarbeit könne nur von ihnen selbst entwickelt werden. Ihre Uneinigkeit wird die Forderung nach Rechenschaft und Transparenz jedoch nicht verringern. Die OECD wird weiter an einer Konzeption zur Schätzung der Süd-Süd Kooperation arbeiten. Wenn die Länder des Südens hier nicht ins Hintertreffen geraten wollen, sollten sie zügig eine eigene Definition von Süd-Süd-Kooperation und deren Bestandteilen klären.
mer, 13/07/2016 - 09:30
Manchester, Ghent, 13 July 2016. While dust is slowly settling after British voters opted to leave the European Union last week, it is time to discuss the broader implications of this massive decision. There have been worried (or gleeful) claims from several quarters that Brexit represents the end of Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP), a controversial free trade agreement currently under negotiation between the EU and the US. We are already seeing signs, however, that these conclusions may be prematurely drawn. While the agreement may be delayed past 2017/18 (something it should be said, was already on the cards before the referendum) TTIP is far from dead. Rather, Brexit may strengthen the resolve of those wishing to negotiate the agreement in the interest of European unity.
The first intervention in this respect has come from United States Trade Representative Mike Froman, who the day after the referendum emphasised that the ‘economic and strategic rationale for T-TIP remains strong’. Of course, much depends on the next US Administration, set to take over in January 2017: but while both Donald Trump and Hilary Clinton have been critical of the current trade agenda, politicians of all stripes have been known to backtrack from primary rhetoric. Barack Obama went on to pursue an ambitious free trade agreement agenda after being very critical of NAFTA during the 2008 primary season (as indeed was then Senator Hillary Clinton).
Trade Commissioner Cecilia Malmström also used a recent speech to the Atlantic Council to emphasise that ‘the rationale of TTIP remains as strong today as it was [before the referendum]’. Reading the fine print of the speech certainly does not suggest a climb-down from key EU positions, such as on government procurement or investment protection. But Malmström also stressed a desire to complete the agreement quickly, as the EU was ‘prepared to make the political choices needed’.
Given that the EU’s leverage in the negotiations has been weakened after the Brexit referendum, this sort of statement does potentially read like a willingness to make concessions. Given the UK’s economic importance, the EU’s market for US products has thus potentially shrunk considerably, making the EU a less attractive trade partner. And the exclusion of the City of London may mean one bone of contention (US insistence on not discussing the regulation of financial services in TTIP) is removed, or at least likely to have its significance reduced (as there are indeed others wanting to take London’s place as the European centre for financial services).
If we examine the broader EU political landscape, the ‘euro-realists’ may be winning out. While the term has been used before, it has more recently been associated with the European Conservatives and Reformists (ECR) Group in the European Parliament, whose vision is to reform the EU by further liberalising the Single Market. They especially want to fight the ‘hidden protectionism that is to be found in national labour laws or trade union practices’ which ‘weakens Europe’s ability to compete on the global market’.
While it might seem that the euro-realist project has been dealt a blow by Brexit, as the ECR would lose its UK Conservative MEPs (the largest delegation in the group) and the UK’s seat in the Council, its ideas seem to be winning the struggle about how to interpret and learn from the UK’s referendum. Notwithstanding calls to respond with closer integration, those in key positions seem to be advocating for a ‘realist’ rather than a ‘utopian’ reaction. The President of the European Council Donald Tusk criticised notions of having ‘more Europe’, saying that ‘promoting them only leads to the strengthening of Eurosceptic moods’.
The long-standing, powerful German finance minister Wolfgang Schäuble also called for the curbing of Brussels: ‘now is the time for pragmatism’.
Notwithstanding hopes by ‘Lexiteers’ and some on the Left outside of the UK, a ‘Social Europe’ that promotes fair working conditions and social protection seems to have only become harder to achieve post-Brexit. If euro-realism becomes the new common sense in Europe, the conclusion of TTIP might become more likely. TTIP would liberalise trade with the US and could indirectly lead to further deregulation of the Single Market, in line with the euro-realist vision. As the ‘pragmatic’ left in Europe would be put further on the defensive, some here might be tempted to abandon their reservations regarding TTIP in order to show that the EU can still deliver. Also in the UK, Brexit has been followed by calls to stay attractive to business by further deregulating working conditions and lowering corporate taxes, and pursuing more liberal trade agreements around the world.
Those who would like to see the EU and the UK deliver a fairer economy and society are likely to be alarmed by the ascendance of such ideas post-Brexit.
Gabriel Siles-Brügge is lecturer in Politics at the University of Manchester. Ferdi De Ville is Associate Professor at Ghent University. They are the authors of ‘TTIP: The truth about the Transatlantic Trade and Investment Partnership’ (translated into German).
lun, 11/07/2016 - 09:30
Wie steht es um die Umsetzung der 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung? Dieser Frage stellen sich ab heute die Staatenvertreter bei der Tagung des hochrangigen Politischen Forums (High-level Political Forum, HLPF) für Nachhaltige Entwicklung in New York. Für die Zukunft der Agenda enorm relevant, aber auf der Tagesordnung weitgehend unberücksichtigt, ist ein als ‚Fragmentierung‘ bezeichnetes Phänomen. Es beschreibt eine zunehmende Vervielfältigung der Entwicklungsakteure bei gleichzeitiger Atomisierung von Zielen, Modalitäten, Instrumenten und Projekten. Verbunden damit sind enorme finanzielle Einbußen durch hohe Transaktionskosten, etwa weil Ähnliches von vielen Akteuren parallel anstatt gemeinsam angegangen wird oder verringerte Wirkungen eintreten, wenn die Effekte von Projekten sich gegenseitig aufheben. Teilweise kann Fragmentierung aber auch mehr Angebotsvielfalt erzielen, wie etwa durch innovative Süd-Süd-Kooperationsansätze. Diese Debatten beleuchten wir in einem aktuellen Sammelband zum Thema „The Fragmentation of Aid“.
Transnationale Zusammenarbeit unter den Bedingungen von Fragmentierung
In einer ständig wachsenden Zahl von Politikfeldern ist transnationale Zusammenarbeit unter den Bedingungen von „Fragmentierung“ heute weitgehend Realität. Ein Mantra der 2030 Agenda war daher von Beginn an die Integration verschiedener Politikfelder in einem umfassenden Ansatz. Der Begriff „Fragmentierung“ verweist auf die erheblichen negativen Aspekte der Komplexität in der Entwicklungszusammenarbeit, aber auch anderen Politikfeldern, die grenzüberschreitend tätig sind. Die zunehmende Notwendigkeit, Globalisierungsprozesse zu bewältigen und zu regulieren, hat historisch betrachtet zur Gründung einer Reihe von internationalen Institutionen geführt. In der Entwicklungszusammenarbeit ist die Anzahl bilateraler Geber weltweit von rund einem Dutzend in 1960 zu derzeit über 60 angestiegen; zudem gibt es deutlich über 250 multilaterale Geber. Einer der letzten Neuzugänge war die asiatische Infrastrukturinvestmentbank. Entwicklungszusammenarbeit und Partnerländer können allerdings auch von einem Ansatz profitieren, der mehr Wettbewerb aufgrund größerer Vielfalt umfasst. Das Potenzial für gegenseitiges Lernen, Innovation und wettbewerbsfähige Auswahl unter den verschiedenen Bereitstellern von Entwicklungszusammenarbeit kann sich erhöhen.
Fragmentierte 2030 Agenda?
Für die Umsetzung der 2030 Agenda sind zwei Aspekte bedeutsam: Die Verhandlungen über die Nachhaltigkeitsziele waren erstens von der Zielvorgabe getragen, soziale, wirtschaftliche und Umweltaspekte zu intergieren. Gleichwohl dürfen bei 17 Zielen, 169 Zielvorgaben und 230 Indikatoren die inhärenten Zielkonflikte nicht im Sinne eines falsch verstandenen Integrationskonzeptes schöngefärbt werden. Wie das Beispiel des Anbaus von Palmöl auf Landwirtschaftsflächen zur Kraftstoffsubstitution zeigt, besteht zwischen einzelnen Indikatoren durchaus ein Spannungsverhältnis. Für die Ziele der 2030 Agenda kennzeichnend ist, dass sie mehrheitlich hochkomplexe, Sektor übergreifende und langfristige Probleme angehen. Unter diesen Vorzeichen wird es zukünftig von zentraler Bedeutung sein, zwischen bestehenden Institutionen Multi-Akteursnetzwerke zu knüpfen, um bestehende Fragmentierungen zu überwinden; im Sinne transnationaler Zusammenarbeit sollten diese auch zivilgesellschaftliche und andere Akteure mit einbinden.
Zweitens sind Entwicklungspartner und Partnerregierungen gefordert, neue Ansätze zu entwickeln und technische Instrumente anwenden, um der zunehmenden Fragmentierung zu begegnen. In der Europäischen Union zählt hierzu beispielsweise der „Verhaltenskodex für Komplementarität und Arbeitsteilung in der Entwicklungspolitik“; bei den Vereinten Nationen gibt es das „Joint Programming“ oder den „Delivering as One“–Ansatz. Gleichwohl ist die Gegenüberstellung von spezialisierten Entwicklungsorganisationen, etwa den „Ein-Themen-Fonds“ wie dem Globalen Fond zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria einerseits, und den Gemischtwarenläden des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen andererseits, künstlich. Statt „Entweder-Oder“ geht es um „Sowohl-als-Auch“.
Hier liegen demnach die Grenzen, Herausforderungen der Fragmentierung, die in politischen, wirtschaftlichen, und anderen Interessen begründet sind, mit überwiegend technischen Ansätzen effektiv zu begegnen. Mit schwindender Unterstützung auf politischer Ebene steigt gleichzeitig (erneut) der Druck, die eigene „Daseinsberechtigung“ in der Entwicklungszusammenarbeit in den Vordergrund zu stellen. Die separate Kennzeichnung nationaler Geberbeiträge konterkariert Konsolidierungs- und Harmonisierungsbemühungen und befördert Fragmentierung potentiell weiter. Der Brexit dürfte den Bemühungen, Entwicklungszusammenarbeit besser zu koordinieren, zusätzlich zuwider laufen.
Fragmentierung aktiv anzugehen liegt daher vielfach nicht im Interesse entwicklungspolitischer Akteure. Bei geschätzten Kosten von drei bis fünf Billionen USD pro Jahr für die Umsetzung der 2030 Agenda könnten durch einen effizienteren und effektiveren Einsatz der Mittel enorme Summen eingespart werden. Sich im Zeitalter der 2030 Agenda vom ersten Jahr an intensiv mit der Fragmentierungsproblematik auseinanderzusetzen, ist daher ein drängendes Gebot der Stunde.
lun, 04/07/2016 - 10:06
Bonn, 04.07.2016. Zwei große Mechanismen schmälern das Steueraufkommen in Entwicklungs- und Schwellenländern: Reiche Individuen entziehen sich ihrer Steuerpflicht, indem sie Gelder ins Ausland abziehen und falsche Angaben zu Einkommen und Vermögen machen. Große, international operierende Unternehmen nutzen zwischenstaatliche Gesetzes- bzw. Regulierungslücken und verlagern Gewinne („Steuersubstrat“) künstlich in Staaten mit besonders niedriger Steuerquote.
So unterschiedlich beide Verhaltensmuster auch sind, berühren sie sich doch in einem wichtigen Punkt: Firmen wie die Kanzlei Mossack Fonseca und Länder wie Panama stellen für Steuervermeidung wie auch Steuerhinterziehung Know-how und Infrastruktur bereit. Sie sind Teil eines internationalen Systems, dessen einziger Zweck darin besteht, die Steueranstrengungen der Staaten zu unterlaufen. Nutznießer sind die free rider im Weltsystem – Steueroasen, korrupte Eliten, kriminelle Banden und am Rande der Legalität operierende Unternehmen.
Es gibt bis heute kaum gesicherte Erkenntnisse über das Ausmaß, in dem Entwicklungsländer unter Steuervermeidung und Steuerhinterziehung leiden. Die vorhandenen Studien lassen aber zwei generelle Aussagen zu:
Erstens sind die ärmeren Länder im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft und ihrem Steueraufkommen stärker betroffen als die reichen Industrienationen. Das liegt vor allem daran, dass sie von Kapitalimporten und von Steuerzahlungen weniger großer Unternehmen abhängen. Auch niedrige staatliche Leistungsfähigkeit und die politische Einflussnahme nationaler Eliten spielen eine Rolle.
Zweitens hat sich die Summe der in Steueroasen versteckten Finanzvermögen und der jährlichen Kapitalabflüsse aus Entwicklungs- und Schwellenländern seit der Weltwirtschaftskrise 2009 wohl weiter erhöht. Dies widerspricht dem zuweilen erweckten Eindruck, die im Rahmen der OECD, der EU und der G20 beschlossenen Maßnahmen, beispielsweise für einen verbesserten Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden, hätten bereits zu einer effektiven Einhegung des Problems geführt. Ob und wann die neuen Maßnahmen tatsächlich greifen, ist zur Stunde noch offen.
Besonders multinationale Unternehmen machen sich das Geschäftsmodell der Steueroasen und Lücken im internationalen Steuersystem zunutze, um ihre Steuerlast drastisch zu senken. Einige Praktiken sind dabei kaum zu identifizieren, geschweige denn zu korrigieren. Schon Industrieländer sind z.B. damit überfordert, die interne Preisgestaltung multinationaler Konzerne für Finanzdienstleistungen und immaterielle Vermögenswerte zu überwachen. Viele Entwicklungsländer stellt dies vor noch größere Herausforderungen. Andere Probleme sind leichter zu identifizieren, erfordern aber zu ihrer Behebung ein hohes Maß an bilateraler Kooperationsbereitschaft und staatlicher Kapazität.
Die Auswirkungen sind gravierend: Den betroffenen Staaten fehlen notwendige Ressourcen zur Umsetzung entwicklungspolitischer Ziele. Außerdem haben öffentliche Investitionen (z.B. in Energie, Transport, Kommunikation) oft wichtige Hebelwirkung auf das Investitionsverhalten privater Kapitalgeber. Ein als unfair wahrgenommenes Steuersystem kann die Legitimität des Staates stark gefährden.
Um die Leistungsfähigkeit von Steuerbehörden in Entwicklungsländern zu stärken, muss die bilaterale Zusammenarbeit ausgebaut werden. Hierüber herrscht in der Entwicklungspolitik ein breiter Konsens. Von großer Bedeutung ist dabei der Aufbau von Datenbanken und Informationssystemen. Das beinhaltet in vielen Fällen auch eine Stärkung der nationalen Statistikbehörden und einen verbesserten Informationsaustausch zwischen den staatlichen Behörden. Außerdem ist der öffentliche Zugang zu Daten über multinationale Konzerne, große Rohstoffprojekte usw. wichtig.
International werden heute vielfältige Anstrengungen unternommen, Regulierungslücken zu schließen. Viele Maßnahmen müssen jedoch in bilateralen Vereinbarungen zwischen Staaten umgesetzt werden. Dazu gehört z.B. der automatische Austausch von Steuerinformationen. Ärmere Entwicklungsländer sind durch das Prinzip der Reziprozität aber überfordert. Hier sollten die Industrieländer in Vorleistung treten.
Wichtiger noch: Bilateral verankerte Maßnahmen sind eher darauf ausgerichtet, ausgefeilte Modelle der Steuerhinterziehung und –vermeidung durch ebenso komplexe Mechanismen der Regulierung und Kooperation einzufangen. Es ist aber fraglich, ob Entwicklungsländer mit eingeschränkter Staatskapazität in der Lage sein werden, diesen Weg mitzugehen.
Entwicklungsförderlich wären multilaterale Ansätze, welche die Besteuerung von Unternehmen auf eine einheitliche Grundlage stellen und dafür Sorge tragen, dass die notwendigen Daten international gesammelt und bereitgestellt werden. Ein solcher Ansatz hätte das Potenzial, Besteuerung stärker an wirtschaftlichen Aktivitäten auszurichten, Steuerhinterziehung und –vermeidung zu erschweren und gleichzeitig die weniger leistungsfähigen Staaten zu entlasten. Auch Deutschland mit seiner starken Exportwirtschaft hätte durch mehr Transparenz und eine vertiefte internationale Kooperation in Steuerfragen mittelfristig mehr zu gewinnen als zu verlieren.
lun, 27/06/2016 - 11:49
Bonn, 27.06.2016. Wenn die EU-Staats- und Regierungschefs sich morgen in Brüssel treffen, ist die Stimmung vermutlich auf dem Tiefpunkt angekommen. Die Briten haben sich mit einer knappen Mehrheit von 52 Prozent dafür ausgesprochen, die EU zu verlassen. Die ‚Leave‘-Stimmen konzentrierten sich auf England und Wales; Schottland und Nordirland haben mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. Mehr ältere als jüngere Briten waren für den Brexit.
Leider gab es in Großbritannien am Ende keinen Hexenmeister, der die Geister, die David Cameron rief, wieder eingefangen und den wildgewordenen Besen unter Kontrolle gebracht hätte. Der Prozess zeigt außerdem, dass Referenden nur bedingt geeignet sind, sehr komplizierte und weitreichende Entscheidungen zu treffen. Ob und wann Großbritannien den Austritt aus der EU nach Artikel 50 des Lissabon Vertrages einleitet ist unklar. In jedem Fall haben die Briten Europa in eine Krise gestürzt.
Implikationen eines möglichen Brexit
Was bedeutet der mögliche Brexit für die europäische Außen- und Entwicklungspolitik? Sicher ist im Augenblick eigentlich nur, dass die nächsten Wochen und Monate von großer Unsicherheit geprägt sein werden. Die Verhandlungen werden sich vermutlich zunächst stark auf den internen Markt und Subventionen aus den Agrar- und Kohäsionspolitik konzentrieren, weniger auf Außenpolitik, Entwicklungspolitik oder Handelsabkommen wie die Wirtschaftlichen Partnerschaftsabkommen (EPAs). Die EU wird auf Monate erst einmal mit sich selbst beschäftigt sein. Dies ist umso bedauerlicher, weil wir ein starkes sowie transfomiertes Europa dringender brauchen denn je. In Zeiten weit fortgeschrittener Globalisierung und enger internationaler Verflechtungen können einzelne Mitgliedstaaten (einschließlich der „big three“ – UK, Deutschland und Frankreich) im Alleingang auf der internationalen Bühne immer weniger ausrichten.
Umso paradoxer erschien das Argument der ‚vote leave‘-Kampagne, Großbritannien würde durch den Austritt international ‚zu alter Größe‘ zurückfinden. Nicht zuletzt US-Präsident Obama hatte die Briten bei seinem jüngsten Besuch daran erinnert, dass sie als Teil der EU deutlich mehr internationalen Einfluss haben, als wenn sie sich wechselnde Koalitionen suchen müssten. „The European Union does not moderate British influence – it magnifies it“, hielt Obama den Brexit-Befürwortern entgegen. Wer am Ende Recht behält, wird die Zeit zeigen.
Brexit auch als Chance?
Es wäre zu hoffen, dass die EU aus der Not eine Tugend macht und den Brexit als Chance nutzt, in der Außen- und Entwicklungspolitik enger zusammenzuarbeiten. Bei der Bekämpfung des Terrorismus, der Fluchtursachen, der Beendigung von Konflikten, der Reduzierung staatlicher Fragilität und Armut durch Entwicklungs-, Außen-, Sicherheitspolitik und anderer Politikbereiche können einzelne EU-Mitgliedsländer allein kaum etwas ausrichten. Erst durch enge europäische Kooperation und die Nutzung komparativer Vorteile einzelner Akteure kann Europa international einen Unterschied machen.
Bei der Verabschiedung des Klimaabkommens im Dezember in Paris oder bei den Verhandlungen zur 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung im September in New York hat Europa durch gemeinsames Auftreten eine wichtige und konstruktive Rolle gespielt. Der Erfolg dieser Abkommen und damit die Möglichkeit, globale Herausforderungen positiv zu beeinflussen, hängen auch davon ab, ob Europa selbst mit gutem Beispiel vorangeht.
Großbritannien hat die Außen- und Entwicklungspolitik maßgeblich mit beeinflusst. Als zweitgrößter Geber weltweit ist das Vereinigte Königreich ein Schwergewicht und einer der tonangebenden Staaten in der strategischen Ausrichtung der Entwicklungspolitik. Die Briten standen einer engeren europäischen Zusammenarbeit in der Entwicklungspolitik in vielen Fällen skeptisch gegenüber und präferierten kleinere, sogenannte ‚like-minded‘-Gruppen. Nach dem jetzt wahrscheinlich anstehenden Austritt werden sich die ‚Machtgleichgewichte‘ in der europäischen Entwicklungspolitik neu justieren. Neuere Mitgliedsstaaten wie Polen und mittel- und osteuropäische Länder sollten dabei eine wichtigere Rolle spielen. In jedem Fall wird Deutschland international deutlich mehr Verantwortung übernehmen müssen.
Europa hat in den vergangenen Monaten einen Prozess angestoßen, neue gemeinsame Visionen für europäisches Außenhandeln zu definieren. Die neue EU-Globalstrategie, die die hohe Vertreterin der Kommission, Federica Mogherini, im vergangenen Jahr erarbeitet hat, soll den EU- Außenbeziehungen eine gemeinsame Richtung geben. Die Strategie soll morgen beim Treffen des Europäischen Rates gebilligt werden. In der Entwicklungspolitik haben jüngst Diskussionen zur Revision des Europäischen Konsens für Entwicklung begonnen. Der Konsens, bei dem sich die Kommission, das Europäische Parlament und die Mitgliedsstaaten 2005 zum ersten Mal auf eine gemeinsame Perspektive für europäische Entwicklungspolitik einigten, soll grundlegend überarbeitet werden. Diese Strategieprozesse sollten wegen des möglichen Brexit nicht aufgegeben werden. Im Gegenteil: Der Vertrag von Lissabon hat 2009 den Versuch unternommen, die EU besser in die Lage zu versetzen, international gemeinsam zu handeln. Er hat die europäische Außenpolitik institutionell gestärkt. Gerade jetzt muss die EU sich außenpolitisch besser aufstellen. Die EU muss deutlich machen, dass sie einen positiven und nachhaltigen Beitrag zur Lösung der vielfältigen Krisen und Konflikte in ihrer Nachbarschaft und zur Bearbeitung globaler Herausforderungen leisten kann.
lun, 20/06/2016 - 09:41
Der heutige Weltflüchtlingstag kommt mit einem neuen traurigen Rekord daher: Ende 2015 waren 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – so viele wie nie. Aber auch trotz stark gestiegener Flüchtlingszahlen in Deutschland und Europa bleibt die so genannte globale Flüchtlingskrise vor allem eine Krise der armen Länder dieser Welt. Die allermeisten der weltweit Fliehenden kommen nicht nur aus Entwicklungs- und Schwellenländern. Ein Großteil von ihnen verlässt auch das eigene Herkunftsland oder die Herkunftsregion nicht. Von Pakistan und dem Iran über Jordanien, den Libanon und Äthiopien bis Nigeria oder Kolumbien – die Liste der Länder, die die meisten Flüchtlinge und Binnenvertriebenen beherbergen, liest sich wie ein Querschnitt durch den globalen Süden. Schlägt deshalb nun die „Stunde der Entwicklungspolitik“, wenn es darum geht die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu bekämpfen? Welches sind eigentlich die Kernursachen – und was kann und sollte Entwicklungspolitik zu ihrer „Bekämpfung“ tun?
Der Hauptgrund für Flucht und Vertreibung sind zweifellos bewaffnete Konflikte. Daneben sind Terror, Repression, Hunger oder Naturkatastrophen weitere Fluchtursachen. Größere Fluchtbewegungen aber entstehen zumeist erst durch das gleichzeitige Auftreten mehrerer dieser Faktoren.
Die Zahl und Intensität bewaffneter Konflikte hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Die Anzahl der Menschen, die pro Jahr in kriegerischen Auseinandersetzungen rund um den Globus getötet werden, hat sich seit 2010 auf etwa 200.000 Tote vervierfacht. Die Flüchtlingskrise ist daher in erster Linie eine Krise der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik. Zwei Ursachenbündel kommen zusammen: innergesellschaftliche Auseinandersetzungen um Macht, Anerkennung und Chancen zum einen; und eine Außenwelt, die teils aus Desinteresse, teils aus Eigennutz nicht alles unternimmt, um Aggressoren den Zugang zu Waffen und Finanzen zu verwehren, sondern oft das Gegenteil bewirkt. Konflikte und Kriege wie in Syrien, Afghanistan oder dem Südsudan allein mit dem westlichen Lebensstil und seinen Auswirkungen auf Entwicklungsländer, der Geo- oder Nahostpolitik der USA oder internationalen Waffenexporten erklären zu wollen, griffe also zu kurz. Dennoch kann Entwicklungspolitik eine wichtige Rolle als Stimme im Interesse der betroffenen Zivilbevölkerungen spielen und – auch im Sinne eines aufgeklärten Eigeninteresses – dafür werben, die Vermeidung von gewaltsamen Konflikten zur Richtschnur allen politischen Handelns zu machen.
Darüber hinaus zielt Entwicklungspolitik meist direkt auf die Verminderung innergesellschaftlicher Konflikte ab. Kriege und Bürgerkriege resultieren oftmals aus einer Verzahnung unterschiedlichster Faktoren, die ökonomischer, sozialer, historischer, ethnischer bis hin zu (geo-)politischer Natur sein können. Entwicklungspolitik hat zum Ziel, zur Transformation solcher strukturellen Konfliktlagen beizutragen.
Es wäre aber so verlockend wie falsch, davon auszugehen, dass Entwicklungspolitik schnell und einfach etwas gegen die Ursachen von Flucht und Vertreibung bewirken kann. Entwicklungspolitik wirkt langfristig. Kurzfristig kann – und muss – Leid gemindert und Schlimmeres verhindert werden. So muss es etwa darum gehen, Flüchtlingen in den Hauptaufnahmeländern eine bessere Zukunftsperspektive zu geben. Dabei gilt es, lokale Verwaltungen einzubinden, aufnehmende Kommunen und Länder zu unterstützen – nicht zuletzt auch um Konflikte zwischen Flüchtlingen und Alteingesessenen zu verhindern – und Menschen in Lagern nicht nur zu „verwalten“, sondern sie aktiv teilhaben zu lassen. Dabei muss gar nicht der Gedanke im Vordergrund stehen, dass Menschen ohne Aussicht auf ein festes Gehalt, bessere medizinische Versorgung oder eine bessere schulische Bildung für ihre Kinder nach Europa „weiterfliehen“ könnten. Die meisten Flüchtlinge verfügen dafür ohnehin nicht über die notwendigen (finanziellen) Mittel.
Langfristig muss die internationale Entwicklungszusammenarbeit vor allem zukünftigen Konflikt- bzw. Fluchtursachen entgegenwirken. Hierzu muss neben dem Kampf gegen Armut, Hunger und Umweltzerstörung auch die Schaffung funktionierender politischer Strukturen – die keine Bevölkerungsgruppen von der Möglichkeit der Teilhabe ausschließen und dem friedlichen Zusammenleben der Menschen verpflichtet sind – stärker in den Vordergrund gestellt werden. Krisenprävention und Friedensförderung sollten als entwicklungspolitische Schwerpunktthemen gestärkt werden. Auch die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss wieder eine größere Rolle spielen.
Im weltweiten Maßstab scheint die Demokratie als Herrschaftsform seit Jahren auf dem Rückzug zu sein, während Bürgerkriege und Gewalt zunehmen. Das zeigt: Wenn es an demokratischer Teilhabe mangelt, können Staaten schnell instabil werden und Konflikte leicht eskalieren. Allzu lange haben westliche Geberländer autoritäre Regime im Nahen Osten und Afrika unterstützt, um sich so kurzfristige politische Stabilität zu erkaufen. Zukünftig muss es darum gehen, die Wohlfahrt und Teilhabe der Bürger in diesen Ländern zu verbessern. Das heißt, dass Geberländer in diesen Staaten viel stärker mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten müssen. Das alles ist langwierig, zäh und gewährt leider keinerlei direkte Erfolgsgarantien. Dennoch ist es unabdingbar, um auf Dauer Krisen, Kriegen und Massenflucht entgegenzuwirken.
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Die Kolumne ist ebenfalls auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) erschienen.
mar, 14/06/2016 - 09:51
Bonn, 14 June 2016. Surprisingly, reports and even opinion pieces on the first high-level meeting of the Global Partnership for Effective Development Cooperation (GPEDC) – the main forum for debates on development cooperation – in Mexico City in 2014 ignored one basic fact: Main stakeholders of the partnership did not show up (China and India) or were present just as an observer (Brazil). Some others (like South Africa) joined the meeting but seemed to have clear reservations as well. Against this background, the Mexico meeting was only partly successful since an inclusive and more legitimate basis of the Global Partnership was the main rationale to transform the former aid effectiveness platform organized by the respective working group of the OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) into a quite new format which is jointly driven by the United Nations Development Program (UNDP) and the OECD.
We are now approaching the second high-level meeting of the platform, which will take place from 28 November to 1 December 2016 in Nairobi, Kenya. So, how did the context change since the Mexico meeting? What is on the agenda for Nairobi? Are we going to see all ‘big elephants’ in the conference hall?
Changing context
In basic terms, two aspects need to be highlighted. Firstly, the 2030 Agenda for Sustainable Development is now providing an important narrative on global development. The potential of this narrative goes well beyond the Millennium Development Goals and their traditional focus on developing regions: All main stakeholders accept the universal nature of the 2030 Agenda, which provides a strong legitimacy. The 2030 Agenda is at the core of major efforts including development cooperation platforms like the GPEDC, the United Nations Development Cooperation Forum (DCF) and activities under the umbrella of the OECD. From a development cooperation perspective, the 2030 Agenda has advantages and disadvantages at the same time: ‘Development’ is not any longer a challenge just for ‘developing regions’ but for all countries of the world. This leads to more vagueness in terms of responsibilities. Thus, development cooperation actors are struggling with the question: How to adjust to the new agenda? Who is in charge for the follow-up and the monitoring?
Secondly, important rising powers are still pushing for a concept for South-South-Cooperation (SSC) which is distinctive from the OECD aid approach. This, for example, became tangible during the second global conference on SSC hosted by India in March 2016. However, contours and criteria are evolving but remain quite vague. Individual countries like China will use the 2030 Agenda to guide their SSC. Harmonisation on SSC still to needs be pushed for. The different approaches of rising powers to the GPEDC point to this challenge as well.
Why to care about GPEDC?
Is the changing context leading to different views of rising powers on the GPEDC? Our assumption is that a partial membership to the Global Partnership high-level meeting remains likely. Participation in this forum seems to still not be a high priority for all rising powers and different perceptions on the legitimacy of the platform might continue to exist.
Against this backdrop we propose to reflect on three aspects:
First, all stakeholders – rising powers, OECD countries, recipients of SSC and development cooperation – should reflect on a truly ‘global’ cost-benefit analysis of participation and non-participation in the GPEDC.
Second, rising powers should be more explicit about requirements for such a global platform. What is needed and how can we use or further develop an existing mechanism?
Third, Kenya as the upcoming host country for the High Level Meeting of the GPEDC and other steering committee members should come up with new initiatives and brainstorm with rising power government and non-governmental representatives about a restart of the ‘global spirit’ of the GPEDC.
In our view the international community is in need of a well functioning platform which should cover all aspects of development cooperation and SSC. We do not assume that all countries can agree on standards and norms in all areas. However, the need for a joint dialogue platform is striking.
Stephan Klingebiel is Head of the Department Bi- and Multilateral Development Cooperation at the German Development Institute / Deutsches Institut for Entwicklungspolitik (DIE), a regular Visiting Professor at Stanford University and a Senior Lecturer at the Philipps University Marburg.
Li Xiaoyun is a professor and former dean of China Agricultural University’s College of Humanities and Development, president of the China International Development Research Network (CIDRN) and chairman of the Network of Southern Think-Tanks (NeST).
lun, 06/06/2016 - 10:31
Bonn, 06.06.2016. Nach den Verhandlungen für das historische Klimaabkommen in Paris im letzten Dezember, der denkwürdigen Unterzeichnungszeremonie in New York und viel Schulterklopfen trafen sich in den letzten Wochen die Klimaakteure erneut in Bonn. Die jüngste Klimarunde der UNFCCC mit ca. 1900 Regierungsvertretern, 1500 Beobachtern und 100 Medienvertretern begann, darüber zu diskutieren, wie das Pariser Abkommen in die Tat umzusetzen sei. Natürlich sind die Auslegung des Klimaabkommens und die Umsetzungsplanung der internationalen Bürokratie ein wichtiger nächster Schritt. Aber er wird vermutlich nicht ausreichen, um zu verhindern, dass die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit an Schwung verliert. Neben all den Gesprächen muss jetzt gehandelt und die Umsetzung der geplanten Treibhausgasminderungsbeiträge (Nationally Determined Contributions – NDCs) begonnen werden.
In fünf Monaten öffnet die nächste Klimakonferenz in Marrakesch ihre Tore. Bis dahin müssen die Regierungen Ergebnisse vorweisen können, denn eins ist sicher: Die festgelegten Klimaziele ohne substanzielle Beiträge aus der Privatwirtschaft zu erreichen ist ausgeschlossen. Tatsächlich haben ganze Branchen, private und institutionelle Investoren die Klimaverhandlungen mit großem Interesse verfolgt. Mehr noch: Sie haben nicht nur schweigend zugesehen, sondern erstaunlicherweise ihre Bereitschaft betont, aktiv zu werden, – letztlich eine völlig logische Reaktion. Mehr als alle anderen wollen Privatunternehmen Geld verdienen. Und wenn sie ein starkes Signal erhalten, dass die Wirtschaft einen Wandel erleben wird, ist eine Anpassung an das neue Unternehmensumfeld in ihrem eigenen Interesse. Ganz entscheidend ist es deshalb, dass die Regierungen nun beweisen, dass ihr Bekenntnis zur geplanten Dekarbonisierung ernst gemeint und verlässlich ist. Sie müssen den Privat- und Finanzsektor überzeugen, dass die Zukunft grünen Technologien und grünem Wirtschaften gehört, dass sich globale Wachstumsmodelle verändern werden und dass es kein Zurück mehr gibt – für niemanden.
November ist nicht mehr weit. Daher müssen wir das aktuelle diplomatische Konzept, einen weiteren Katalog globaler, nationaler, regionaler und lokaler Pläne zu erarbeiten, mit praktischem Handeln ergänzen! Parallel zur UNFCCC-Konferenz hat eine kleine Gruppe aus Experten verschiedenster Länder praktikable Lösungen und tragfähige Modelle für eine Ausweitung privater Klimaschutzinvestitionen entwickelt. Im Rahmen des Practitioners' Dialogue on Climate Investments (PDCI) vom 23. bis 25. Mai in Bonn erarbeiteten Fachleute unterschiedlicher Hierarchieebenen des öffentlichen, privaten, akademischen und Finanzsektors mehrere konkrete Modell-Projekte, zum Beispiel: die Wiederaufbereitung von Abwässern stark umweltbelastender Industrien (Pharmazie) in Andhra Pradesh, ein Energiespeichersystem für Mininetze und dezentrale Stromversorgung in Indonesien, eine nachhaltige Finanzpolitik für Banken und Finanzinstitutionen in Bangladesh, ein Kreditgarantieprogramm für Klima-Investitionsvorhaben in Pakistan, eine Technologie zur beschleunigten Steigerung der Energieeffizienz auf den Philippinen u. v. a m.
Der PDCI ist ein gutes Beispiel dafür, wie effektiv internationale Konferenzen sein können, wenn das Konzept nicht bloß aus einer Aneinanderreihung von Diskussionsrunden besteht – in den meisten Fällen dominiert von ausschließlich grauhaarigen Männern und unterschwelligen Machtdemonstrationen, Eigenwerbung und Zuweisungen von Verantwortlichkeiten. Der Schlüssel für schnelles Handeln ist ein Konzept aus gegenseitigem Coaching, der Erkenntnis, dass wir viel voneinander – insbesondere auch von Entwicklungsländern – lernen können, sofortigem Handeln (ohne lange Debatten) und der Offenheit für unverbrauchte, innovative und pragmatische Ideen der Akteure.
Die Umsetzung der meisten entwickelten Modell-Projekte wird bis Jahresende anlaufen. Ebenso sind die Regierungen aufgerufen, ohne Wenn und Aber zu bestätigen, dass sie entschlossen sind, den Klimawandel aufzuhalten, indem sie den Worten Taten folgen lassen. Die Mitglieder des PDCI hatten viele Vorschläge für konkretes Regierungshandeln: (i) Instrumente für eine Risikominimierung bereitstellen, (ii) stabile Investitionsbedingungen schaffen und sichern, (iii) standardisierte Verfahren für die Projektbewertung entwickeln, (iv) in Machbarkeitsstudien und Pilotvorhaben investieren, (v) Fonds mit geringem Volumen auflegen und Projekte bündeln, (vi) wenn staatliche Gelder in Projekte fließen, die Projektdaten veröffentlichen, (vii) die richtige Regulierungfür Pensionskassen festlegen, (viii) die Festsetzung des Kohlenstoffpreises auf die G20-Agenda setzen. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Regierungen jetzt aktiv werden und nicht abwarten, bis die nächste Runde an Plänen perfektioniert ist. Der Privat- und der Finanzsektor brauchen ein klares Signal, dass sich Wirtschaftsmodelle seit Paris definitiv geändert haben.
lun, 30/05/2016 - 10:00
Am 29. Mai erinnerte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon an das 60-jährige Bestehen der bewaffneten UN-Friedenssicherungsmissionen. Ihr erster Einsatz erfolgte im Mai 1956 in der Suez-Krise. Er erwähnte auch, dass diese UN-Einrichtung 1988 den Friedensnobelpreis erhalten hat – beides von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Fatale Entwicklungen
Der seit 1989 jährlich im Dezember erscheinende Rüstungsbericht des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) zeigt: Rüstungsproduktion und Rüstungsexport sind die großen Bremser für erfolgreiche und Grenzen überwindende globale und nachhaltige Friedensstrategien. Neben vielen anderen Problemen in den politischen Beziehungsstrukturen der Staaten- und Gesellschaftswelt sowie Debatten darüber in unzähligen Foren haben sich die rüstungspolitischen Dynamiken in einer Parallelwelt verankert, die von der breiten Öffentlichkeit kaum mehr, bestenfalls mit einem Schulterzucken, wahrgenommen wird.
Die Verwirklichung vieler der 17 Ziele der Agenda 2030 hängt jedoch davon ab, dass Staaten neben „gesunden“ (korruptionsfreien) und „funktionstüchtigen“ (effektiven) Governance-Strukturen nachhaltige Wirtschaftskreisläufe ebenso aufbauen und nutzen können, wie sie (globale) politische Beziehungen zum Wohle Ihrer Bevölkerungen entwickeln und pflegen sollen.
Ganz konkret fordert das Ziel „Frieden und Gerechtigkeit“ der Agenda 2030 dazu auf, friedliche und inklusive Gesellschaften zu fördern. Von diesem hehren Ziel ist die Mehrzahl der Länder weit entfernt. Dies hat viele Gründe. Einer davon ist eine im globalen Maßstab sehr dynamische Rüstungspolitik. Sie ist wesentlicher Bestandteil eines fatalen gegenläufigen Trends.
Rüstungspolitik: ein Fall für die Hinterzimmer
Fünf Staaten haben im Sektor „Rüstungspolitik“– vor allem in den vergangenen etwa 15 bis 20 Jahren – herausragende Fähigkeiten entwickelt. Sie führen die Tabelle der fünf größten Rüstungsproduzenten und Rüstungsexporteure in dieser Reihenfolge an: USA, Russland, China, Frankreich und Deutschland; fünf weitere folgen auf den Plätzen sechs bis zehn: Großbritannien, Spanien, Italien, Ukraine und die Niederlande. In dieser Rangfolge befinden sich immerhin sieben „lupenreine“ Demokratien, deren Rüstungspolitik und Vergaben von Rüstungsaufträgen einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Jedoch verfügt die Rüstungsindustrie in diesen sieben Demokratien über sehr erfolgreiche Lobbystrukturen, die weit in die Parlamente hineinreichen und deren „Mantra“, bei Ablehnung von Rüstungsaufträgen tausende von Arbeitsplätzen zu gefährden, Kernbestandteil ihrer „Politikberatung“ ist.
Auf der anderen Seite haben die „Tabellenführer“ eine sehr lukrative Einnahmequelle entwickelt, die erhebliche Rückflüsse in die eigene Staatskasse garantiert: Regierungen – ob mit oder ohne parlamentarische Zustimmung – verkaufen Lizenzen eigener Produktlinien und lassen die Rüstungsgüter direkt vor Ort in Krisenländern von Lizenznehmern produzieren. Parlamente und Ausfuhrkontrollbehörden zeigen sich gegenüber dieser Praxis in vielen Fällen äußerst großzügig und zustimmungsbereit.
Gegenläufige Ziele
Staatlich verantwortete Rüstungspolitik forciert indirekt einen kompletten Kontrollverlust über den „Endverbraucher“ der gelieferten Waffen. Denn jenseits der stets (noch) legalen Rüstungsgeschäfte und Lizenzvergaben hat sich durch Zweit- und Drittverkäufe von Rüstungs-gütern eine Parallelwelt illegaler Rüstungsdynamiken entwickelt, die in den meisten Krisen-regionen dieser Erde dazu führt, dass mit Waffen aus den Beständen parlamentarisch-demokratischer wie auch autokratischer Staaten Konflikte gewalthaltig ausgetragen und heiße Kriege geführt werden.
Dieses „Setting“ aus wachsender, politisch gesteuerter und subventionierter Rüstungsproduktion sowie einer global verflochtenen Rüstungswirtschaft hat seit Jahrzehnten gewalthaltige Konflikte immer wieder angeheizt: Die Einsätze von UN-Friedensmissionen an den „Hot-spots“ heißer Konflikte, die Einsätze der Ländermissionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie anderer regionaler Staatenverbünde in Konflikten, um Gewalt zu beenden, weist eine nicht sehr optimistisch stimmende Bilanz auf.
Rüstungsdynamiken überwinden: Eine Chance für die Agenda 2030?
Alle 17 Ziele der Agenda 2030 erfordern eine hoch effiziente, gerechte und gleichzeitig ökologisch nachhaltige Ressourcenallokation. Dies ist eine Chance für die Zivilgesellschaft, die ja ausdrücklich aufgefordert ist, an der Umsetzung der Agenda aktiv mit zu wirken. In der Rüstungspolitik gegenüber der Staatenwelt Transparenz einzufordern, dürfte jedoch zu einem der schwierigsten Unternehmen bis zum Jahr 2030 werden. Denn die fatalen Folgen von Rüstung und Rüstungspolitik verkaufen sich in der Öffentlichkeit nicht gut. Auch könnten bei zu viel öffentlichem Augenmerk auf die nationalen Rüstungspolitiken die politisch-diplomatischen Beziehungen der zehn größten Rüstungsexportländer untereinander leiden.
Am 24. Mai eröffneten die Vereinten Nationen in Bonn das „Kampagnenbüro für die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele“. Hoffen wir, dass dieses Büro zu einem relevanten Faktor und Akteur für die Zivilgesellschaft und damit auch zu einem Ausgangspunkt wird, endlich weltweit die globalen Rüstungsdynamiken in den öffentlichen Blick zu nehmen.
Dieser Beitrag wurde am 30.05.2016 auch veröffentlicht auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, e.V.
mer, 25/05/2016 - 10:00
Bonn, 25.05.2016. Im September 2015 haben die EU-Staats- und Regierungschefs zusammen mit ihren Kollegen aus aller Welt bei den Vereinten Nationen das transformative Projekt der 2030 Agenda for Sustainable Development beschlossen. Bei der Erarbeitung dieser universellen Agenda mit ihren 17 Sustainable Development Goals (SDGs) hat die EU eine maßgebliche Rolle gespielt. Als Aktionsplan für die Menschen und ihren Planeten, für Wohlstand und Frieden reflektiert die Agenda zentrale europäische Werte und Interessen. Sie zielt gleichermaßen auf die innere Entwicklung der EU wie auf Entwicklung jenseits Europas und der Menschheit insgesamt.
Jetzt geht es um Umsetzung. Auf globaler Ebene beginnt das neue High-Level Political Forum bei den Vereinten Nationen mit der Überprüfung im Juli 2016. Dort stellen dann mit Deutschland, Estland, Finnland und Frankreich gleich vier EU-Mitglieder ihre nationale Umsetzung zur Diskussion. Auch China, der aktuelle G20-Vorsitz ist schon 2016 dabei. Aber was macht die EU?
Die EU-Gipfel seit September 2015 hatten andere Schwerpunkte: Flüchtlingskrise, möglicher Brexit und immer wieder auch die ‚Euro-Krise‘. Soziale Spannungen und wirtschaftliche Disparitäten in der Union nehmen zu. Europaskepsis und Populismus breiten sich aus. Die europäische Umsetzung des Pariser Klimaabkommens bleibt hinter der ambitionierten Rhetorik zurück. Zur Umsetzung der 2030 Agenda war in Brüssel bislang kaum Verbindliches zu hören. Auf Eis gelegt? Institutionelle Selbstblockade? Oder konstruktive Denkpause?
Hinter den Kulissen gibt es durchaus Bewegung: Junckers Sonderberater für Nachhaltige Entwicklung soll bis Mitte 2016 Empfehlungen vorlegen, wie die SDGs in der EU und weltweit mit der EU umgesetzt werden können. In der Kommission läuft eine gap analysis, um europäische Politiken und Wirklichkeiten mit den SDGs abzugleichen. Auffällig ist, dass die zuletzt 2009 fortgeschriebene EU Sustainable Development Strategy praktisch nirgendwo Erwähnung findet. Stattdessen stehen zwei andere Großprojekte im Mittelpunkt: Die Fortschreibung von Europas Wachstumsstrategie (New Approach beyond 2020) und die Erarbeitung einer EU Global Strategy on Foreign and Security Policy. Aber wo findet sich dann die europäische Umsetzung der 2030 Agenda? Macht es Sinn, die 2030 Agenda in einem eigenen Prozess anzugehen, wenn Global Strategy und New Approach längst beschlossen sind?
Nötig wäre zuallererst, dass die EU-Staats- und Regierungschef sowie der Präsidenten von Kommission, Rat und Parlament die 2030 Agenda durch eine gemeinsame Erklärung als zentralen Bezugspunkt für alle inneren und äußeren Politiken etablieren. So könnten sie die Universalität und Integrität der 2030 Agenda mit ihren sozialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Dimensionen anerkennen und einen ambitionierten Rahmen setzen, der den Initiativen in den europäischen Institutionen und in den Mitgliedsstaaten Raum und Richtung gibt.
Europäische Politik für nachhaltige Entwicklung kann nach der 2030 Agenda keine Parallel- oder gar Nischenveranstaltung mehr sein. Sie muss ins Zentrum rücken und mit wirksamen Umsetzungs- und Überprüfungsinstrumenten ausgestattet werden. Das transformative Projekt der 2030 Agenda kann nicht in den inhaltlichen und institutionellen Mustern der Vor-2015-Welt umgesetzt werden. Diese sind dafür weder gemacht noch geeignet. Ist es nicht an der Zeit, dass die EU ihren New Approach beyond 2020 mit den regelmäßigen Abstimmungsprozessen ambitioniert und gleichrangig an allen Dimensionen nachhaltiger Entwicklung ausrichtet und die überholte Beschränkung auf Wirtschafts- und Finanzpolitik aufgibt? Und ist es noch zeitgemäß, wenn eine Globale Strategie der EU weiterhin primär aus der Perspektive klassischer Außen- und Sicherheitspolitik formuliert und global nachhaltige Entwicklung als ein Thema der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern auslagert wird?
Die EU hat die neue globale Erzählung nachhaltiger Entwicklung maßgeblich mitgeschrieben. Sie sollte nun die Chance ergreifen, daraus eine neue, positive europäische Erzählung zu machen, in der sich die Bürger Europas wiederfinden und die von Europas Partnern in der Welt als konstruktiv und glaubwürdig verstanden wird. Ohne eine solche überzeugende europäische Erzählung würde auch die globale Erzählung nachhaltiger Entwicklung bald zu einer Angelegenheit für Diplomaten und Bürokraten verblassen. Die 2030 Agenda spricht Schlüsselfragen der inneren Entwicklung Europas an, von Jugendarbeitslosigkeit und sozialen Disparitäten über Wachstum und Infrastruktur bis zu nachhaltiger Landwirtschaft und Biodiversität. Viele globale Ziele der Agenda erfordern substantielle Beiträge in der EU selbst, von der Bekämpfung des Klimawandels über die Förderung nachhaltiger Konsum- und Produktionsmuster bis zum Schutz der Meere. Gleichzeitig kann Europa seine eigenen Interessen, Ziele und Werte nicht ohne engagierte und solidarische Antworten auf die Herausforderungen nachhaltiger Entwicklung in seiner Nachbarschaft sowie in den Welt wahren, von Armut über Krisen und Konflikte bis zu Migration und Flucht. So gesehen hat die 2030 Agenda dann doch viel mit den Themen der regelmäßigen EU-Krisengipfel gemeinsam und könnte diesen Orientierung über den Tag hinaus geben.
Diese Kolumne ist eine leicht gekürzte Fassung des folgenden gleichnamigen Beitrags: Kloke-Lesch, Adolf (2016): Eine Europäische Erzählung?, in: Forum Wirtschaftsethik, Jahresschrift des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik, 23. Jahrgang (2015), Berlin 2016, S. 52-54 (im Druck).
lun, 23/05/2016 - 12:52
Bonn, 23.05.2016. Gegenwärtig wird humanitäre Hilfe so stark beansprucht wie selten zuvor. Kriege, Instabilität, Ungleichheit, Naturkatastrophen und daraus resultierende Flüchtlingskrisen führen dazu, dass heute weltweit etwa 125 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Aber auch das internationale humanitäre System ist in der Krise: Es mangelt ihm an Wirksamkeit, an Effizienz und an Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung und der Zuteilung seiner Hilfe. Es vernachlässigt viele chronische Brandherde und den Aufbau lokaler und regionaler Fähigkeiten.
Organisationen der Vereinten Nationen, denen eine entscheidende Rolle im internationalen humanitären System zukommt, konkurrieren zu oft miteinander und mit anderen. Dies geht zu Lasten einer guten Koordination. Selbst UN-Generalsekretär Ban Ki-moon fordert tiefgreifende Veränderungen bei der Art und Weise, wie die Vereinten Nationen ihrer humanitären Verantwortung nachkommen. Der humanitäre Weltgipfel, der am 23. Mai in Istanbul beginnt, muss den Weg für diese Veränderungen ebnen.
In mindestens vier wesentlichen Bereichen müssen Reformen angestrebt werden:
Erstens geht es um die Verknüpfung von unmittelbarer humanitärer Hilfe mit strukturbildender Unterstützung, also Entwicklungszusammenarbeit. Bei den meisten Akteuren herrscht Einigkeit, dass die Verzahnung der humanitären Hilfe mit der Entwicklungszusammenarbeit verbessert werden muss, um Menschen in Notlagen eine nachhaltige Perspektive zu geben. Die konkreten Lösungsvorschläge gehen allerdings bislang kaum über die Verbindlichkeit allseitiger Absichtserklärungen hinaus. Die Stärkung der resident coordinators – des jeweils höchsten Vertreters der Vereinten Nationen in einem Land – wäre ein wichtiger Schritt. Die Kompetenzen dieser Position sollten ausdrücklich um die Aufgabe erweitert werden, eine abgestimmte Planung von (a) Nothilfe, (b) mittelfristig stabilisierenden Maßnahmen und (c) langfristiger struktureller Entwicklungszusammenarbeit zu erreichen.
Zweitens sind bewaffnete Konflikte Hauptverursacher humanitärer Notlagen. Der bereits vor einiger Zeit veröffentlichte Bericht des Generalsekretärs zum Weltgipfel fordert daher an erster Stelle mehr Einsatz, um Kriege zu verhindern und Frieden zu fördern. In der internationalen Debatte ist dieser Punkt auf wenig konkrete Resonanz gestoßen. Denn die Organisationen der Vereinten Nationen sind Akteure, die ihr Mandat als möglichst unpolitisch definieren und damit in kritischen Situationen oft faktisch die Position der Regierungen unterstützen – auch wenn dies im schlimmsten Fall zu einer Konflikteskalation beitragen kann. Die Vorstellung einer politischen Neutralität in (Post-)Konfliktsituationen muss daher kritisch hinterfragt werden. Regelmäßige Do-no-harm-Analysen in Krisen- und Konfliktländern – also Untersuchungen, wie Hilfe vor allem konfliktsensibel gestaltet werden kann – wären in dieser Hinsicht ein guter Ausgangspunkt.
Drittens müssen die Organisations- und Entscheidungsstrukturen im humanitären System der Vereinten Nationen in zwei Richtungen hin reformiert werden, die zunächst widersprüchlich scheinen: Zentralisierung und Dezentralisierung. Zentralisiert werden sollte die Koordination im Falle einer humanitären Krise: Hier sollte die Rolle des UN-Nothilfekoordinators durch Ausweitung seiner Zuständigkeiten gestärkt werden (analog zu den resident coordinators). Dabei wäre es besonders wirkungsvoll, wenn auch die finanzielle Zuständigkeit in seinen Händen läge.
Eine Dezentralisierung sollte zugleich die Handlungsfähigkeit lokaler und nationaler humanitärer Organisationen in Krisensituationen stärken. Die Rolle internationaler Organisationen bestünde dann in erster Linie darin, nationale und lokale Organisationen nach Bedarf dabei zu unterstützen, den notwendigen Aufgaben nachzukommen. Nur wo dies nicht möglich ist, kämen internationale Organisationen direkt zum Einsatz.
Viertens ist die derzeitige Finanzierung des humanitären Systems problematisch. Es basiert weder auf festen noch auf verbindlichen Beitragssätzen. Dies führt immer wieder zu Finanzierungslücken mit teils drastischen Konsequenzen wie der Kürzung von Lebensmittelrationen für Bedürftige und hat eine Konkurrenz der UN-Organisationen untereinander um die knappen Mittel zur Folge. Das von Ban Ki-moon im Mai 2015 eingesetzte und mit internationalen Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft besetzte „High-Level Panel on Humanitarian Financing“ empfiehlt eine festere, mehrjährig gebundene Beitragsfinanzierung. Geldmittel sollten „zweck-ungebundener“ werden, um sich auch humanitärer Notlagen anzunehmen, die weitgehend aus dem Blick öffentlicher Wahrnehmung verschwunden sind. Humanitäre Organisationen sollten zudem ihre Finanztransparenz erhöhen und stärker zu bargeld-basierter Hilfe übergehen, da durch diese lokale Lösungen besser zum Tragen kommen.
Das Zeitfenster für strukturelle Reformen ist eng. Im September befasst sich die Generalversammlung mit dem turnusmäßigen Vierjahres-Review des UN-Entwicklungssystems. Angedachte Strukturveränderungen, die darin nicht zur Sprache kommen, werden es schwer haben in absehbarer Zeit auf anderen Wegen Zustimmung zu finden. Der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe wird in den nächsten Jahren kaum kleiner werden. Deshalb ist es entscheidend, dass der humanitäre Weltgipfel zu konkreten Reformschritten führt.
Dieser Beitrag ist auch auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) erschienen.
lun, 23/05/2016 - 10:00
Bonn, 23.05.2016. Am 23. und 24. Mai findet in Istanbul der erste humanitäre Weltgipfel statt, zu dem der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon geladen hat. 5.000 Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen, humanitären Organisationen, wissenschaftlichen Institutionen und Unternehmen, aber auch Opfer humanitärer Krisen werden seiner Einladung folgen. Durch den Fokus auf fünf Aktionsfelder soll der Gipfel die Grundlage dafür schaffen, die umfangreichen Verpflichtungen des vergangenen Jahres in die Tat umzusetzen – wie u.a. die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung oder das Pariser Abkommen der Klimakonferenz der Vereinten Nationen. Diese Felder umfassen die Würde, Sicherheit und nachhaltige Unterstützung der Menschen in Not sowie neue Partnerschaften und innovative Finanzinstrumente zur effizienteren Verwendung knapper Mittel.
Für drei dieser Felder können bargeldbasierte Transfers in der Not- und Übergangshilfe eine wichtige Rolle spielen: für den Respekt vor der Würde der Menschen in Not, für deren nachhaltige Unterstützung sowie als neues, effizientes Instrument. Diese Leistungen werden direkt an Menschen in Krisensituationen vergeben, umfassen Bargeldzahlungen oder Gutscheine und ersetzen zunehmend Sach- und Lebensmittelhilfen. Wichtige Entwicklungsakteure wie die Weltbank und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen möchten den humanitären Weltgipfel auch dazu nutzen, um in der internationalen Gemeinschaft für einen verstärkten Einsatz dieses Instruments zu werben.
Auch in der humanitären Hilfe des deutschen Auswärtigen Amtes und in der Übergangshilfe des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung werden bargeldbasierte Leistungen eingesetzt – prominent etwa in der Beschäftigungsinitiative für Flüchtlinge in den syrischen Nachbarländern. Insgesamt stellen sie aber einen sehr geringen Anteil von schätzungsweise sechs Prozent der weltweiten humanitären Hilfe dar. Allgemein reicht die Art der Leistungen von Transferzahlungen an Eltern im Gegenzug für den regelmäßigen Schulbesuch ihrer Kinder bis zu Zahlungen für kurzfristige Arbeitseinsätze oder auch Zahlungen ohne Konditionen. Auch können sie entweder als Bargeld frei verwendet oder als Gutscheine nur für vordefinierte Waren ausgegeben werden.
Positive Erfahrungen mit diesem Instrument wurden bereits in sehr unterschiedlichen Ländern gemacht, auch in fragilen Staaten. Damit Bargeld-Hilfen erfolgreich sein können, müssen einerseits Märkte vorhanden sein, auf denen die Menschen die Dinge, die sie benötigen, erstehen können. Andererseits muss gewährleistet sein, dass die Transfers sicher zugestellt werden können. Die Empfänger entscheiden selbst, wofür sie die Leistungen einsetzen, etwa für Nahrungsmittel, die Ausbildung ihrer Kinder oder Arztbesuche. Indem sie eigenständig Entscheidungen über Präferenzen treffen, nehmen sie ihr Leben stärker in die Hand als dies bei Sachleistungen der Fall ist. Gleichzeitig stärkt es sie kurz- und mittelfristig, da sie selbst festlegen, welchen Teil des Geldes sie unmittelbar ausgeben, welchen sie investieren und welchen sie sparen. Auch bei Kosten-Nutzen-Rechnungen schneidet Bargeld häufig besser ab als Nahrungsmittelhilfe. Gleichzeitig gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Bargeld regelmäßig und in höherem Maße für „falsche“ Zwecke wie etwa Alkohol ausgegeben würde als dies z.B. bei Lebensmitteln, die weiterverkauft werden können, der Fall ist.
Die Initiative für mehr bargeldbasierte Interventionen fügt sich ein in weitere Entwicklungen hin zu einem emanzipierteren Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe. Der konzeptionelle Rahmen, an dem sich die internationale Kooperation bis 2030 orientieren wird, sind die 2015 vereinbarten nachhaltigen Entwicklungsziele. Sie richten sich an alle Länder der Welt. Da alle Staatschefs Rechenschaft gegenüber der Weltöffentlichkeit ablegen müssen, wird die Grenze zwischen Gebern und Empfängern aufgeweicht. Es geht vielmehr um einen Austausch und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Der humanitäre Weltgipfel betont die Würde der Menschen in Not und lässt sie neben dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Staatschefs und anderen hochrangigen Vertretern sichtbar und hörbar bereits in der Plenardebatte zur Eröffnung zu Wort kommen. Auf Projektebene sind bargeldbasierte Ansätze eine Möglichkeit, die Selbstbestimmung der Menschen anzuerkennen.
Was also steht einem stärkeren Engagement für mehr bargeldbasierte Projekte und somit einem emanzipierteren Verständnis von Not- und Übergangshilfe entgegen? Es ist auch der Widerstand innerhalb von Geberinstitutionen: Der große Vorteil des Instruments – die Empfänger entscheiden selbst, was sie brauchen – bedeutet auch, dass durchführende Organisationen einen Teil der Kontrolle aufgeben, was mit ihrer Hilfe geschieht. Außerdem verschwimmen die Grenzen zwischen den Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit, wenn z.B. Geld, das für Ernährungssicherung gedacht war, für den Schulbesuch der Kinder verwendet wird. Die Geber sollten mehr Mut zeigen, den Empfängern eigene Entscheidungen zuzutrauen. Hoffen wir, dass die Teilnehmenden des humanitären Weltgipfels das Momentum nutzen, damit dieser Prozess weiter an Fahrt gewinnt.
Dieser Beitrag ist auch auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) erschienen.
ven, 20/05/2016 - 09:00
Bonn, 20.05.2016. Der 22. Mai steht jedes Jahr im Zeichen des Internationalen Tags der biologischen Vielfalt. Der rasante Verlust biologischer Vielfalt ist auf den Menschen zurückzuführen. Aber gerade Sozialwissenschaftler, die sich u.a. mit den Auswirkungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen auf die Umwelt auseinandersetzen, sind in der Biodiversitätsforschung unterrepräsentiert.
Klimawandel, die Zerstörung von Wäldern und wichtigen Lebensräumen, Verschmutzung und Übernutzung oder Wilderei tragen direkt zum Artenschwund bei. Indirekt üben noch andere Faktoren, Druck auf die Artenvielfalt aus. Zum Beispiel kann die steigende Nachfrage nach Fleisch nur durch die Gewinnung neuer Weideflächen und eine gesteigerte Produktion von Futtermitteln gedeckt werden. Natürliche Lebensräume und Biodiversitäts-Hotspots müssen weichen. Aber auch gut gemeinte Klimamaßnahmen, wie zum Beispiel der Anbau von Bioenergiepflanzen, können zum Verlust von Biodiversität beitragen, da sie große Landnutzungsänderungen erfordern.
Schätzungen zufolge verlieren wir bereits bis zu 2000 Arten pro Jahr. Und das ist nur eine grobe Schätzung, denn ein Großteil aller existierenden Arten wurde vermutlich noch gar nicht entdeckt. Insgesamt wissen wir immer noch wenig darüber, wie wir Biodiversität am besten schützen können und den politischen Akteuren mangelt es an Entscheidungshilfen.
2012 gründete die Staatengemeinschaft unter dem Dach der Vereinten Nationen daher die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, kurz IPBES. IPBES ist ein zwischenstaatliches Gremium zur wissenschaftlichen Politikberatung, das sich mit Biodiversität beschäftigt – vergleichbar mit dem Weltklimarat IPCC. IPBES soll als Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft unabhängige, glaubwürdige Informationen über den Zustand und die Entwicklung der Artenvielfalt, über die Ursachen des Verlustes und über mögliche Handlungsoptionen auswerten, um somit der Politik eine bessere Grundlage für informierte Entscheidungen zum Schutz der Artenvielfalt zu bieten.
124 Regierungen und 1000 Experten beteiligen sich an IPBES. Der erste große Bericht des Gremiums zur Artenvielfalt von Bestäubern wurde im Februar 2016 veröffentlicht. Er sorgte für Aufsehen und unterstreicht die Bedeutung der Artenvielfalt für das menschliche Leben: 40 Prozent der bestäubenden Insekten sind vom Aussterben bedroht. Obst, Gemüse, Samen, Nüsse und Öle, aber auch Kaffee und Kakao sind von diesen Bestäubern abhängig; insgesamt zwischen 235 und 577 Milliarden US-Dollar der globalen Nahrungsmittelproduktion.
Die Verbindungen zwischen Mensch und Artenvielfalt sind deutlich. Deshalb war die ursprüngliche Idee bei der Gründung von IPBES: Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen – Naturwissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Geisteswissenschaftler – sowie Vertreter indigener und lokaler Gemeinschaften sollten in diesem Gremium mitarbeiten. In der Realität sieht es anders aus. Schätzungen zufolge sind weniger als 10 Prozent der IPBES-Experten Sozialwissenschaftler. Wissenschaftler fordern aber eine Quote von mindestens 30 Prozent. Die ungleiche Verteilung spiegelt sich auch in der Biodiversitätsforschung insgesamt wider. Für Naturwissenschaftler stehen wesentlich mehr Forschungsgelder zur Verfügung, was wiederum den Pool der naturwissenschaftlichen Experten vergrößert.
Bislang werden 80 Prozent der Experten durch die Mitgliedsstaaten vorgeschlagen; 20 Prozent von Umwelt- und Wissenschaftsorganisationen. Es werden daher nur die Experten einbezogen, die bereits mit Regierungen zusammenarbeiten und als Biodiversitätsexperten anerkannt sind. Da die Terminologie der IPBES-Ausschreibungen sehr naturwissenschaftlich geprägt ist, fühlen sich bestimmte Wissenschaftsgruppen (z.B. Anthropologen oder Ethiker) nicht angesprochen. Doch das Gremium hat in seiner aktuellen Ausschreibung bereits umgesteuert. Über neue Netzwerke sollen auch Sozialwissenschaftler angesprochen und gewonnen werden. Letztlich liegt die Verantwortung dennoch wieder bei den Regierungen: Sie müssen die Experten nominieren.
Biodiversitätsforschung braucht Vielfalt. Um die Voraussetzungen für eine bessere Einbindung von Sozialwissenschaftlern zu gewährleisten, müssen dringend mehr Forschungsgelder für die sozialwissenschaftliche Dimension in der Biodiversitätsforschung bereitgestellt werden. Aber auch IPBES und die Mitgliedsstaaten müssen mehr Anstrengungen unternehmen, Experten zu mobilisieren und sorgfältig auszuwählen. IPBES hat den Anspruch, mit seinen Berichten und Bewertungen zukünftige Politik- und Forschungsagenden zu beeinflussen. Es wäre ein Zeichen, anzuerkennen, dass wir die globale Artenvielfalt nur schützen können, wenn wir auch die Vielfalt an Erfahrungen und wissenschaftlichen Methoden bei der Bearbeitung solch weitreichender Fragestellungen zusammen bringen.
Dieser Beitrag ist am 20.05.2016 auch auf den Seiten der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. erschienen. Sie können ihn hier lesen.
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