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Stiftung Wissenschaft und Politik
Updated: 1 week 6 days ago

Peruanische Irrwege: Die Politik versagt – weist die Zivilgesellschaft den Weg?

Thu, 19/11/2020 - 00:00

Nur fünf Tage dauerte die Amtszeit des peruanischen Interimspräsidenten Manuel Merino, bis er auf Druck der protestierenden Bevölkerung nach einem völlig überzogenen Polizeieinsatz mit vielen Verletzten, Verschwundenen und Toten seinen Rücktritt erklärte. 13 seiner 18 Minister hatten bereits vorher ihr Amt zurückgegeben. Nach der fragwürdigen Absetzung des in der Bevölkerung beliebten Präsidenten Martín Vizcarra wegen »permanenter moralischer Unfähigkeit« durch das Parlament vertieft sich die Verfassungskrise im Andenstaat, die zugleich auch eine politische Krise ist.

Systemische Instabilität

Seit 1985 sind oder waren alle peruanischen Präsidenten völlig unterschiedlicher politischer Orientierung wegen Korruptionsvorwürfen entweder im Gefängnis (Alberto Fujimori und Ollanta Humala), in Auslieferungshaft (Alejandro Toledo) oder stehen unter Hausarrest (Pedro Pablo Kuczynski). Ex-Präsident Alan Garcia hatte sich erschossen, bevor die Polizei ihn festnehmen konnte. Die Vorwürfe wegen Korruption erreichten auch den im Jahre 2016 gewählten Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski; er musste nach zwei Jahren vom Amt zurückgetreten, um seiner Amtsenthebung zuvorzukommen. Verfassungsgemäß wurde am 23. März 2018 daraufhin sein Vize-Präsident Martín Vizcarra als Staatspräsident vereidigt. Schon bald darauf eskalierte dessen Auseinandersetzung mit dem Kongress über die Wahl von Richtern für das peruanische Verfassungsgericht; ein Konflikt, der bis heute anhält – geht es dabei doch um die Frage, wie mit den Korruptionsverfahren gegen 68 der 130 Parlamentarier und ihre teilweise einsitzenden Parteivorsitzenden umgegangen werden soll. Sie hoffen im Zuge der Wahl von Gefolgsleuten in das Oberste Gericht auf Begnadigungsverfahren oder die Niederschlagung der Klagen. Vizcarra löste daraufhin im September 2019 das Parlament auf und rief Neuwahlen aus. Im Gegenzug suspendierte das Parlament den Präsidenten vorläufig und setzte die zweite Vize-Präsidentin ins Amt ein, die jedoch schon nach einem Tag von ihrem Amt zurücktrat. Schlieβlich einigte man sich auf die Durchführung von Parlamentsneuwahlen am 20. Januar 2020, die mit zehn Parteien im Kongress eine weitere politische Zersplitterung und keine den Präsidenten stützende Mehrheit erbrachte. Nach der Absetzung Vizcarras am 9. November 2020 übernahm entsprechend Art. 115 der Verfassung Parlamentspräsident Manuel Merino das Amt, da keine vom Volk gewählten Vize-Präsidenten mehr verfügbar waren. Das Gericht muss nun darüber urteilen, ob die Amtsenthebung Vizcarras verfassungsgemäß war. Eine Wiedereinsetzung des ehemaligen Präsidenten ist eher unwahrscheinlich. Unterdessen hat der Kongress mit Francisco Sagasti einen neuen Parlamentspräsidenten gekürt, der jetzt ins Präsidentenamt nachrückt. Er soll als Übergangspräsident die Zeit bis zum Amtsantritt eines am 11. April 2021 vom Volk  zu wählenden Präsidenten ausfüllen. Indes ist auch seine Unterstützung im Parlament sehr fragil, bei Kontroversen könnte seine Regierung schnell in Schwierigkeiten geraten. Anders als Vizcarra müsste sie den Rückhalt der Bevölkerung aber wohl erst durch ihr Handeln und die Auswahl der Regierungsmitglieder gewinnen.

Die aktuelle Krise betrifft nicht nur das schwierige Verhältnis zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Auch das Militär hat sich letztlich dem – nun zurückgetretenen – Interims-Präsident Merino verweigert: Zu einem Termin mit ihm erschienen die Generäle nicht und erklärten, ihre Rolle bestehe in der Verteidigung der Rechte des Volkes. Damit verschieben sich die Gewichte im Lande immer mehr – Perus Demokratie steht vor einer umfassenden Bewährungsprobe.

Massenproteste in Corona-Zeiten

Gemessen an der Bevölkerungszahl ist die Sterblichkeit wegen Covid-19 weltweit in keinem Flächenstaat so hoch wie in Peru. 89,99 Tote je 100.000 Einwohner verzeichnete das südamerikanische Land zuletzt, das trotz massiver Ausgangssperren bislang die Infektionszahlen nur in geringem Umfang drücken konnte. In dieser Konstellation hat sich eine Mobilisierungswelle insbesondere junger Peruanerinnen und Peruaner formiert, die sich gegen die Interessen der Parlamentsmehrheit artikuliert und für die von Ex-Präsident Vizcarra eingeleiteten Reformen kämpft. Dabei geht es um eine stärkere Kontrolle privater »Universitäten«, die weniger dem Bildungsbedarf als geschäftlichen Interessen dienen. Ebenso bleibt die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz auf der Tagesordnung. Zudem muss der weitere wirtschaftliche Niedergang des Landes gebremst und Vertrauen in die Wirtschaftskompetenz der Regierung hergestellt werden.

Die Kluft zwischen Parlament und Volk, Gesellschaft und Staat wird immer gröβer. Wie auch im Nachbarland Chile wähnt sich die politische Elite am Schalthebel uneingeschränkter Macht und vermag nicht zu erkennen, dass ihr das Heft des Handelns entgleitet. Peru steht nun vor der Frage, wie jenseits der akuten Krise auch die strukturelle Schwäche von Politik, politischen Parteien und Rechtsstaat überwunden werden kann. Die Vorwürfe von Korruption an Parlament und Regierung wiegen schwer, nun treten noch Ermittlungen wegen Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz und Verletzung der Menschenrechte hinzu.

Der Widerstand auf der Straβe war zunächst erfolgreich, Merino konnte sich nicht im Amt halten. Dazu hat das Beispiel der jungen Generation im Nachbarland Chile viel beigetragen, an dem sich die Bewegung orientiert und daher auch eine verfassungsgebende Versammlung nach chilenischem Vorbild fordert. Noch ist es angesichts der Überlastung des Gesundheitssystems in Peru sehr schwierig, solche Mobilisierungen dauerhaft zu organisieren, aber die Ränkespiele und Personalrochaden im Parlament stehen nunmehr unter starker zivilgesellschaftlicher Beobachtung. Das kann nur von Vorteil sein, wenn es darum geht, die Machtverschiebungen zwischen den verschiedenen Gewalten zu kontrollieren und das politische System neu zu begründen. Dies steht seit vielen Jahren aus und scheitert immer wieder an fragwürdigen kurzfristigen Koalitionen verschiedener Parteifaktionen im Parlament.

Boris Johnson unter Druck: Was bedeutet der Wahlsieg Bidens für den Brexit?

Wed, 18/11/2020 - 00:00

Die Zeit für einen erfolgreichen Abschluss der Brexit-Handelsverhandlungen wird immer knapper. Weniger als 50 Tage verbleiben noch, bis das Vereinigte Königreich am 31. Dezember 2020 die Übergangsphase und damit den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlässt. Ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich müsste bis dahin nicht nur ausgehandelt sein, sondern auch noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments erhalten. Doch die bisher kürzeste Dauer für ein solches parlamentarisches Verfahren betrug 59 Tage – und selbst da lag der zu prüfende Vertragstext bereits seit Monaten vor.

Mittlerweile nähern sich die Verhandlungsführer im Hinblick auf einen gemeinsamen Rechtstext an. Die zentralen politischen Streitpunkte aber sind nach wie vor ungelöst: Regeln für faire Wettbewerbsbedingungen – das sogenannte Level Playing Field –, die Kontrolle staatlicher Beihilfen, Fischerei und Mechanismen zur Durchsetzung des Abkommens. Hinzukommt das britische Vorhaben, seine Verpflichtungen aus dem Austrittsabkommen in Bezug auf Nordirland mit einem Gesetz zum britischen Binnenmarkt zu brechen – und damit eben jene zentrale Regelung auszuhebeln, auf die Boris Johnson sich 2019 eingelassen hatte, um die Grenze zwischen Irland und Nordirland nach dem Brexit offen halten zu können. In den nächsten Tagen wird der britische Premier Johnson also die Entscheidungen treffen müssen, die die britische Regierung so lange vor sich hergeschoben hat: Ist das Vereinigte Königreich für einen Handelsvertrag mit seinem bei weitem wichtigsten Handelspartner EU zu regulativen Einschränkungen bereit? Oder versucht es, die absolute Handlungsfreiheit zu erlangen und nimmt dafür mit dem No-Deal-Brexit noch größere wirtschaftliche Konsequenzen in Kauf?

Joe Biden verändert die Brexit-Gleichung politisch

In dieser kritischen Lage betritt nun mit dem designierten US-Präsidenten Joe Biden ein bekennender Multilateralist die Weltbühne. Auch in Bezug auf den Brexit könnte er sich nicht deutlicher vom jetzigen Amtsinhaber Donald Trump unterscheiden. Während Trump den Brexit unterstützt und dem Vereinigten Königreich ein Handelsabkommen – unter der Maßgabe »America-First!«  – in Aussicht stellte, hat Biden den britischen EU-Ausstieg kritisiert. Die irische Diplomatie verzeichnete als großen Erfolg, dass der irisch-stämmige Joe Biden mitten im US-Wahlkampf mit Blick auf das Gesetz zum britischen Binnenmarkt öffentlich klarstellte, dass es mit ihm kein Freihandelsabkommen zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich geben werde, sollte London das Karfreitagsabkommen und den Frieden in Nordirland gefährden. Seine große Unterstützung für den nordirischen Friedensprozess unterstrich Biden auch in seinem ersten Telefonat als designierter Präsident mit Boris Johnson. Obendrein bezog er neben Johnson, Macron und Merkel den irischen Premier Micheál Martin in seine europäische »Antrittstelefonate« ein.

Die Aussicht auf einen Präsidenten Biden im Weißen Haus ändert damit auch die politische Kalkulation in der Abwägung zwischen Deal- und No-Deal-Brexit für Boris Johnson. Denn ihm muss klar sein, dass er nunmehr den Bruch mit den Europäern und den Vereinigten Staaten in Kauf nimmt, wenn die Verhandlungen mit der EU scheitern und die Briten mit der Verabschiedung des Binnenmarktgesetzes explizit gegen seine Verpflichtungen zu Nordirland verstoßen. Statt »Global Britain« würde das Vereinigte Königreich damit gleich beide Säulen seiner Außenpolitik gefährden und sich selbst isolieren.

Wirtschaftlich ist Bidens Intervention weniger relevant

Gleichzeitig bleibt zu betonen, dass der ungleich größere Schaden nach dem No-Deal-Brexit für das Vereinigte Königreich im vollständigen Bruch mit der EU läge. Dies zeigt sich vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Bei einem No-Deal-Brexit verlöre das Vereinigte Königreich den bisher sehr guten Zugang zu seinem wichtigsten Absatzmarkt: Rund 46 Prozent der britischen Warenexporte gingen 2019 in die EU. In die USA gingen im selben Zeitraum 16,5 Prozent der Warenexporte. Käme es zu einem britisch-amerikanischen Freihandelsabkommen, rechnet selbst die britische Regierung nur mit einem Plus von maximal 0,36 Prozent des BIP. Bei einem No-Deal-Brexit hingegen rechnet sie langfristig mit Einbußen von 7,6 Prozent, bei einem Brexit mit Abkommen geht sie von minus 4,9 Prozent aus. Der Warnung Joe Bidens zum Trotz hätte ein Handelsabkommen mit den USA also nicht das Potential, die Verluste des Brexits mit oder ohne Abkommen wettzumachen.

Entscheidend bleiben die innenpolitischen Abwägungen

Rationale Argumente für eine Einigung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich gibt es genug: die hohen wirtschaftlichen Kosten, die zweite Covid-19-Welle mit korrespondierenden Lockdowns, die steigende Zustimmung in Schottland für die Unabhängigkeit und nun die Warnungen des designierten US-Präsidenten.

Und trotz allem bleiben innenpolitische Abwägungen für Boris Johnson entscheidend. Diese gestalten sich schwierig: Mit dem zweiten Lockdown ist Johnson innenpolitisch unter Druck geraten. Mitglieder in der Konservativen Partei äußern öffentlich Zweifel an seinen Führungsfähigkeiten, seinen Chefberater Dominic Cummings hat Johnson gerade vor die Tür gesetzt. Der harte Brexit-Flügel in seiner Partei drängt ihn dazu, an der harten Verhandlungsposition festzuhalten. Für einen Kompromiss mit der EU müsste Johnson sich erstmals diesen Brexiteers entgegenstellen – dabei ist es gerade der harte Brexit-Kurs, der die Tories zusammenhält. Doch während er bei einem No-Deal-Brexit alle negativen Konsequenzen auf die EU schieben könnte, müsste Johnson bei einer Einigung mit der EU die Verantwortung für die Brexit-Folgen übernehmen. Denn ein dünnes Handelsabkommen wäre zwar weniger katastrophal für die britische Wirtschaft als ein No-Deal-Brexit. Der Unterschied zum bisherigen vollen Binnenmarktzugang wäre aber immer noch groß.

Dieser Text ist auch bei euractiv.de erschienen.

The Difficult Normalisation of Relations between Arab Countries and Bashar al‑Assad

Tue, 17/11/2020 - 00:00

The Syrian civil war seems to have been decided in favour of the regime of President Bashar al-Assad. Meanwhile, the process and the debate about the normalisation of relations between Arab states and Syria, as well as the country’s possible readmis­sion into the Arab League (AL), have already begun. A return to normality would help strengthen the legitimacy of the Syrian regime. This, however, would run counter to efforts by Germany, the European Union (EU) and the USA, who seek to force the Syrian regime by means of sanctions and isolation to negotiate a political solution to the con­flict. In addition to Syria’s contentious return to the AL, the articles examined here discuss the motives of those Arab countries wishing to normalise relations with Damascus, and the influence that external actors and the Covid pandemic exert on this process.

Russia’s Stake in the Nagorno-Karabakh War: Accident or Design?

Thu, 12/11/2020 - 18:00

As the world discusses the sudden cessation of fighting in Nagorno-Karabakh and the deployment of Russian “peacekeepers”, one critically important question is overlooked. Why did Russia not discourage Azerbaijan’s military offensive? A powerful security rationale implies a strong Russian interest in deterring a war that might change the regional status quo. Preserving a favorable status quo – by strategic logic – is the central security interest of a regional hegemon like Russia. The war has instead weakened Armenian control over Nagorno-Karabakh, which had endured for over two decades only because it served Russia’s interests. The risk of spill-over across the volatile Caucasus presents another security threat to Russia. The war has altered the balance of interests in the region – unfavorably to Russia – creating openings for regional interventions by Turkey, the United States, and others. So what objectives are worth the Kremlin taking such risks?

Indirect pressure and controlled chaos

Russia’s ultimate goal in the post-Soviet space is to politically reintegrate its former satellites into an interstate union. Yet its attempts to achieve this over the past three decades have produced only failures. The most recent experience with Belarus suggests it might be possible where an authoritarian leadership feels extremely threatened. Heightening insecurity in the population has historically been another favorable condition for political integration. Moscow’s ability to put pressure on Armenia’s prime minister Nikol Pashinyan has been limited. A recent report reveals that the Kremlin views Pashinyan as a “Soros appointee” and accuses him of “promoting pro-American politicians”. The Kremlin’s Armenia desk apparently receives its information from agents representing actors Pashinyan excluded from power. They discreetly sold Kremlin the idea that Pashinyan needs to be replaced by a more loyal politician.

The war and the Azeri territorial gains in and around Nagorno-Karabakh create a context favorable to Russia. First, it allows blame for defeats to be projecting onto Armenia’s present prime minister. Russian media have broadcast statements from Russian political and security experts asserting that Pashinyan is responsible for the war losses and the restrained Russian reaction on account of his unfriendly attitude towards Russia and his favoritism towards the West. They also promoted claims concerning mounting domestic opposition. These signals suggest that Russia’s first goal is to bring to power a more loyal Armenian prime minister. A second goal is to create insecurity among the population, propagating the idea that Armenia cannot survive as a state without Russia. To produce the necessary feeling of threat, Russia allowed Azerbaijan to recover all its territories around Nagorno-Karabakh, making the enclave’s future defense extremely difficult. The defeat by Azerbaijan also underlines the military vulnerability of Armenia itself. Russia will exploit this sense of vulnerability to persuade Armenia’s population and leadership to agree to closer integration with Russia, likely similar to the Union State of Russia and Belarus.

On the other hand, Russia did immense favors to Azerbaijan’s President Ilham Aliyev in choosing not to employ its electronic warfare capabilities against Azeri drones. This was key to Baku’s military success and clearly communicates to the Azeri audience that preserving their war gains is conditional on good relations with Moscow. This will not create the level of vulnerability found in Armenia, but it will start building a dependency.

Ankara’s open involvement in the war offers Russia opportunities to curtail Turkey’s growing regional ambitions or raise their costs. Armenia and the West view Turkey as a party to the conflict and will resist Turkish participation in internationally accepted peace negotiations and peacekeeping mechanisms. This could create an opportunity for Russia to later push for a UN Security Council authorization for its CSTO “peacekeeping forces”. That would be a historic first for Russia and another strategic gain.

Not an accidental escalation

It is legitimate to ask whether Russia acted opportunistically in response to war, or actively contributed to the emergence of the conflict. It is highly unlikely that Russia was unaware of Azerbaijan’s intentions. Russia has extensive intelligence-gathering capacities in the South Caucasus. Its ability to monitor military and civilian communications, movements of troops and materiel, and preparations for offensive operations in the region is pretty much unquestioned. Moreover, the Azeri offensive started on 27 September, one day after Russia’s Kavkaz-2020 strategic exercise ended. The Armenian military participated in various phases of the exercise both in Russia and in Armenia. This suggests great confidence on the Azeri side, in starting the offensive when considerable Russian forces were still deployed in the region. It is highly unlikely that Baku failed to consult Moscow beforehand, given the scale, intensity and far-reaching objectives of its military operation.

Any attempt to change the status quo in the post-Soviet space undermines Russia’s credibility and reputation. Russia has been quick to punish threats to the status quo, witness Georgia in 2008 and Ukraine in 2014. It also threatened Moldova after 2014 by increasing its military exercises in Transnistria from a few dozen to a few hundred per year. Russia reacted unexpectedly calmly to Baku’s invasion. Most surprisingly, it repeatedly rejected Yerevan’s request for military assistance on procedural grounds. Moscow’s ability to stop the Azeri offensive immediately after the fall of Shushi revealed its control. Russia would only have allowed the change of status quo if its expected gains exceeded the related risks and costs. This occurred, while the Kremlin used Baku to pull its chestnuts out of the fire.

Verletzliche Staaten von Amerika

Thu, 12/11/2020 - 00:10

Die USA haben die Herausforderung der Covid-19-Pandemie im ersten Jahr weniger gut bewältigt als andere hochentwickelte Staaten, obwohl das Land in der Forschung führend ist und sein Umgang mit Krisen bislang als vorbildlich galt.

Ein Hindernis bei der Pandemiebekämpfung bildeten die Lücken in der Gesundheitsversorgung und die massiven sozialen Unterschiede des Landes. Besonders die große Zahl Nichtversicherter, hohe Behandlungskosten und eine ungleiche Ausstattung der Krankenhäuser erschwerten es, Corona durch effektive Maßnahmen einzudämmen.

Durch großzügige Rettungspakete konnte zunächst verhindert werden, dass die Armut im Land wuchs. Aber die Hilfen sind inzwischen ausgelaufen, und das niedrige Niveau sozialer Absicherung erhöht die wirtschaftlichen Kosten der Pandemie – mit drastischen Folgen für die Wohnungs- und Ernährungssicherheit einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen.

Gravierende Konsequenzen hatte die gesellschaftliche und parteipolitische Polarisierung in den USA. Sie verhinderte eine sachliche Diskussion, untergrub die Zusammenarbeit im Kongress wie auch zwischen Bundesregierung und Einzelstaaten und sorgte dafür, dass die Schutzmaßnahmen politisiert wurden.

Das Führungsversagen von Präsident Donald Trump hat erheblich zur schlechten Bilanz der USA im Umgang mit Covid-19 beigetragen. Besonders sein geringes Vertrauen in Wissenschaft, ein ideologisch motivierter Verwaltungsabbau sowie Trumps charakterliche Schwächen standen konstruktiven Lösungsansätzen im Weg.

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie werden über Jahre als Hypothek auf der US-Demokratie lasten. Auch unter Joe Bidens Präsidentschaft werden die Vereinigten Staaten vorrangig mit sich selbst beschäftigt sein, während ihre strategischen Rivalen versuchen dürften, vom Ansehensverlust des amerikanischen Gesellschaftsmodells zu profitieren.

Fading Hopes: Ethiopia on the Brink?

Thu, 12/11/2020 - 00:10
Great hopes in Abiy Ahmed

Two years ago scenes of jubilation broke out across northern Ethiopia. The border between Ethiopia and its former adversary Eritrea was open again after 18 years. Siblings were reunited, grandparents saw grandchildren for the first time, phone links were suddenly restored. A new era appeared to have dawned in the Horn of Africa after decades characterised by bitter civil wars, famine and ideological rigidity. The youth, who represent more than half the population, placed especially high expectations in the young new prime minister. A better life with work and dignity appeared possible. Abiy Ahmed had been a surprise candidate from the party of the largest ethnic group – the Oromo – which had never headed the government. He wanted to break with the rigid developmental state concept of the previous government, which had been dominated by the Tigray People’s Liberation Front (TPLF). Abiy’s guiding principles of democracy, privatisation and love appeared outlandish. And his peace settlement with neighbouring Eritrea was a breakthrough that thrilled the country and the region and won him the Nobel Peace Prize.

Escalating power struggle

Today the borders between Eritrea and Ethiopia are firmly closed again. Hundreds of Ethiopians have died in ethnic pogroms in recent months. The killing of a prominent singer sparked weeks of protests, the government blocked the internet for months, thousands of opposition supporters have been detained. The youth, whose protests propelled Abiy to power, have turned against him, their hopes disappointed. The tinder ignited in early November: Fighting broke out between the TPLF and the federal armed forces in the northern state of Tigray. Internet and telephone connections were cut and flights suspended. The federal government imposed a state of emergency on the region, declared the TPLF a terrorist organisation and appointed a parallel government for the TPLF-run state. Federal armed forces were deployed to the state border from other parts of the country and from Somalia. Both sides now claim to have the situation under control: Prime Minister Abiy reports successful strikes on TPLF air defences, the TPLF claims to be militarily unscathed.

The escalation began after Abiy indefinitely postponed the first free national elections, which had been scheduled for May 2020, citing the Covid-19 pandemic. A few months earlier he had dissolved the previous ruling party and founded the Prosperity Party. One effect of these moves was to reduce the political influence of the TPLF and enhance the position of previously neglected states like Somali and Afar. The TPLF responded by questioning the government’s legitimacy; it regards Abiy as an opponent of ethnic federalism. In early September the TPLF gained an absolute majority in elections to Tigray’s state parliament – which were deemed illegal by the federal government. After the TPLF’s long and harsh rule many Ethiopians still bear resentment against it; mass support for the Front is therefore unlikely.

This hardening of fronts reflects the weakness of Abiy’s government, which has failed to rein in ethnonationalist divisions and prevent ethnic pogroms. The prime minister had assumed that completion of the gigantic Grand Ethiopian Renaissance Dam on the Blue Nile would generate enthusiasm and support across the entire population and function as a national unification project. That hope appears to have been dashed.

A situation where conflict continues to escalate in Tigray and the country spirals into civil war could spell the end for Abiy’s transition. He risks losing the army’s loyalty and his control over parts of the country. A defeated TPLF could turn into an armed opposition, within or outside the country’s borders. There is also a risk that Eritrean President Isayas Afewerki will sense an opportunity to expand his country’s regional role again by intervening on Ethiopia’s side. This would make Ethiopia weaker and dependent.

A cease-fire will not be enough

Internal collapse would have repercussions for Ethiopia itself – as the region’s most populous country – and for the entire Horn of Africa. A regional war would endanger the fragile transition in Sudan, while national fragmentation would directly impact the talks on a Nile Dam agreement and the African Union Mission in Somalia, in which Ethiopia plays a decisive role.

The first step towards conflict resolution would be for the TPLF and the federal government to recognise each other as legitimate actors. Talks could then be conducted by the region’s Intergovernmental Authority on Development (IGAD) under Sudanese leadership. The African Union, Europe, the UN and other partners should agree a shared line on deescalation. Saudi Arabia and the United Arab Emirates, as the mediators of the Ethiopian-Eritrean peace agreement, could also play an important role as guarantors.

But a cease-fire can only be the start. Dissatisfaction is growing in all of Ethiopia’s regions, separatist tendencies are proliferating, the system of ethnic federalism is on the verge of violent collapse. If these dangers are to be avoided it is vital that the security forces prevent ethnic pogroms. And if he is to retain popular backing the prime minister must guarantee due process for political detainees. Finally, if any hope of a new start, democratic change and devolution of power is to survive, a comprehensive national dialogue will be vital.

This text was also published at fairobserver.com.

Grenzschutz, Migration und Asyl

Thu, 12/11/2020 - 00:00

In dieser Studie wird der Konflikt innerhalb der Europäischen Union um Grenzschutz, Migration und Asyl als Auseinandersetzung über Zuständig­keiten zwischen der Unionsebene und den Mitgliedstaaten betrachtet. Ausgangspunkt dafür ist, dass im Zuge der europäischen Integration die meisten Politikfelder heute in geteilter Zuständigkeit liegen.

Diese Verflechtung des EU-Mehrebenensystems hat zur Entstehung der Flüchtlingskrise vom Herbst 2015 beigetragen. Das liegt daran, dass der bislang bewährte Weg einer weiteren Aufteilung von Zuständigkeiten kaum noch in Frage kommt und deshalb auf beiden Entscheidungs­ebenen immer häufiger die Kompetenzfrage gestellt wird.

Die Unionsebene hat schon vor der Flüchtlingskrise in allen drei hier analysierten Politikbereichen Initia­tiven für eine Entflechtung ergriffen. Dabei nahm sie stets eine Erweiterung oder gar Übertragung von Zuständigkeiten zu ihren Gunsten in den Blick. Allerdings blieben die Erfolge bescheiden, weil sämtliche Groß­projekte an fehlender Zustimmung der nationalen und der regionalen Ebene scheiterten.

Bis heute lehnen die Mitgliedstaaten Vorschläge für eine weitere Kom­petenzübertragung ab, weil sie Steuerungsverluste und unkalkulierbare Folgewirkungen für ihre Sozialsysteme befürchten. Seit Herbst 2015 grei­fen sie auf Maßnahmen zur Grenzsicherung zurück, die vom Schengen-Vertrag gedeckt sind. Brüssel antwortete 2016 per Verordnung mit einer Vertragsreform, die der Unionsebene zwar einige Mitspracherechte gab, jedoch für neue Spannungen sorgt.

Um das wachsende Konfliktpotential zu entschärfen, empfiehlt sich statt Kompetenzübertragung oder Rückverlagerung eine dritte Option, nämlich die Entkoppelung geteilter Zuständigkeiten. Danach müssen sich Organe und Agenturen der EU an die geltenden Verträge halten und auf neue Kontrollrechte verzichten, die ihre Kompetenzen überschreiten würden. Ihre Unterstützungsleistungen sollten sich darauf konzentrieren, die zwischenstaatliche Zusammen­arbeit zu stärken.

Türkisch-französischer Kulturkonflikt: Europa könnte sich gegen die Türkei verbünden

Thu, 12/11/2020 - 00:00

Frankreich und die Türkei stehen sich in geopolitischen Konflikten auf drei Kontinenten gegenüber. Jetzt hat ein islamistischer Anschlag auf französischem Boden einen Kulturkonflikt zwischen Paris und Ankara entfacht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezichtigte den französischen Präsidenten Emmanuel Macron der Islamophobie und rief zum Boykott französischer Produkte auf. Zunächst scheint es eine Krise von weit geringerer Tragweite als die harten geopolitischen Konflikte zwischen den beiden Staaten zu sein.

In Libyen tritt Paris Ankaras Militärintervention auf Seiten der von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung in Tripolis entgegen, die das Machtgleichgewicht zuungunsten der in Bengasi stationierten Streitkräfte von General Chalifa Haftar verschiebt. Für Aufsehen sorgte ein Vorfall, bei dem ein türkisches Kriegsschiff sein Feuerleitradar auf eine französische Fregatte richtete, um es von der Kontrolle eines Frachtschiffs abzuhalten, das mutmaßlich Waffen nach Libyen schmuggelte. Im östlichen Mittelmeerraum ist Frankreich eine der führenden europäischen Stimmen, die die türkische Suche nach Öl und Gas in den umstrittenen Gewässern kritisiert. In Syrien hat sich Frankreich gegen türkische Angriffe auf die von Kurden geführten Rebellen positioniert, die Präsident Macron kürzlich als Frankreichs »Partner gegen den islamischen Dschihadismus« bezeichnete. Und letztlich versucht Frankreich, wo eine beträchtliche Zahl der armenischen Minderheit lebt, als einer der Ko-Vorsitzenden der Minsk-Gruppe der OSZE, der diplomatischen Kampagne Ankaras gegen Armenien im Zusammenhang mit dem Krieg um Berg-Karabach entgegenzuwirken.

Bisher hat Ankara aus all diesen Krisen nur wenig politischen Schaden davongetragen. Paris ist es nicht gelungen, seine europäischen und westlichen Partner in einem koordinierten Vorgehen gegen Ankara zu vereinen. Die europäischen Länder sind in diesen Fragen nicht einer Meinung mit Frankreich und auch weniger von den Problemen betroffen.

Die neue Krise könnte sich als folgenschwerer erweisen

Präsident Erdoğan scheint sich der Tragweite der Krise nicht bewusst zu sein. Die jüngsten Vorfälle kultureller und symbolischer Streitigkeiten könnten sich aus drei Gründen als folgenschwerer für die Türkei erweisen als die harten geopolitischen Konflikte. Erstens hat der Streit über den Islam unmittelbare und spürbare Auswirkungen auf die französische Innenpolitik. Die Rechtsextremen, die in Umfragen nur knapp hinter Macron liegen, profitieren von jeglichen Spannungen mit der muslimischen Minderheit des Landes. Paris betrachtet Erdoğans Äußerungen als ernsthafte Einmischung in Frankreichs innere Angelegenheiten.

Zweitens greift die Kampagne von Erdoğan vordergründig Frankreich heraus, zielt aber in Wirklichkeit auch auf andere europäische Länder ab. Spannungen im Zusammenhang mit muslimischen Minderheiten sind nicht nur ein französisches Problem. Sie betreffen so ziemlich jedes westeuropäische Land – unabhängig von der tatsächlichen Größe seiner muslimischen Bevölkerung. Ein Aufbauschen des Problems wirkt sich daher in all diesen Ländern unmittelbar auf die Innenpolitik aus und beschert den extremen Rechten wahrscheinlich Zulauf. Die Ankündigungen des französischen Innenministers Gérald Darmanin, hart gegen islamische Nichtregierungsorganisationen und potenziellen Gefährder durchzugreifen, sollen diesen verhindern. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob diese Strategie aufgeht.

Drittens hat diese Krise auch eine bedeutende sicherheitspolitische Dimension. Die von Erdoğans verstärkte Entrüstung der Muslime könnte eine politische Atmosphäre schaffen, die gewaltbereite Extremisten zu Anschlägen anspornt. In Bezug auf Terroranschläge in Städten betrifft diese sicherheitspolitische Dimension alle westeuropäischen Länder, von Spanien über Schweden und Deutschland bis hin zum Vereinigten Königreich. Der jüngste Anschlag in Österreich, zu dem sich der »Islamische Staat« bekannt hat, zeigt, wie unmittelbar diese Gefahr ist. Anschläge dieser Art schaffen auch die Voraussetzungen für Gegenreaktionen seitens rechtsextremer Terroristen in verschiedenen europäischen Ländern.

Die Auswirkungen einer Atmosphäre, die dem islamistischen Extremismus Vorschub leistet, sind somit in ganz Europa zu spüren. Mehrere europäische Regierungen und das Europäische Parlament haben Paris in seinem »Krieg der Worte« mit Ankara bereits öffentlich unterstützt. Je mehr es Erdoğan gelingt, seine anti-französische Agenda voranzubringen, desto eher provoziert er damit eine stärkere Gegenreaktion der EU. Obwohl es keine Verbindung zwischen Erdoğan und den Anschlägen in Frankreich gibt, steht der türkische Präsident im Mittelpunkt der französischen Debatte. Als die ersten Nachrichten von den Anschlägen in Nizza eintrafen, diskutierten die Sender und Kommentatoren diese umgehend im Zusammenhang mit Erdoğans jüngsten Äußerungen über Frankreich.

In den Unterstützungsbekundungen der europäischen Staats- und Regierungschefs und zuletzt auch in der Erklärung des Europäischen Auswärtigen Dienst zeigte sich bereits die Einigkeit in der Frage des Islam in Europa und die uneingeschränkte Unterstützung für Frankreich gegen die Türkei. Wenn die Bemühungen um eine Koordinierung der europäischen Erklärungen und Maßnahmen die Türkei zum Rückzug zwingen, könnten die Erfahrungen in anderen Auseinandersetzungen mit der Türkei genutzt werden. Erdoğan ist nicht gerade bekannt dafür, dem Druck aus Europa nachzugeben, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass Ankara seine Kampagne gegen Frankreich angesichts einer koordinierten Reaktion aufgeben würde. Wenn diese Krise dazu beitragen kann, Europa gegen die Türkei zu vereinen, wäre das ein Novum in den vergangenen Jahrzehnten und könnte einen bedeutenden Präzedenzfall schaffen. Es könnte sogar dazu führen, dass Europa endlich einen politischen Hebel findet, wenn es konkrete diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen gegen Ankara erwägt.

Ankara und Paris: Was steckt hinter dem Streit über den Islam?

Wed, 11/11/2020 - 00:30

Seit 2019 verschlechtern sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Frankreich. Derzeit stehen sich beide Länder in den Konflikten in Syrien, Libyen, im östlichen Mittelmeer und um Bergkarabach gegenüber. In der EU spricht sich vor allem Frankreich für einen Konfrontationskurs gegenüber der Türkei aus. Die aktuelle Kontroverse zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Präsident Emmanuel Macron fügt dem Zerwürfnis eine kulturelle Dimension hinzu. Am 25. Oktober erklärte Erdoğan, Macron brauche wegen seiner Islamfeindlichkeit eine »psychologische Behandlung«. Gleichzeitig rief er zum Boykott französischer Produkte auf. Daraufhin zog Frankreich seinen Botschafter aus Ankara zurück. Während sich die EU-Staats- und -Regierungschefs mit Frankreich solidarisierten, beschuldigte Pakistans Premier Imran Khan Macron, den Islam anzugreifen. Auch in Kuwait, Jordanien und Katar wurden Rufe laut, sich einem Boykott anzuschließen. Zu großen Demonstrationen kam es in Bangladesch, Libyen, Syrien und im Irak. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hingegen unterstützten Macrons Aufruf, »die Ghettoisierung von Muslimen im Westen« zu verhindern, und warfen Erdoğan vor, religiösen Unfrieden zu stiften.

Ankaras Einfluss auf die Diaspora einschränken

Hintergrund von Erdoğans Kampagne gegen Macron ist der französische Gesetzentwurf zur Verhinderung eines »islamischen Separatismus«. Dieser sieht unter anderem vor, dass Imame in Frankreich ausgebildet werden und dass der ausländische Einfluss auf Frankreichs muslimische Bevölkerung verringert wird. Am 17. Februar kündigte Macron an, die 1977 eingerichteten Austauschprogramme, die neben der Türkei acht weiteren Ländern ermöglichten, Imame und Lehrer nach Frankreich zu entsenden, durch bilaterale Abkommen zu ersetzen. Er signalisierte seine Bereitschaft, ein solches Abkommen mit der Türkei zu schließen, erklärte aber, dass die Türkei das einzige Land sei, mit dem Frankreich noch keine Übereinkunft in Bezug auf eine höhere Transparenz bei Finanzhilfen für Moscheen habe erzielen können.

Die Ursprünge des Konflikts gehen aber weiter zurück. Das Interesse des türkischen Staates am Leben seiner im Ausland lebenden Staatsangehörigen bestand schon vor der Gründung der Regierungspartei AKP und wurde von den europäischen Ländern weitgehend toleriert. Seit den frühen 2010er-Jahren verfolgt Ankara jedoch einen aktiveren Ansatz gegenüber der türkischen Diaspora. So können sich türkische Staatsangehörige durch Stimmabgabe im Ausland an Wahlen in der Türkei beteiligen. Darüber hinaus richtet sich Ankara mit speziellen Angeboten in den Bereichen Bildung, Familie und Jugend an sie. Vermutlich hätte nichts davon zu ernsthaften Einwänden geführt, wenn es nicht gleichzeitig zwei weitere Entwicklungen gegeben hätte: die dramatische Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Türkei und Europa seit dem Putschversuch 2016 und den damit verbundenen Bemühungen Ankaras, die Opposition innerhalb der Diaspora zu unterdrücken, unter anderem mit Hilfe der Geheimdienste. Diese Bestrebungen wurden und werden in mehreren europäischen Ländern mit Argusaugen beobachtet.

Buhlen um sunnitische Unterstützung

Frankreichs Aktionen, Ankaras Diaspora-Politik einzuschränken, können die Reaktion der Türkei aber nur zum Teil erklären. Eine zentrale Rolle spielt Erdoğans Bestreben, die Türkei zum Führer der sunnitischen Welt zu machen. Diesem Zweck dienen Initiativen wie die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee, die er als Vorbote für die Befreiung der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem darstellt; seine Rhetorik bezüglich Islamophobie in Europa; die Schaffung eines transnationalen muslimischen Raumes unter Einbeziehung von bekannten Intellektuellen, Meinungsmachern und Gelehrten sowie nicht zuletzt auch eine kulturelle Beeinflussung mit Hilfe türkischer Fernsehserien. Triebfeder dieser Bemühungen, die in der muslimischen Welt mit gemischten Gefühlen gesehen werden, ist neben dem regionalen Führungsanspruch Ankaras die Rivalität mit den VAE (und Saudi-Arabien).

Die türkische Unterstützung für die Muslimbruderschaft während und nach dem Arabischen Frühling bewerten einige unter anderem aus ideologischen und pragmatischen Gründen positiv. Andere meinen, dass die Türkei damit einen politischen Islam verfechte und Radikalisierung riskiere. Die Rolle der Türkei als Hauptaufnahmeland syrischer Flüchtlinge ist weithin anerkannt. Ihre unverhohlenen Fehden mit europäischen Staats- und Regierungschefs sowie kritischen Anmerkungen zur kolonialen und imperialistischen Vergangenheit Europas finden Zuspruch bei Muslimen in aller Welt, weil sie die hier vorherrschenden Meinungen widerspiegeln. Das Streben der Türkei nach einer sunnitischen Führungsrolle geht mit ihren Behauptungen einher, der westlichen Vormachtstellung entgegenzuwirken und die Rechte derjenigen zu verteidigen, die davon ausgegrenzt und unterdrückt werden.

Damit begründet Ankara auch den Streit mit Frankreich über den Islam. Die mehrfache und detaillierte Berichterstattung über Macrons Kommentare zum Islam in den türkischen Medien steht in bezeichnendem Gegensatz dazu, dass dort kaum etwas über die Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty zu lesen ist. Die zunehmende Militarisierung der türkischen Außenpolitik, die Eingriffe der Türkei in die türkische Diaspora und ihre identitäre Logik fallen mit ihrer zunehmenden Isolation auf der internationalen Bühne zusammen. In diesem Zusammenhang sollte der Streit mit Frankreich auch als ein opportunistischer Schritt verstanden werden, um das Ansehen der Türkei unter den Muslimen zu stärken und gleichzeitig die gegnerischen arabischen Regierungen wie die der VAE zu schwächen.

Europa sollte Ruhe bewahren

Der Kulturkrieg zwischen der Türkei und Frankreich ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verbergen sich die geopolitische Rivalität mit Frankreich und den VAE sowie die Instrumentalisierung des Islam, um die eigenen Ziele zu erreichen. Die Türkei zögert nicht, in diesem komplexen Wettstreit mit mehreren Akteuren zu destabilisierenden Taktiken zu greifen – sei es in Form von »Hard Power«, was in der zunehmenden Militarisierung ihrer Außenpolitik sichtbar wird, oder rhetorisch wie im Streit mit Paris.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen Ankaras Rhetorik über die Bekämpfung der Islamophobie etwas entgegensetzen. Als Erstes sollten sie deutlich machen, dass sie die Motive hinter der türkischen Rhetorik verstehen. Und zum Zweiten sollten sie auf die Forderungen ihrer muslimischen Bevölkerungen reagieren. Angesichts der Tatsache, dass sowohl Islamophobie als auch islamistischer Extremismus in europäischen Ländern Realität sind, müssen die führenden Politikerinnen und Politiker Abstand nehmen von moralisierenden Diskursen. Stattdessen sollten sie integrative Gespräche darüber fördern, wie man den Islam integrieren und gleichzeitig den sozioökonomischen Ursachen der Radikalisierung entgegenwirken kann.

Mit »Katastrophen-Diplomatie« ist der Streit zwischen der Türkei und Griechenland nicht zu schlichten

Wed, 11/11/2020 - 00:30

Das Erdbeben der Stärke 7,0, das am 30. Oktober die ägäischen Küsten der Türkei und Griechenlands erschütterte, kostete über hundert Menschen das Leben, fast eintausend weitere wurden verletzt. Die Bergungsarbeiten endeten am 4. November mit einem »Wunder«: Ein vierjähriges Mädchen konnte nach 91 Stunden lebend aus den Trümmern geborgen werden. Einige politische Beobachter und westliche Partner erwarten daher auch heute eine wundersame Verbesserung der Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland. Diese wird es nicht geben. Es fehlt schlichtweg ein positiver Trend in der Beziehung, auf dem diplomatisches Wohlwollen nach der Katastrophe aufbauen könnte.

Obwohl Ankara und Athen nach türkischen Erkundungen von Öl- und Gas-Vorkommen in umstrittenen Gebieten des Östlichen Mittelmeers im Streit liegen, sprach der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach dem Erdbeben in einem seltenen Anruf sein Beileid aus. Später bekundeten beide ihre Solidarität via Twitter. Auch Washington begrüßte die »Erdbebendiplomatie« und erklärte seine Bereitschaft, die NATO-Verbündeten zu unterstützen. »Es ist großartig zu sehen, wie beide Länder ihre Differenzen beilegen, um sich in Zeiten der Not beizustehen. Auch die Vereinigten Staaten stehen bereit, um zu helfen«, äußerte der Nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Robert O’Brien. Die außenpolitische Sprecherin Morgan Ortagus bekundete im Namen der USA angesichts der Todesopfer ihr Beileid und erklärte, die Kooperation zwischen den türkischen und griechischen Außenministern sei »ermutigend«.

Diese Entwicklungen erfuhren auch deshalb solche Aufmerksamkeit, weil die »Katastrophen-Diplomatie« nach zwei aufeinanderfolgenden Erdbeben, die im August/September 1999 erst die Türkei und dann Griechenland erschütterten, von vielen als Auslöser für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Ländern betrachtet wird. Ankara und Athen könnten danach ihren Umgang mit den aktuellen Streitigkeiten am Vorbild der damaligen Entwicklungen ausrichten, die als positive Phase der Beziehungen in Erinnerung geblieben ist.

Was passierte 1999?

Will man die richtigen Lehren aus dem Zusammenhang von Katastrophenbewältigung und verbesserten Beziehungen ziehen, lohnt es, den historischen Präzedenzfall zu beleuchten. Einige Jahre nach den Erdbeben sagte der damalige griechische Verteidigungsminister Akis Tsochatzopoulos, die Beben hätten wie ein »Katalysator [gewirkt], der die beiden benachbarten Völker näher zusammengebracht hat«. Es war richtig, die »Katastrophen-Diplomatie« als Katalysator und nicht als Initiator zu bezeichnen: Die Ereignisse beschleunigten lediglich einen Trend, der zuvor schon existiert hatte.

Im Jahr 1996, nur drei Jahre vor den Beben, standen Ankara und Athen am Rande eines Krieges um die winzigen ägäischen Inseln Kardak/Imia. In den darauffolgenden Jahren änderte sich Ankaras politische Agenda jedoch dramatisch. Sie wurde nun von der wichtigsten innen- und außenpolitischen Priorität des Landes dominiert, dem Aufenthalt Abdullah Öcalans, des Vorsitzenden der militanten Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK), in Syrien. Nach anhaltendem militärischem Druck durch die Türkei und die USA entschied die syrische Führung, den PKK-Führer auszuweisen. Griechische Politiker und Staatsbedienstete hatten daran mitgewirkt, dass Öcalan Syrien verließ und zunächst nach Zypern, später mit einem gefälschten zypriotischen Reisepass auf das europäische Festland ging. Einige Monate später spielte Athen eine zentrale Rolle bei der Festnahme Öcalans, nachdem dieser die griechische Botschaft in Nairobi, Kenia, verlassen hatte.

1999 näherte sich die Türkei der Mitgliedschaft in der Europäischen Union und wurde bis Ende des Jahres als Kandidat für eine Vollmitgliedschaft gehandelt. Vor diesem Hintergrund wurde die Annäherung zwischen Ankara und Athen sogar von führenden Hardlinern der nationalistischen Partei Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) begrüßt. İsmail Köse von der MHP gab der Freundschaft seinen Segen, indem er auf die griechische Beteiligung an Aufständen gegen die osmanische Herrschaft, auf Griechenlands Unterstützung im Kampf gegen die PKK und auf die Brüderlichkeit der Länder nach den Erdbeben verwies.

Athen wollte die besseren Beziehungen zu Ankara nutzen, um für Sicherheit auf dem Balkan zu sorgen; die Türkei hatte politischen Einfluss auf die albanischen Gruppen, die zwischen 1999 und 2001 Aufstandsbewegungen im Preševo-Tal und der Republik Mazedonien anführten. Im Endeffekt zeitigten die Bemühungen um ein gemeinsames Vorgehen auf dem Balkan aber keine nennenswerten Erfolge, und Griechenland ging dazu über, sich eigenständig eine Führungsrolle in der Region zu sichern. Leider erwies sich die Vorstellung, dass die Diplomatie infolge des Erdbebens eine neue Ära einläuten könnte, als falsch. Nach politischen Fehlern auf beiden Seiten verabschiedete sich die Türkei nach und nach von ihrem Ziel einer EU-Mitgliedschaft und verfolgte stattdessen eine unabhängigere und interventionistischere Außenpolitik. Gute Beziehungen zu Griechenland mussten nun hinter anderen Interessen, wie etwa der Machtprojektion in der Ägäis, zurückstehen.

Was ist heute anders?

Heute gibt es keinen positiven Trend in den Beziehungen – ganz im Gegenteil. Der Wettstreit um Energievorkommen zwischen Griechenland, Zypern und der Türkei hat weitere regionale und internationale Akteure wie Frankreich, Ägypten und Israel auf den Plan gerufen. Die Türkei betrieb »Kanonenbootdiplomatie«, als sie die türkische Marine zum Schutz ihrer seismischen Forschungsschiffe nutzte. Nachdem Griechenland und Frankreich mit ihrem Versuch gescheitert waren, den Europäischen Rat zu Sanktionen gegen die Türkei zu bewegen, schickte Ankara erneut das im Mittelpunkt des Streites stehende Forschungsschiff Oruç Reis in die umstrittenen Gewässer im östlichen Mittelmeer. Und nur wenige Tage nach dem herzlichen Telefonat zwischen türkischer und griechischer Führung verkündete die türkische Marine, dass sie die Mission der Oruç Reis ausweiten werde.

Diesmal gibt es keinen positiven Trend, auf dem eine »Katastrophen-Diplomatie« aufbauen könnte. Und da sich die Türkei heute politisch und militärisch sicher vor der PKK fühlt, kann Griechenland auch nicht die kurdische Karte spielen.

Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands

Wed, 11/11/2020 - 00:00

Die derzeitige russische Führung legt großen Wert darauf, die über Jahrhunderte hinweg bestehende Kontinuität der russischen und sowje­tischen Geschichte zu betonen.

Historische Brüche sind in der offiziellen russischen Darstellung der eigenen Geschichte unerwünscht und negativ konnotiert.

Gepflegt wird eine Kultur des Sieges, vor allem aufgrund der sowjetischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, der in Russland »Großer Vaterlän­discher Krieg« genannt wird.

Die russische Führung setzt historische Inhalte selektiv ein, um das Regime und seine Handlungen gegenüber der russischen Bevölkerung sowie externen Akteuren zu legitimieren.

Der Wahrheitsgehalt historischer Botschaften ist zweitrangig im Vergleich zu der Frage, wie sie sich für Zwecke der politischen Legitimation gebrauchen lassen.

Historische Inhalte werden insbesondere dazu genutzt, eine Verknüpfung zu heutigen politischen Entwicklungen herzustellen, zum Beispiel in der Ukraine.

 

Redrawing the Maps in Kashmir

Tue, 10/11/2020 - 00:00

The political geography of Kashmir has changed radically in recent months. The start­ing point was the Indian government’s decision on 5 August 2019 to divide the state of Jammu and Kashmir (J&K) into two Union territories. In response, Islamabad pub­lished a map on 4 August 2020 showing all of Kashmir as part of Pakistan. At the end of September 2020, the Chinese government terminated the status quo with India in the Ladakh/Aksai Chin region. This indicates a new phase in the conflict over Kash­mir, in which China and Pakistan could work more closely together. In addition, the conflict is being expanded to include a new geopolitical dimension because, for China, the dispute with India is now also part of the struggle with the United States over the future distribution of power in the Indo-Pacific.

Neustart mit Präsident Biden

Mon, 09/11/2020 - 00:30

Die Wahl Joseph Bidens zum 46. Präsidenten der USA bedeutet nicht, dass die trans­atlantischen Beziehungen einfach zum Status quo vor 2017 zurückkehren werden. Zu sehr hat sich inzwischen das internationale Umfeld verändert, zu stark ist der Wett­bewerb großer Mächte zum strukturbildenden Merkmal der internationalen Ordnung geworden. Europa wird stärker als bislang verdeutlichen müssen, welche Politik man von Washington erwartet, aber auch, was man selbst zu leisten bereit ist. Vor diesem Hintergrund sollten Berlin und Brüssel gegenüber der Regierung Biden fünf Prioritäten als Grundlage einer erneuerten transatlantischen Agenda verfolgen. Unter anderem sind demnach gemeinsame Regelwerke zur Bekämpfung politischer Des­information und eine transatlantische Impfstoff-Allianz anzustreben.

Verglimmender Hoffnungsschimmer? Äthiopien droht der Zerfall

Mon, 09/11/2020 - 00:20
Hoffnungsträger Abiy Ahmed

Vor zwei Jahren lagen sich die Menschen im Norden Äthiopiens mit Freudentränen in den Armen: Der eiserne Vorhang zwischen Äthiopien und dem ehemaligen Kriegsgegner Eritrea war nach 18 Jahren geöffnet worden. Geschwister sahen sich zum ersten Mal, Großeltern hielten ihre Enkel in den Armen, die Telefonverbindungen funktionierten über Nacht. Ein neues Zeitalter schien angebrochen. Das Horn von Afrika, die Region, die für ihre verbitterten Bruderkriege, Hungersnöte und unbeugsamen Ideologien stand, bekam auf einmal einen Glanz. Besonders die Jugend – die mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellt – war hoffnungsvoll. Viele erwarteten von dem neuen, jungen Premier Abiy Ahmed ein Leben in Würde und mit Arbeit. Abiy, ein Überraschungskandidat aus der Partei der Bevölkerungsmehrheit, die in der hundertjährigen Geschichte des Landes niemals die Regierungsgeschäfte geführt hatte, wurde zum Premierminister. Er wollte mit dem starren Entwicklungsstaatskonzept der Vorgängerregierung brechen, die von einer kleinen Gruppe, der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF), geführt wurde. Abiy sprach von Demokratie, Privatisierung und Liebe als seinen Leitmotiven. Das schien unerhört, und spätestens durch den Friedensschluss mit dem benachbarten Erzfeind Eritrea war ihm etwas geglückt, das die Menschen im Land und in der Region gleichermaßen begeisterte und ihm den Friedensnobelpreis einbrachte.

Eskalierender Machtkampf

Heute sind die Grenzen zwischen Eritrea und Äthiopien längst wieder geschlossen. Hunderte fielen in den vergangenen Monaten ethnischen Pogromen zum Opfer. Nach der Ermordung eines Sängers begannen wochenlange Proteste, die Regierung sperrte das Internet für Monate, Tausende Oppositionelle wurden verhaftet. Die Jugend, deren Proteste einst den Aufstieg von Abiy Ahmed befördert hatten, demonstriert angesichts der enttäuschten Hoffnung auf eine bessere Zukunft jetzt gegen seine Regierung. Anfang November passierte schließlich, was sich in den Wochen zuvor ankündigt hatte: Die TPLF lieferte sich ein Scharmützel mit der Nationalarmee. Internet-, Telefon- und Flugverbindungen zum nördlich an der Grenze zu Eritrea gelegenen Bundesstaat der Tigray wurden gestoppt. Das Kabinett verkündete den Ausnahmezustand für die Region, erklärte die TPLF zu einer terroristischen Vereinigung und setzte eine Parallelregierung in dem TPLF-geführten Bundesstaat ein. Truppen der nationalen Armee wurden aus anderen Landesteilen und aus Somalia an die Grenze zu Tigray verlegt. Beide Seiten behaupten nun, die Lage unter Kontrolle zu haben: Premier Abiy berichtet von gelungenen Bombardements auf die Flugabwehr der TPLF, die ihrerseits angibt, militärisch nicht geschwächt worden zu sein.

Die Eskalation begann, nachdem der Premierminister aufgrund der Covid-19-Pandemie die ersten freien Wahlen, die für Mai 2020 angekündigt waren, auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Einige Monate zuvor hatte er die bis dahin regierende Einheitspartei aufgelöst und die Wohlstandspartei gegründet. In diesem Zuge hatte er die Übermacht der TPLF in der Regierung reduziert und bislang außen vorgelassene Bundesstaaten wie die Somali- und Afar-Region stärker eingebunden. Die TPLF stellte daraufhin die Legitimität der Regierung infrage, Premier Abiy hält sie für einen Gegner des ethnischen Föderalismus. Anfang September führte sie unabhängige Wahlen in ihrem Bundesstaat Tigray durch, bei denen die Volksbefreiungsfront die absolute Mehrheit erzielte. Nichtsdestotrotz kann sie nicht auf einen nennenswerten Rückhalt in der äthiopischen Bevölkerung zählen.

Die verhärteten Fronten zeugen von einer Schwäche der Regierung Abiy Ahmeds, dem es weder gelang, die ethnonationalistischen Spaltungen einzudämmen, noch die Bevölkerung vor ethnischen Pogromen zu schützen. Der Premierminister hatte darauf vertraut, dass der Bau des Nilstaudamms GERD eine breite Unterstützung der gesamten Bevölkerung erfahren und damit zu einem national einigenden Projekt werden könnte. Diese Hoffnung droht zu scheitern.

Eskaliert die Situation in Tigray weiter, weil das Land in einen Bürgerkrieg schlittert, könnte dies das Ende der Transition unter Abiy Ahmed bedeuten. Es droht die Gefahr, dass ihm andere Landesteile oder die Armee die Gefolgschaft verweigern. Verliert die TPLF den Konflikt, könnte sie sich zu einer bewaffneten Opposition – im eigenen Land oder der Region – entwickeln. Darüber hinaus besteht das Risiko, dass der eritreische Präsident Isayas Afewerki seine Chance wittert, durch ein Eingreifen in den Konflikt auf der Seite Äthiopiens wieder zu einem wichtigen Player in der Region zu werden. Äthiopien geriete in Abhängigkeit und wäre geschwächt.

Es braucht mehr als einen Waffenstillstand

Eine Implosion Äthiopiens hätte ungeheure Konsequenzen nicht nur für das bevölkerungsreichste Land der Region, sondern auch für das gesamte Horn von Afrika. Ein regionaler Krieg würde die fragile Transition im Sudan gefährden. Auch das Abkommen zum Nilstaudamm oder die entscheidend von Äthiopien mitgetragene Mission der Afrikanischen Union zur Stabilisierung Somalias wären direkt von einer Fragmentierung des Landes betroffen.

Eine gegenseitige Anerkennung von TPLF und Regierung als legitime Akteure wäre ein erster notwendiger Schritt zu Beilegung des Konfliktes. Vermittlungsgespräche könnten dann von der regionalen Intergovernmental Authority on Devolopment (IGAD) unter Führung des Sudans geführt werden. Die Afrikanische Union, Europa und andere Partner des Landes sollten sich auf eine gemeinsame Linie zur Deeskalation verständigen. Auch die Treuhänder des Äthiopisch-Eritreischen Friedensabkommens, Saudi Arabien und die Vereinten Arabischen Emirate, könnten als Garanten des Abkommens eine wichtige Rolle spielen.

Ein Waffenstillstand aber kann nur ein Anfang sein. Die Unzufriedenheit wächst in allen Regionen Äthiopiens, Autonomiebestrebungen verbreiten sich, dem ethnischen Föderalismus droht ein konfliktreicher Zerfall. Um hier entgegenzuwirken, ist es zum einen unerlässlich, dass ethnische Pogrome durch die Sicherheitskräfte verhindert werden. Zum anderen muss der Premier politisch Inhaftierten faire Prozesse garantieren, wenn die Bevölkerung ihn weiter unterstützen soll. Um die Hoffnung auf Aufbruch, demokratische Veränderung und inklusivere Machtverteilung nicht gänzlich zu zerstören, ist ein umfassender nationaler Dialog unumgänglich.

Das Gesetz zur nationalen Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hongkong

Mon, 09/11/2020 - 00:10

Das Gesetz zur nationalen Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hongkong (Sicherheitsgesetz) wirft ein Schlaglicht auf Mängel der Chinesisch-Britischen Gemein­samen Erklärung von 1984 und die inhärenten Konflikte des Prinzips »Ein Land, zwei Systeme«. Das Arrangement war immer voller Widersprüche und Grauzonen. Mit dem Sicherheitsgesetz schafft die chinesische Führung nun Tatsachen. Der Schritt geht zu Lasten individueller Freiheitsrechte und beschleunigt die Verbreitung sozia­listischer Rechtsvorstellungen in Hongkong. International ist Beijing allerdings nicht isoliert. Im Gegenteil, bei der Bewertung des nationalen Sicherheitsgesetzes als innere An­gelegenheit erhält Beijing Zuspruch von wirtschaftlich abhängigen Staaten. Chinas Ambition, internationale Deu­tungshoheit bei Rechtsfragen zu erlangen, ist strategisch in die Seidenstraßen­initiative (BRI) eingebettet. Das Vorgehen in Hongkong ist bei diesem Bemühen ein Testballon. Bei Entscheidungsträgern in Deutschland und Europa ist das Problembewusstsein in Bezug auf die chinesischen Rechtsvorstellungen immer noch un­zureichend. Mehr Expertise ist dringend erforderlich.

UN@75: Weder versammelt noch vereint

Mon, 09/11/2020 - 00:00

Vor einem Jahr rief die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) eine »Decade of Action« für die 2030-Agenda und die Ziele für nachhaltige Entwicklung aus. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie zwang die UN, ihre Planungen für 2020 anzupassen. UN-Generalsekretär António Guterres reagierte bereits im März mit einem Bericht, der die 2030-Agenda zur »Roadmap« aus der Pandemie erklärte. Konflikte unter den UN-Mitgliedstaaten behinderten hingegen zunächst eine rasche Reaktion der General­versammlung und des Sicherheitsrats. Seit Mitte März wird überwiegend in digitalen Formaten gearbeitet, das galt selbst für die Eröffnung der 75. Generalversammlung durch die Staats- und Regierungschefs. Welche Leistungsfähigkeit beweist die Welt­organisation im Jahr der Pandemie, insbesondere mit Blick auf das im Kontext der 2030-Agenda entwickelte neue Leitmotiv »Build Back Better«?

Disaster Diplomacy Will Not Reconcile Turkey and Greece

Fri, 06/11/2020 - 00:20

The magnitude 7.0 earthquake that struck Turkey’s Aegean coast on 30 October killed more than one hundred people and injured almost one thousand. Rescue efforts ended on 4 November with a “miracle”: A four-year-old girl still alive after 91 hours under rubble. Some political analysts and Western partners now expect a miraculous warming of relations between Turkey and Greece. That is not going to happen. There is simply no positive trend in the relationship that disaster-related diplomatic goodwill could build on.

Although Ankara and Athens are at loggerheads in the eastern Mediterranean after Turkey stepped up oil and gas exploration in disputed waters, Greek Prime Minister Kyriakos Mitsotakis placed a rare call to Turkish President Recep Tayyip Erdoğan to offer his condolences. Both later tweeted their messages of solidarity. Washington also hailed the “earthquake diplomacy” and said it was ready to assist its NATO allies. “It’s great to see both countries putting their differences aside to help each other during a time of need. The United States also stands ready to assist,” said National Security Advisor Robert O’Brien. State Department spokeswoman Morgan Ortagus offered US condolences for the loss of life and said the United States was “heartened” by cooperation between the Turkish and Greek foreign ministers.

The reason these developments attracted such attention is the belief in that disaster diplomacy set the neighbours countries on course for an improvement in relations in August/September 1999, after consecutive earthquakes hit Turkey and then Greece. The period is still remembered as a positive episode on which Ankara and Athens could model approaches to their current strife.

What Happened in 1999?

If we are to derive the correct lessons on causal links between disaster response and warming relations, we must first examine the historical precedent. A couple of years after the earthquakes the then Greek Defence Minister Akis Tsochatzopoulos said that the tremors served as “a catalyst for bringing the two neighbouring peoples closer”. He was right to refer to the disaster diplomacy as a catalyst rather than an instigator: the events merely expedited a trend that was already established.

In 1996, just three years before the quakes, Ankara and Athens came to the brink of war over the tiny Aegean islets of Kardak/Imia. But within the next couple of years Ankara’s political agenda shifted dramatically. Now it was dominated by the country’s leading domestic and foreign policy priority, the militant Kurdistan Workers Party (PKK) leader Abdullah Öcalan’s presence in Syria. After sustained military pressure from Turkey and the United States, Syria decided to expel the PKK leader. But Greek politicians and officials were instrumental in persuading Öcalan to leave Syria, initially to Cyprus and then on Europe using a fake Cypriot passport. Several months later, Athens again played a central role in Öcalan’s capture after leaving the Greek embassy in Nairobi, Kenya.

By 1999, Turkey was also moving closer to embracing European Union membership and was accepted as a candidate for full membership by the end of the year. Against that background, the rapproachment between Ankara and Athens was welcomed even by leaders of the hardline Nationalist Action Party (MHP). Giving his blessing to the friendship İsmail Köse of the MHP cited Greek participation in revolts against Ottoman rule, Greece’s assistance against the PKK and the fraternity that followed the earthquakes.

Athens was keen to utilise improved relations with Ankara to establish security in the Balkans. Turkey possessed political leverage over the Albanian groups that waged an insurgency in the Preševo Valley and the Republic of Macedonia between 1999 to 2001. The efforts to coordinate efforts in the Balkans ultimately produced little in the way of results and Greece went its own way to consolidate its leadership in the region.

Unfortunately, the idea that earthquake diplomacy could launch a new era was mistaken. After political mistakes on both sides Turkey gradually abandoned its EU membership agenda to pursue a more independent and interventionist foreign policy. Good relations with Greece now took second place to other interests, such as power projection in the Aegean.

What Is Different Today?

Today there is no positive trend in relations – quite the opposite. Rivalry over energy resources between Greece, Cyprus and Turkey has drawn in regional and global actors including France, Egypt and Israel. Turkey has pursued “gunboat diplomacy”, using the Turkish Navy to protect its seismic research vessels. After the failure of Greece and France to unite the European Council behind sanctions on Turkey, Ankara was emboldened to send the Oruç Reis, the research vessel at the centre of the row, back into disputed waters in the Mediterranean.

Only a couple of days after the warm phone conversation between the Turkish and Greek leaders, Turkey issued a new naval warning extending the mission of the Oruc Reis. This time around there is no positive trend on which “disaster diplomacy” could build. And with Turkey feeling politically and militarily secure against the PKK, there is no Kurdish card for Greece to play either.

Turkish-French Culture War over Islamist Radicalism and Islamophobia May Unite Europe against Turkey

Fri, 06/11/2020 - 00:10

France and Turkey are embroiled in geopolitical conflicts across three continents. Now terrorist attacks by Islamist extremists on French soil have sparked a culture war between Paris and Ankara. Turkish President Recep Tayyip Erdoğan has accused French President Emmanuel Macron of Islamophobia and called for a boycott of French products. On the surface, this appears to be a much less significant crisis than the hard geopolitical conflicts between the two states.

In Libya, Paris opposes Ankara’s military intervention on the side of the UN-backed government in Tripoli, which tilted the balance against the Benghazi-based forces of General Chalifa Haftar. In the most noticeable incident, Turkish naval forces targeted a French frigate with their fire control radar to prevent the French vessel controlling a cargo ship suspected of smuggling arms to Libya. In the eastern Mediterranean, France is one of the leading European voices criticising Turkish oil and gas exploration in disputed waters. In Syria, France has opposed Turkey’s targeting of Kurdish-led rebels, who President Macron recently called France’s “partners against Islamic jihadism”. Finally, as one of the co-chairs of the OSCE Minsk Group, France – which has a sizeable Armenian minority – has been working to counter Ankara’s diplomatic campaign against Armenia in the context of the war over Nagorno Karabakh.

So far, the political damage to Ankara caused by these crises has been limited. Paris has been unable to unite its European and Western partners behind a coordinated action against Ankara. European countries do not see eye to eye with France on these issues, and are unequally affected by the issues.

This Crisis Could Be More Consequential

President Erdoğan appears not to realise the gravity of the crisis. This latest episode of cultural and symbolic disagreements could prove more consequential for Turkey than the hard geopolitical conflicts, for three reasons. Firstly, the dispute over Islam has direct and tangible effects on French domestic politics. The French far right, which is currently close to Macron in the polls, benefits from any tension with the country’s Muslim minority. Paris regards Erdoğan’s remarks as serious interference in France’s internal political affairs.

Secondly, Erdoğan’s campaign ostensibly singles out France but actually targets other European countries too. The tension over Muslim minorities is not just a French problem. It affects pretty much every Western European country – disproportionately to the actual size their Muslim populations. So whipping up this issue direct impacts domestic politics in all these states and is likely to assist the far right. French Interior Minister Gérald Darmanin’s announcements of a crackdown that will affect Islamic NGOs as well as those suspected of preparing violent attacks is designed to prevent a shift to the far right. It is unclear whether this strategy will work.

Thirdly, there is a very significant security dimension to this crisis. Erdoğan’s amplification of Muslim indignation could create a political atmosphere that encurages violent extremists to carry out attacks. In terms of urban terrorist attacks, the security dimension is relevant to pretty much all Western European countries from Spain to Sweden, Germany and the United Kingdom. The latest attack in Austria, which was claimed by the Islamic State group, testifies to the immediacy of the threat. Such attacks also create conditions for a backlash from far-right terrorists in various European countries.

The direct and indirect effects of an atmosphere that encourages Islamist extremism are thus felt more homogenously across Europe. Several European governments and the European Parliament have already publicly backed Paris in its “war of words” with Ankara. The more Erdogan succeeds in promoting his anti-France agenda the more he might provoke a stronger backlash from the EU. Despite there being no link between Erdoğan and the attacks in France, the Turkish President occupies centre stage in the French debate in France. When news about the Nice attack broke, French broadcasters and commentators were very quick to discuss it in connection with his earlier remarks about France.

Unity around the issue of Islam in Europe and unequivocal support for France against Turkey have already been manifested in expressions of support by European leaders and most recently a statement by the European External Action Service. If the efforts to coordinate European statements and action force Turkey to back down, the experience could be applied in other disputes with Turkey. Erdogan is not known for giving in to pressure from Europe, but it is highly likely that Ankara will abandon its campaign against France in the face of a coordinated response. If this crisis helps to unite Europe to counter Turkey, it will be a first in the recent decades and could create a significant precedent. It might even lead to Europe finally finding leverage against Turkey if it considers taking concrete diplomatic and economic action against Ankara.

Preparing for the Crises after COVID-19

Fri, 06/11/2020 - 00:00

Political decision-makers are regularly confronted with a large number of hypothetical crises. State and society expect them to make appropriate provisions to tackle these scenarios simultaneously. However, adequate preparation for all conceivable incidents in the future far exceeds the available resources. Decision-makers must therefore deter­mine which of these imaginary crises should take priority. Factors such as the public visibility and likelihood of an expected crisis and the damage it is anticipated to cause play an important role in this decision. Also at play are analogy-based reason­ing and political intuition. COVID-19 illustrates that these future heuristics entail significant decision-making risks. Despite many warnings about the consequences the spread of infectious diseases could have globally, hardly any state was adequately pre­pared. Taking credible predictions through systematic foresight into account would help decision-makers to set priorities for prevention that would be easier to explain and justify.

Russlands Arktis-Strategie bis 2035

Thu, 05/11/2020 - 00:00

Russland hat im Oktober 2020 eine bis 2035 geltende Entwicklungsstrategie für die Ark­tis beschlossen. Sie spiegelt die Hoffnungen, aber auch die Bedrohungsszenarien wider, die der Kreml mit der fortschreitenden Erwärmung der Arktis verbindet. Die reichlich vorhandenen Rohstoffe, allen voran Gas und Öl, sollen weiter erschlossen, der Bevölke­rung bessere Lebensstandards geboten werden. Moskau hofft zudem, mit der Nörd­lichen Seeroute langfristig eine neue Arterie der Weltschifffahrt etablieren und kon­trollieren zu können. Die zusehends eisfreie Arktis weckt in Russland aber auch Sor­gen, dass russisches Territorium im Norden auf neuartige Weise verwundbar werden könnte. Diesen Sorgen begegnet es mit dem Wiederaufbau seiner Militärpräsenz. Schließlich will Moskau auch das ökologische Gleichgewicht der Arktis bewahren. Vieles spricht indes dafür, dass zwar die Energiewirtschaft und das Militär in der Region zum Zuge kommen, Gelder für den Umweltschutz und die Unterstützung der Bevölkerung aber weiterhin ausbleiben.

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