Lange galt der New-Start-Vertrag zwischen den USA und Russland als wichtiger Stabilitätsanker in den strategischen Beziehungen. Ende Februar gab der russische Präsident Wladimir Putin bekannt, den Rüstungskontrollvertrag von 2011 auszusetzen. Das Abkommen regelt nicht nur die Zahl strategischer Trägersysteme und Atomsprengköpfe, sondern ermöglicht auch regelmäßigen Datenaustausch und Inspektionen zur Vertragsverifikation. Sogar noch in den ersten Monaten des Ukraine-Kriegs wurden vertragskonform Daten über Trägersysteme ausgetauscht sowie Notifizierungen über Raketentests durchgeführt.
Die Hoffnung, dass die strategische Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland weitestgehend losgelöst von den geopolitischen Spannungen behandelt werden kann, wurde mit der russischen Ankündigung nun jedoch gänzlich begraben. Dabei kam der Schritt kaum überraschend. Er ist Teil eines grundsätzlichen Trends: Nuklearwaffen nehmen in Russlands Strategie gegenüber der Ukraine und der Nato einen wachsenden Stellenwert ein.
Nukleare ErpressungsstrategieSeit Kriegsbeginn hat Moskau mittels nuklearer Drohrhetorik und unterschiedlicher praktischer Maßnahmen wie Nuklearübungen versucht, die Nato vor einer Intervention in der Ukraine abzuschrecken, westliche Waffenlieferungen zu verhindern und die Ukraine zur Aufgabe zu zwingen. Was dabei erst in den vergangenen Wochen und Monaten hinzugekommen ist und mit Putins Vertragsaussetzen seinen bisherigen Höhepunkt erreicht, ist Moskaus Versuch, auch seine Rüstungskontrollpolitik gegenüber den USA als Druckmittel einzusetzen, um sie von ihrer Ukrainehilfe abzubringen.
So blockierte Moskau seit August 2022 eine Wiederaufnahme der gegenseitigen Inspektionen im Rahmen von New Start, die aufgrund der Corona-Pandemie ausgesetzt worden waren. Auch die Hoffnung, den Streit im Rahmen des extra vom Vertrag für solche Fälle vorgesehenen bilateralen Koordinierungsausschusses zu klären, zerschlug sich, als Russland Ende November kurzfristig ein Treffen der Vertragsparteien in Kairo auf unbestimmte Zeit verschob. Schließlich erklärte der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow Ende Januar, dass Rüstungskontrolle nicht losgelöst von den geopolitischen Realitäten behandelt werden könne. Damit machte er die russische Position klar: Zunächst müssen die großen politischen Konfliktlinien gelöst werden, erst dann kann man sich diesen »technischen« Fragen zuwenden. Dabei zeigte sich Russlands Sabotagehaltung auch in multilateralen Rüstungskontrollforen, etwa bei der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags im Sommer 2022 sowie mit Blick auf die Versuche, die Nuklearvereinbarung mit dem Iran wiederzubeleben.
Putins Aussetzen von New Start ist also nur der letzte Schritt in einer Reihe von russischen Maßnahmen, mit denen die nukleare Rüstungskontrolle von einem Stabilitätsanker zu einem Baustein Moskaus nuklearer Einschüchterungs- und Erpressungsstrategie wird.
Moskaus EigentorMit diesem Vorgehen dürfte Russland jedoch scheitern – und vor allem sich selbst schaden. Ein Umlenken der US-Strategie mit Blick auf den Krieg in der Ukraine wird es wohl kaum erzwingen. Auch dürfte Putins »Aussetzen« des Vertrags – ein politischer Schritt, der rechtlich vom Vertrag so nicht vorgesehen ist, aber theoretisch rückgängig gemacht werden kann – wenig Auswirkungen auf die nuklearen Risiken im Ukraine-Krieg haben. Zentrale Krisenkommunikationskanäle zwischen Washington und Moskau zur Risikoreduzierung bleiben weiterhin bestehen. Zudem will Moskau Notifizierungen über Raketenstarts fortführen.
Mittel- bis langfristig fördert das Aussetzen des Vertrags jedoch eine noch beschleunigte Erosion der Rüstungskontrolle und damit Instabilität. Zwar will sich Russland weiterhin an die von New Start festgeschriebenen Obergrenzen bezüglich strategischer Trägersysteme und Atomsprengköpfe halten. Doch wird es für Washington ohne den vertraglichen Datenaustausch schwieriger, Moskaus tatsächliche Vertragstreue festzustellen. Ende Januar stellten die USA bereits aufgrund der russischen Blockadehaltung dessen Nichteinhaltung fest – bisher aber noch keine Verletzung der vertraglichen Obergrenzen. Washington wird sich nun zur Verifikation allein auf die eigenen Satellitenfähigkeiten stützen müssen. Dies könnte zu größerer Intransparenz führen. Vor allem dürfte es aber Rufe in den USA nach einem Ausbau des US-Arsenals befeuern.
Neues Wettrüsten?Aufgrund Chinas nuklearer Aufrüstung werden Stimmen in den USA immer lauter, die eine Abkehr von der eher zurückhaltenden US-Kernwaffenpolitik fordern. Die Sorge insbesondere in republikanischen Kreisen ist, dass angesichts zweier gleichrangiger nuklearer Konkurrenten die US-Fähigkeiten in ein paar Jahren nicht mehr ausreichen, um beide gleichzeitig in Schach zu halten. Somit stellt Russlands Vorgehen ein Geschenk für diejenigen in den USA dar, die eine Aufgabe der Rüstungskontrolle fordern.
Ein Ende der vertragsbasierten nuklearen Rüstungskontrolle dürfte dabei Russlands strategische Position am meisten treffen. Falls New Start zerfällt – auch vor dessen Auslaufen 2026 – hätten die USA das Potenzial, ihre stationierten strategischen Nuklearstreitkräfte kurzfristig mehr als zu verdoppeln. Russland könnte nicht so weit mitziehen. Dies könnte Instabilität fördern. Und auch langfristig stehen die USA mit ihren ökonomischen und technologischen Kapazitäten besser da als Russland. Moskau wird es sich kaum leisten können, sowohl konventionell zu rekonstituieren als auch nuklear wettzurüsten.
Deutschland sollte sich in jedem Fall darauf einstellen, dass die Ära, in der Großmächte strategische Rüstungskontrolle vorrangig als stabilitätsförderndes Mittel nutzten, vorbei ist. In Zukunft dürfte der Fokus vielmehr auf der Modernisierung und dem Ausbau ihrer strategischen Fähigkeiten liegen und die Rüstungskontrolle eher als wettbewerbssteuerndes Instrument dienen.
In recent weeks, Japan’s government under Prime Minister Kishida Fumio has implemented significant adjustments to the country’s security policy. In December 2022, Tokyo published a new National Security Strategy along with two other defence-related strategic documents. In doing so, the government decided, among other things, to significantly increase Japan’s defence budget to 2 per cent of its gross domestic product by fiscal year 2027. During bilateral alliance meetings in mid-January 2023, Japan and the United States addressed the implications of the new strategic documents and discussed possibilities for closer cooperation. By making far-reaching decisions such as on the acquisition of so-called counter-strike capabilities, Tokyo is seeking to respond to a rapidly deteriorating security environment. Even though some of the announced steps are indeed historic for Japan, they have been the topic of discussion for a while now and can therefore be seen as part of the evolution of Japanese security policy that has been occurring for years.
Seit in Iran im September 2022 landesweite Proteste ausgebrochen sind, steht die deutsche Iranpolitik auf dem Prüfstand. Doch noch immer ist keine konkrete Weichenstellung für einen veränderten politischen Ansatz zu erkennen. Während Rückendeckung für die Protestierenden sich bislang vornehmlich auf Symbolpolitik beschränkt, fehlt eine substanzielle Debatte darüber, wie deutsche Politik die iranische Bevölkerung unterstützen und zugleich die sicherheitspolitischen Herausforderungen bewältigen kann, die von der Islamischen Republik ausgehen. Diese reichen vom Atomprogramm über die Regionalpolitik bis zur militärischen Kooperation mit Russland. Die veränderten Bedingungen im Land und die wachsende Gefährdung europäischer Sicherheit durch das iranische Atom-, Raketen- und Drohnenprogramm erfordern eine Umgestaltung der bisherigen Iranpolitik. Dies gilt umso mehr, wenn die Bundesregierung ihrem Anspruch gerecht werden will, feministische Grundsätze in ihrer Außenpolitik zu verankern.
Die künftige Rohstoffversorgung Europas ist mit einer Reihe von Herausforderungen verbunden. Dazu gehören die Diversifizierung europäischer Lieferketten, die Umsetzung effektiver Nachhaltigkeitsstandards und nicht zuletzt der Abbau strategischer Abhängigkeiten von China. Wie werden im Jahr 2030 die europäisch-chinesischen Rohstofflieferketten aussehen? Dazu werden im Folgenden drei Szenarien durchgespielt. Sie können politischen Akteuren helfen, plausible Vorstellungen von der Zukunft zu gewinnen und mögliche Entwicklungen gedanklich voneinander abzugrenzen. Die Szenarien zeigen, welche Effekte politische wie sozio-ökonomische Faktoren auf die europäisch-chinesischen Lieferketten haben und wie sich europäische Akteure darauf einstellen können.
Das Abkommen, das die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) und die äthiopische Regierung am 2. November 2022 unterschrieben haben, bietet eine reale Chance, einen der blutigsten Kriege weltweit zu beenden. Die Umsetzung der Vereinbarung verläuft bisher gut. Durch den Friedensprozess ist jedoch die Frage nach einer stabilen Machtverteilung innerhalb Äthiopiens und am Horn von Afrika ins Blickfeld gerückt. Die Regierung unter Premierminister Abiy Ahmed steht vor drei zentralen Herausforderungen. Erstens muss sie die TPLF integrieren und sich gleichzeitig aus der Partnerschaft mit Eritrea lösen. Zweitens muss sie das innenpolitische Verhältnis der wichtigsten politischen Akteure neu austarieren, um eskalierende Gewalt in den Bundesstaaten Amhara und Oromia zu stoppen. Schließlich muss sie die durch den Krieg gespaltene und verarmte Gesellschaft wieder zusammenbringen. Internationale Partner sollten Äthiopien mit konditionierten Finanzhilfen und Projekten zur Friedensförderung bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen.
Since net zero targets have become a keystone of climate policy, more thought is being given to actively removing carbon dioxide from the atmosphere while continuing to drastically reduce emissions. The ocean plays a major role in regulating the global climate by absorbing a large proportion of anthropogenic carbon dioxide emissions. As the challenges of land-based carbon dioxide removal (CDR) approaches are increasingly recognised, the ocean may become the new “blue” frontier for carbon removal and storage strategies in the EU and beyond. However, the ocean is not an “open frontier”; rather, it is a domain of overlapping and sometimes conflicting rights and obligations. There is a tension between the sovereign right of states to use ocean resources within their exclusive economic zones and the international obligation to protect the ocean as a global commons. The EU and its Member States need to clarify the balance between the protection and use paradigms in ocean governance when considering treating the ocean as an enhanced carbon sink or storage site. Facilitating linkages between the ongoing review of the Marine Strategy Framework Directive and the establishment of the Carbon Removal Certification Framework could help pave the way for debate about trade-offs and synergies in marine ecosystem protection and use.
Bei der Abstimmung über eine UN-Resolution zur Beendigung des Ukraine-Kriegs enthielt sich China in der vergangenen Woche der Stimme – wie bereits bei den zwei vorangegangenen Abstimmungen im März und Oktober vergangenen Jahres. Die Resolution fordert den Rückzug der russischen Truppen und Schritte zur Lösung der durch den Krieg verursachten globalen Problemlagen.
China aber kann es besser als der Rest der Welt. Das sollte zumindest ein nach der Verabschiedung der Resolution präsentiertes »Positionspapier« mit dem Titel »Chinas Position zu einer politischen Lösung der Ukraine-Krise« belegen. Bereits dessen Ankündigung beim Auftritt des leitenden chinesischen Außenpolitikers Wang Yi auf der Münchner Sicherheitskonferenz vergangene Woche genügte, um internationale Beobachter in gespannte Erwartung zu versetzen. Als Wang nahezu nebenbei das bevorstehende chinesische Papier erwähnte, weckte er unmittelbar die Hoffnung, China könnte endlich seine Macht und seinen Einfluss auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Schaffung von Frieden einsetzen. Angesichts der gegenwärtigen Situation an den Fronten sind solche Hoffnungen verständlich. Es lohnt aber, darauf zu achten, wie ergebnisträchtig das chinesische Spiel aus Macht, Verlegenheit und Zynismus tatsächlich zur Lösung des gewaltigen Problems beiträgt, mit dem zuerst die Ukraine, aber auch die Welt insgesamt konfrontiert ist.
Tatsächlich zeigt das Dokument, in welcher Verlegenheit China angesichts der Schwäche des »strategischen Partners« Russland in seinem Angriffskrieg und der internationalen Reaktionen darauf steckt. Vor allem aber zeigt es Chinas zentrales Anliegen, als eine Weltmacht aufzutreten, die es nicht nötig hat, Verhandlungen mit eigenwilligen Partnern über konkrete Details zu führen. Das Papier lässt so jedes ernsthafte Konzept zur Schaffung von Frieden in der Ukraine vermissen. Dafür gibt es Gründe.
Keine neuen PositionenEs hätte so leicht sein können: Seit Wochen wurde in der Generalversammlung die neue Resolution verhandelt, mit der die internationale Gemeinschaft Wege zu Frieden und Sicherheit aus dem Krieg aufzeigen wollte. Was für eine Gelegenheit für ein konstruktiv engagiertes China, seinen Weltmachtstatus zu nutzen, um mit realistischen Vorschlägen Lösungsansätze zu suchen. Alleinstellungsmerkmal Chinas in den Vereinten Nationen ist allerdings in Krisensituationen immer wieder, dass das Land sich prominent abseits stellt. Es wirft seine Reputation in die Waagschale, um unstrittige Prinzipien und Allgemeinplätze darzulegen, fern der Mühen von Kompromiss und Lösungssuche. So heißt es in dem jetzigen 12-Punkte-Papier, dass selbstverständlich eine »ausgewogene, effektive und nachhaltige Sicherheit« geschaffen werden müsse. »Feindseligkeiten« seien zu beenden und es dürfe keinen Einsatz von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen geben.
Jedoch versteckt Peking in den Sätzen des Positionspapiers auch seine bekannte rhetorische Unterstützung für Russlands Krieg: Die »einseitigen Sanktionen« müssten beendet werden, heißt es und »Militärblöcke« – sprich: die Nato – dürften nicht »ausgeweitet« werden. Es dürfe keine »Kalte-Kriegs-Mentalität« geben – keine Frage, wer damit gemeint ist. Jede Kritik an Russland und seinem Krieg bleibt aus. So wäre es nicht verwunderlich, wenn es nun auch zu stärkerer materieller Unterstützung für Russland käme. Bislang hatte Peking das vermieden, um chinesische Firmen vor dem Sanktionsregime gegen Russland zu schützen. Deshalb ist diese Forderung des Papiers zur Beendigung der Sanktionen gewiss das zentrale Anliegen der chinesischen Führung.
Es wird noch eine weitere Zielsetzung Chinas offenbar. Das Papier schließt an eine hochrangig besetzte Tagung am 21. Februar in Peking an, bei der China seine »Globale Sicherheitsinitiative« vorstellte. Auch dies in der gleichen Woche, in der die Weltgemeinschaft in New York über die Realität des Kriegs in der Ukraine und die Schaffung von Sicherheit und Frieden verhandelte. Und auch dies mit dem Ziel, als Weltmacht wahrgenommen zu werden, die ihre eigenen Lösungen anbieten kann und auf die mühselige Zusammenarbeit mit internationalen Partnern nicht angewiesen ist.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat der Mischung aus Enttäuschung und fortlebender Hoffnung hinsichtlich Chinas Rolle treffend Ausdruck gegeben: »Ein Schritt in die richtige Richtung«, sagte er zunächst zur Ankündigung des chinesischen Friedensplans. Nach dessen Veröffentlichung stellte er dann allerdings ernüchtert fest, dass es kein Friedensplan sei, aber man nun sehen müsse, was hinter den Worten Pekings stehe.
German and European businesses are highly dependent on metals. Demand for these raw materials is expected to grow even further as they will be needed for the green energy and electric mobility transition, digitalisation and other emerging technologies. Geopolitical developments influence security of supply. China’s central role in mineral supply chains is a major factor of uncertainty in this context. The European Union has set ambitious sustainability targets. Implementing these in complex multi-tier metal supply chains is no easy matter, given the magnitude of environmental and human rights risks. Nevertheless, sustainability should not be sacrificed for security of supply. Instead, the European Union should pursue a strategic raw materials policy that reconciles the demands of both. The two biggest challenges in sustainability governance are: firstly, the diversity of standards and their inconsistent implementation and enforcement; and secondly, power asymmetries and lack of transparency along metal supply chains. A sustainable raw materials policy must seek to reduce dependency through strategic diversification and partnerships with countries that share European values. Transparency-enhancing measures and a regulatory “smart mix” will be decisive elements.
Der Mangel an Arbeitskräften gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland. Es fehlen nicht nur Fachkräfte, sondern auch geringer qualifizierte Beschäftigte – und das Problem droht sich mit dem beginnenden Renteneintritt der Babyboomer weiter zu verschärfen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht von jährlich 400.000 Personen aus, die netto bis zum Jahr 2035 zuwandern müssten, um die Zahl der Arbeitskräfte auf heutigem Niveau zu halten.
Die drei(einhalb) Säulen der Fachkräftestrategie
Die Bundesregierung hat im Herbst 2021 erklärt, sie wolle einen »Paradigmenwechsel« in der deutschen Migrations- und Integrationspolitik: Migration soll vorausschauend und realistisch gestaltet werden, irreguläre Migration reduziert und reguläre Migration ermöglicht werden. Dazu hat sie eine neue Fachkräftestrategie und Eckpunkte zur Fachkräfteeinwanderung beschlossen. Das Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung soll im Frühjahr 2023 verabschiedet werden. Vorgesehen sind drei Säulen für die Fachkräfteeinwanderung und weitere Regelungen für die geringer qualifizierte Zuwanderung.
Beim zentralen Element, der Fachkräftesäule, will sie nur nachjustieren. Voraussetzungen für die Zuwanderung sind weiterhin ein anerkannter Abschluss, ein Arbeitsvertrag und gleichwertige Beschäftigungsverhältnisse. Neu ist die Möglichkeit, mit einer anerkannten Qualifikation jede qualifizierte Beschäftigung in nicht-reglementierten Berufen auszuüben. Damit erhält die Einschätzung des Arbeitgebers, ob die Qualifikation zu der betreffenden Beschäftigung befähigt, mehr Gewicht. Zudem will die Regierung bei der Blauen Karte EU für Hochqualifizierte die erforderliche Gehaltsschwelle weiter senken und die Bildungsmigration erleichtern, um mehr jüngere Menschen für eine Ausbildung oder ein Studium in Deutschland zu gewinnen.
Tiefergehende Änderungen sind in der zweiten Säule geplant, der Erfahrungssäule. Hier sollen auch Menschen ohne formale Anerkennung ihres Abschlusses nach Deutschland kommen können, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, wie einen Arbeitsvertrag, eine bestimmte Gehaltsschwelle und eine zweijährige Berufserfahrung. Für sie wird auf die Gleichwertigkeitsprüfung ihres Berufsabschlusses verzichtet. Ergänzend soll es »Anerkennungspartnerschaften« geben, die es ausländischen Fachkräften erlauben, bereits vor ihrem Anerkennungsverfahren in Deutschland zu arbeiten und dieses parallel zu durchlaufen. Bei Fachkräften der Informations- und Kommunikationstechnologie wird auf Deutschkenntnisse gänzlich verzichtet und die Höhe der Gehaltsschwelle gesenkt.
Neu ist auch das dritte Element, die Potenzialsäule, mit der ein »Punktesystem light« eingeführt wird. Die Regelung richtet sich an qualifizierte Personen, die noch keinen Arbeitsvertrag in Deutschland haben und zur Arbeitsplatzsuche kommen wollen. Dazu wird eine Chancenkarte mit einem Punktesystem für berufliche Qualifikation, deutsche Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Alter und Inlandsbezug eingeführt. Sie wird ab einer bestimmten Punktzahl ausgestellt und erlaubt zunächst bis zu einem Jahr die Arbeitssuche und eine Probebeschäftigung.
Darüber hinaus sind weitere Regelungen für geringer qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten vorgesehen. Diese können als weitere (vierte) Säule der Arbeitskräftegewinnung verstanden werden – auch wenn sie nicht so bezeichnet werden: Geplant sind eine Entfristung der Westbalkanregelung mit einer Erhöhung des jährlichen Kontingents von derzeit 25.000 auf 50.000 Personen und eine kontingentierte, befristete und qualifikationsunabhängige Einreise von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung von kurzfristigen Beschäftigungen bis zu sechs Monaten.
Flankierende Maßnahmen sind nötig
Die Reformen sollen laut Bundesregierung zu einer zusätzlichen Einwanderung von 65.000 Arbeitskräften pro Jahr führen. Tatsächlich dürfte es nach diesen Rechtsänderungen keine nennenswerten rechtlichen Hürden für die Zuwanderung für Fachkräften mehr geben. Andere Probleme bleiben aber bestehen, wie die langen und teuren Anwerbe- und Anerkennungsverfahren, die uneinheitliche Praxis in den Bundesländern, die fehlenden Sprach- und Weiterbildungslehrgänge oder die generell schwache Bereitschaft der Arbeitgeber, im Ausland anzuwerben. Die Rechtsänderungen sollten daher durch flankierende Maßnahmen in mindestens vier Handlungsfeldern ergänzt werden:
Erstens wird Deutschland im internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte nur bestehen können, wenn die Vorzüge des Lebens und Arbeitens in Deutschland glaubhaft vermittelt werden. Dazu könnten die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in zehn Ländern geplanten »Zentren für Migration und Entwicklung« einen wichtigen Beitrag leisten, falls sie entsprechend ausgestattet werden.
Zweitens müssen die Verwaltungsprozesse schneller digitalisiert werden, und die Mitwirkung der Ausländerbehörden muss entschlackt werden. Hierfür wären zentrale Ausländerbehörden hilfreich, die es bislang aber nur in neun Bundesländern gibt. Perspektivisch sollten die Ausländerbehörden in Einwanderungsbehörden umgewandelt werden. Zur Beschleunigung der Visaerteilung sollten die Auslandsvertretungen verstärkt die Hilfe von vertrauenswürdigen externen Dienstleistern und der Außenhandelskammern in Anspruch nehmen können.
Drittens sollte die Bundesregierung nachhaltige, faire und entwicklungsorientierte Migrationspartnerschaften mit Herkunftsländern schließen, die so gestaltet sind, dass die Partnerländer Interesse an einer Erfüllung der Verträge haben. Dazu gehören vor allem Angebote zur legalen Migration und zum Ausbau der Berufsbildungssysteme vor Ort. Der neu berufene Sonderbevollmächtigte für Migrationsvereinbarungen der Bundesregierung kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten, falls er die Rückendeckung der beteiligten Ressorts und die nötigen Kompetenzen und Ressourcen erhält.
Viertens werden sich die benötigten Arbeitskräfte nicht allein durch staatliche Anwerbemaßnahmen rekrutieren lassen. Es sollten auch private Vermittlungsakteure einbezogen werden. Die Bundesregierung sollte der Gefahr von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen durch die Entwicklung nationaler Gütesiegel für die Fachkräftegewinnung entgegenwirken sowie die Einbeziehung von Unternehmen, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft in die Anwerbeprogramme fördern.
Diese Verbesserungen bei den Verwaltungsabläufen und die politische Rahmung durch Migrationspartnerschaften würden die Chancen beträchtlich erhöhen, das Problem der Arbeitskräftegewinnung in den Griff zu bekommen.