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Publikationen des German Institute of Development and Sustainability (IDOS)
Updated: 1 day 7 hours ago

Die ‚2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung‘ braucht einen kohärenten Fokus auf Governance und Frieden

Mon, 12/10/2015 - 10:42
Bonn, 12. Oktober 2015. Ende September kam die internationale Gemeinschaft in New York zusammen, um über die neue ‚2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung‘ und deren Ziele (Sustainable Development Goals, SDGs) zu diskutieren und zu entscheiden. Ein wichtiger Unterschied zu den vorherigen Millenniumszielen (Millennium Development Goals, MDGs) ist SDG 16, das die Bedeutung von Frieden, guter Regierungsführung und inklusiven Institutionen für nachhaltige Entwicklung betont. Dies ist ein entscheidender Schritt nach vorne, denn die MDGs hatten diese wichtigen Themen sorgsam und bewusst vermieden. Die SDGs sollten inspirierende Handlungsaufforderungen sein, denn sie sind Teil einer globalen Agenda, der alle UN-Mitgliedsstaaten zugestimmt haben. Leider entsprechen die Unterziele von SDG 16 dem nicht. Insbesondere fehlt ihnen ein überzeugendes Narrativ und eine klare Logik, die deutlich macht, wie die Kernelemente des Ziels – Frieden und gute Regierungsführung – erreicht werden können. Ein gewisses Maß an Unschärfe bei der Formulierung von SDG 16 war für die Erreichung eines politischen Konsenses unvermeidlich, aber die bloße Auflistung verschiedener mit Frieden und guter Regierungsführung zusammenhängender Aspekte allein ergibt noch keine kohärente Strategie. Zudem sind Frieden und gute Regierungsführung eminent politische Themen. Fortschritte in diesen Bereichen können nicht auf die technische Ebene der Effektivität und Effizienz von Institutionen reduziert werden. Doch die Stärkung eines kohärenten Narrativs für SDG 16 ist noch immer möglich. Es kommt nun darauf an, die Indikatoren, an denen in Zukunft die Erreichung der Ziele gemessen werden soll, so zu konzipieren, dass für alle zehn Unterziele ihr Zusammenhang mit Frieden und guter Regierungsführung deutlich wird. Einige der Unterziele von SDG 16 beziehen sich klar auf die beiden Hauptthemen: Rechtsstaatlichkeit, politische Freiheiten, inklusive Institutionen und Verringerung von Korruption sind Governance-, und Gewaltprävention und Waffenströme sind Friedens-Fragen. Andere Themen aber, etwa der Kampf gegen organisierte Kriminalität, illegale Finanzströme oder die Bereitstellung von Geburtenregistrierung, verweisen eher implizit auf ein umfassendes Versagen, funktionierende und inklusive öffentliche Institutionen aufzubauen. Ohne solche Institutionen aber werden dauerhafte Fortschritte bei den spezifischeren Unterzielen unerreichbar bleiben. Manche der SDG-16-Unterziele zeigen zudem entweder zu viel oder zu wenig Ehrgeiz, wodurch das Risiko steigt, dass selbst gut gemeinte Bemühungen von Beginn an zum Scheitern verurteilt sind. Einige sind so formuliert, dass es praktisch unmöglich ist, sie nicht zu erreichen, etwa „Förderung der Rechtstaatlichkeit“ oder „Stärkung der relevanten nationalen Institutionen (...) um Gewalt zu verhindern“. Andere Unterziele legen die Latte zu hoch. Ein Unterziel verpflichtet die Länder zum Beispiel eine „inklusive, partizipative und repräsentative Entscheidungsfindung auf allen Ebenen sicherzustellen“, ein anderes fordert das Ende aller Formen von Gewalt gegenüber Kindern. Obwohl dies alles natürlich höchst wünschenswert ist, wird kaum je ein Land für sich in Anspruch nehmen können, diese Ziele erreicht zu haben. Angesichts der offen formulierten Unterziele wird die Auswahl und Definition der Indikatoren unweigerlich einen großen Einfluss auf den tatsächlichen Fokus der Bemühungen unter SDG 16 haben. Obwohl viele der derzeit diskutierten Indikatoren eine nützliche Fokussierung der Unterziele darstellen, besteht bei anderen die Gefahr, dass sie nur einen Seitenaspekt des eigentlich gemeinten Unterziels abbilden. Zweifellos behandelt SDG 16 Themen, die generell schwer zu messen sind. Dies darf aber nicht zur Vernachlässigung wichtiger, jedoch schwerer messbarer Unterziele zugunsten von leichter messbaren führen. SDG 16 ist für die globale ‚2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung‘ von herausgehobener Bedeutung. Viele Länder haben lange gezögert einzugestehen, dass schlechte Regierungsführung Konflikte anheizt und Entwicklung behindert. Die Zeit von 2001–2015 hat aber deutlich gezeigt, dass fragile Staaten, die durch schwache Governance gekennzeichnet sind, die größten Schwierigkeiten hatten, die MDGs zu erreichen. Durch die Einbeziehung von SDG 16 erkennt die 2030-Agenda nun an, dass globale nachhaltige Entwicklung ohne Fortschritte in den Bereichen guter Regierungsführung und Frieden nicht möglich ist. In der Tat ist SDG 16 sowohl ein wichtiges eigenes Ziel als auch wesentliches Mittel zur Unterstützung der übrigen Ziele. Es ist bedauerlich, dass die politische Sensibilität des SDG-16-Gegenstandes verhindert hat, das Ziel prägnant, leicht kommunizierbar und handlungsorientiert zu formulieren. Um SDG 16 zu erreichen ist eine kohärente Strategie nötig, wie politisch hochsensible Themen, für die es keine einfachen technischen Lösungen gibt, angepackt werden können. Hier zu guten Lösungen zu kommen, wird in den nächsten Jahren die entscheidende Herausforderung sein, damit SDG 16 zum Schlüssel für die Erschließung des Potenzials der 2030-Agenda werden kann.

Zur Bekämpfung der tatsächlichen Fluchtursachen in Syrien

Thu, 08/10/2015 - 10:32
Bonn, 08.10.2015. Wer die aktuelle (innenpolitische) Flüchtlingskrise missbraucht, um die eigene Untätigkeit und Unwissenheit in Bezug auf den Konflikt in Syrien zu kaschieren, kann schneller entlarvt werden als ihm oder ihr lieb ist. Zwei Missverständnisse im Syrienkonflikt und zwei Vorschläge von Bernhard Trautner, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE). Erstes Missverständnis: Nur mit dem Assad-Regime kann der ‚Islamische Staat‘ wirkungsvoll bekämpft werden. „Mit Assad reden“ sagen wieder einmal einige westliche Politiker, gegen den IS bomben – das macht eine Koalition aus arabischen und westlichen Staaten, ‚für Assad bomben‘ – das macht Russland – worum geht es dabei eigentlich? Im stillschweigenden Eingeständnis, dass der (für manchen Salafisten: attraktiven) Brutalität des „Islamischen Staates“ allein mit Luftschlägen nicht beizukommen ist, soll jetzt zumindest verhindert werden, dass der „Islamische Staat“ oder andere islamistische Gruppen Damaskus übernehmen. Abgesehen davon, dass das Regime ohne Unterstützung des Iran, der libanesischen Hisbollah und von Russland nicht einmal mehr die bisher gehaltenen Landesteile verteidigen könnte: Der IS und das Assad-Regime liegen nicht wirklich im Konflikt miteinander, sondern legitimieren sich gegenseitig über ihre ideologische Machtkonkurrenz. Für beide, sowohl für Assad mit Russland an der Seite als auch für den IS, ist die Bedrohung durch die islamistische Nusra-Front gefährlicher.

Noch viel mehr wiegt allerdings die zivile Opposition der Syrer. Weil die Opposition die Wünsche und Forderungen nach Freiheit und Partizipation der Syrer seit 2011 vertritt, genießt sie den Rückhalt der Bevölkerung. Und genau deshalb sind Nusra-Front und die säkulare Opposition primäres Ziel der russischen Luftschläge, selbst wenn Moskau und Damaskus das Gegenteil behaupten. So ist der Kampf gegen den IS für Russland wie für Assad ein wichtiger Vorwand und Legitimation, um sich der Unterstützung des Westens und der arabischen Regierungen zu versichern. Ein Kampf, der dringend notwendig ist. Gleichzeitig ist er zu wichtig und zu umfassend, um ihn allein den Militärs zu überlassen. Wer den IS (allein) militärisch bekämpft, folgt exakt dessen offen formulierter –politischer- Strategie und stärkt ungewollt dessen globalen Nimbus als einzige, politisch unabhängige Kraft in der Region des arabischen Ostens. Gleichzeitig bewirkt der militärische  Kampf (nur) gegen den IS, dass das Assad-Regime militärisch im Vorgehen gegen die Opposition und vor allem aber im Terror gegen die verbliebene Zivilbevölkerung gestärkt wird. Fluchtursachen werden anders bekämpft. Zweites Missverständnis: Die Ursachen der Vertreibung der Syrer im eigenen Land, ihre Flucht in die Nachbarländer und von dort aus nach Europa kann nur durch die Zurückdrängung des „Islamischen Staates“ bekämpft werden. Für die Zivilbevölkerung in Syrien ist gleichermaßen unberechenbar, ob Tod und Verletzung durch das IS-Schwert, durch die Fassbomben des Assad-Regimes oder jetzt durch russische Luftangriffe drohen. Das ‚Kalifat‘ von Raqqa hat in diesem Jahr noch nicht so viele Köpfe abgeschnitten, wie Saudi Arabien Menschen ‚auf Basis der Scharia‘ hingerichtet hat. Der Terror des Assad-Regimes wirkte hingegen mit seinen Fassbomben viel effizienter: Die zynische Vermutung liegt nahe, dass das syrische Regime es möglicherweise darauf angelegt hat, Vertriebene und Flüchtlinge zu produzieren, um für Opposition und Feinde die Kosten des Widerstands in die Höhe zu treiben. Warum sollte das Regime von einer bislang erfolgreichen Überlebensstrategie ablassen oder gar die gepflegte Feindschaft zum ‚Kalifen‘ in Raqqa aufgeben? Ob letzterer dagegen an der massenhaften Vertreibung der Bevölkerung Interesse hat, ist zu bezweifeln: Anders als dies im Westen wahrgenommen wird: Dem IS geht es primär um die ideologische Ausweitung von Macht in der Region – Terror ist lediglich probates Mittel zum Zweck: die vermeintliche weltanschauliche Schwäche der Gegner zu demonstrieren. Was tun? Die Syrer fliehen hauptsächlich aus Furcht vor physischer Bedrohung. Sie fliehen weiter ins Nachbarland oder nach Europa, wenn nicht einmal mehr die Aussicht auf eine Zukunft im eigenen Land besteht. Und genau diese Aussicht wird zerstört, wenn die internationale Politik das syrische Volk vor die Wahl stellt, unter dem IS oder unter Assad zu leben. Das wäre ein falsches Signal. Wer dagegen die Abwärtsspirale unterbrechen will – von Binnen-Vertreibung, Flucht ins Nachbarland, Flucht nach Europa, Ausbluten des Landes und damit die Zerstörung der menschlichen Grundlagen für einen Wiederaufbau – muss internationale Koalitionen für zweierlei bilden: Erster Vorschlag: Die physische Bedrohung der Zivilbevölkerung muss beendet oder bis zu einer umfassenden Lösung gebiets- und übergangsweise unterbrochen werden. Dies könnte durch Schaffung inländischer Fluchtalternativen geschehen, also durch Schutzzonen, die vor Angriffen des IS, vor Assad, russischen und weiteren regionalen Akteuren (Iran, Türkei, Saudi Arabien) gleichermaßen geschützt sind. Die von 1991 bis 2003 existierende Flugverbotszone im Norden und im Süden des Irak könnte als Beispiel dienen. Hier wurde, zwar ohne UN-Mandat, aber de facto der völkerrechtlichen ‚Responsibility to Protect (R2P)‘ entsprochen. Zweiter Vorschlag: Eine politische Perspektive auf Lösungsprozesse eröffnen – für die Menschen, nicht für die Mächtigen. Eine alleinige militärische Lösung gibt es nicht. Politische Verhandlungen reichen jedoch nicht aus – das ist die Lehre aus den vergangenen vier Jahren. Durch Etablierung von Schutzzonen verlöre das Regime in Damaskus einen zentralen Hebel seiner Kriegführung. Damit kann nicht nur zwischen den hauptsächlichen Kontrahenten eine politische Bereitschaft (Lösungsreife) hergestellt werden, eine dauerhafte Lösung zu finden. Die größte Hoffnung aber, die multiethnische und multikonfessionelle syrische Gesellschaft am Leben zu halten ruht auf der lokalen ‚Graswurzel-Ebene‘ – sofern sie jedenfalls nicht weiter massakriert wird.

Die 2030-Agenda – eine kopernikanische Wende in der Entwicklungspolitik?

Mon, 05/10/2015 - 09:00
Bonn, New York City, 05.10.2015. Die Staats- und Regierungschefs der Welt haben letzte Woche in New York die 2030 Agenda for Sustainable Development verabschiedet. Die Agenda mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) steht für einen echten Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik. Entwicklung wird nicht mehr nur als ein Prozess begriffen, der in ärmeren Ländern – oft mit Unterstützung von außen – abläuft. Nicht mehr allein die Abschaffung der Armut steht im Fokus – obwohl sie als SDG1 weiterhin einen sehr wichtigen Platz einnimmt. Unter den Überschriften Menschen, Planet, Wohlstand, Frieden und Partnerschaft nehmen die SDGs eine beispiellose Verschränkung von ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten nachhaltiger Entwicklung vor. Ungleichheit in und zwischen Ländern zu senken ist gleichermaßen ein Ziel wie der Schutz der Ozeane oder der Wandel hin zu nachhaltigen Konsum- und Produktionsmustern. Wichtige Querschnittsthemen wie Migration, wirtschaftliche Integration der Armen und Katastrophenrisikoverminderung werden in den 169 Unterzielen aufgegriffen. Darüber hinaus beinhaltet die 2030-Agenda politische Fragen wie gute Regierungsführung, den Zugang zur Justiz und die Förderung von Frieden und Rechtsstaatlichkeit. Das wichtigste Element dieser „Neudefinition“ der nachhaltigen Entwicklung ist das Versprechen, niemanden zurückzulassen. Die Ziele sollen also nicht nur im Großen und Ganzen erreicht werden, sondern gerade auch für verwundbare und marginalisierte Bevölkerungsgruppen. In ihrer gemeinsamen Erklärung haben die Staatschefs am 25. September 2015 sogar unterstrichen, dass diese ärmsten Bevölkerungsgruppen zuerst erreicht werden müssen. Außerdem erkennt die 2030- Agenda an, dass nachhaltige Entwicklung unteilbar ist und ihre Ziele daher alle Länder dieser Erde verpflichtet. In all diesen Aspekten unterscheidet sich die 2030-Agenda von den Millenniumsentwicklungszielen (MDGs), denen sie nachfolgt. Kritiker bemängeln, dass die 17 SDGs im Vergleich zu den MDGs viel zu zahlreich und komplex sind und dass ihre Umsetzung eine exorbitante Summe Geld verschlingen würde, die niemals als Entwicklungshilfe bereitgestellt werde. Diese Kritik verkennt erstens, dass eine komplexe Agenda notwendig ist, wenn Armutsbekämpfung in all ihren Facetten ernst genommen wird. Es reicht nicht, sich ausschließlich auf Zugang zu Bildung, Müttergesundheit oder wirtschaftliches Wachstum zu konzentrieren, wenn all dies fundamental mit Themen wie Frieden, endlichen Ressourcen, oder dem Schutz von Kollektivgütern wie dem Klima zusammenhängt. Zweitens spiegelt die Agenda das Ergebnis eines umfassenden globalen Konsultationsprozesses wieder. Dies schafft einen ungeheuren Rückhalt bei einer großen Anzahl von Regierungsvertretern, UN-Organisationen, zivilgesellschaftlichen Akteuren und der Privatwirtschaft, die an der Aushandlung beteiligt waren. Ihre aktive Unterstützung wird nun für die Umsetzung in wirtschaftlich wie politisch komplexen Zeiten benötigt. Drittens ist die 2030-Agenda eine universelle Agenda für nachhaltige Entwicklung: Es geht um Armutsbekämpfung, Frieden und Wohlstand innerhalb der Grenzen des Erdsystems in reichen wie in armen Ländern. Entwicklungsgelder und Entwicklungszusammenarbeit sind zwar wichtig, vor allem um die ärmsten und verwundbarsten Bevölkerungsgruppen verstärkt zu unterstützen und mitzunehmen. Dabei sollte nicht aus dem Auge verloren werden, dass auch in ärmeren Ländern inländische Ressourcen und private Geldquellen oft schon eine wichtigere Rolle spielen. Viel Potenzial liegt zudem darin, Steuerflucht zu vermeiden und illegale Finanzströme zu unterbinden. Um die Ziele in reichen und teilweise auch in aufstrebenden Ländern umzusetzen, spielt Entwicklungshilfe zwar keine Rolle. Es bedarf jedoch gewaltiger finanzieller Anstrengungen, um die SDGs zu erreichen. Daher wird auch eine Steigerung von Entwicklungsgeldern notwendig sein. Jetzt geht es an die Umsetzung der 2030-Agenda und der auf dem Gipfel zur Entwicklungsfinanzierung beschlossenen Maßnahmen, auf nationaler und globaler Ebene. Das UN-System steht bereit, um alle Staaten, wo nötig, in der Formulierung ihrer nationalen Strategien zu unterstützen. Länder wie Deutschland und die Schweiz sind nun gefragt. Sie wollen mit gutem Beispiel vorangehen und aufzeigen, wie sich die Agenda national umsetzen lässt. Dafür werden sie sich auch den globalen Überprüfungs- und Rechenschaftsmechanismen stellen. Damit die Umsetzung weltweit in Schwung kommt, muss die 2030-Agenda mehr sein als eine Vereinbarung zwischen 193 Staaten. Sie muss in jedem Land auch zum innenpolitischen Thema werden, zu einem neuen Gesellschaftsvertrag zwischen jenen, die regieren und Pflichten haben und jenen, die regiert werden und Rechte haben. Damit würde die kopernikanische Wende nicht nur für Entwicklungspolitik gelten, sondern für unser gemeinsames, nachhaltiges Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand auf diesem Planeten. Thomas Gass ist Beigeordneter UN-Generalsekretär in der UN-Hauptabteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten, Silke Weinlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE).

Die 2030-Agenda ist beschlossen - jetzt wird sie umgesetzt

Mon, 28/09/2015 - 12:36
New York, Bonn, 28.09.2015. Am 25. September 2015 fiel schon um 11:46 Uhr New Yorker Zeit der Hammer: die 2030-Agenda war beschlossen. Die Delegierten des UN-Nachhaltigkeitsgipfels erhoben sich, klatschten, es wurde gejubelt. Dazu gab es eine Lightshow und Musik von Shakira – dieser emotionale Moment wurde inszeniert, ja, aber er überdauerte den gesamten Gipfel. Immer wieder konnte man Delegierte, Vertreter von UN-Organisationen und von Nichtregierungsorganisationen (NROs) hören, die an den Verhandlungen der letzten zwei Jahre teilgenommen hatten und nun einfach glücklich waren, dass es gelungen ist, diese Agenda zu beschließen. Was haben die Staatsoberhäupter dazu in New York gesagt? Viele Vertreter kleiner und großer, armer und reicher Staaten betonten den engen Zusammenhang zwischen der Abschaffung der Armut und der Bekämpfung des Klimawandels. Die Präsidentin Kroatiens sprach als Erste. Sie stellte fest, dass der politische Rahmen für eine erfolgreiche 2030-Agenda erst dann vollständig sei, wenn in Paris ein anspruchsvolles Klimaabkommen beschlossen werde. Angela Merkel nannte die globale Dekarbonisierung als notwendigen Schritt. Narendra Modi aus Indien begrüßte die Bedeutung, die in der 2030-Agenda Umweltzielen verliehen wird, insbesondere dem Klimaschutz, nachhaltigem Konsum und dem Schutz der Meere. Die thematische Breite der Agenda erlaubte es vielen, die jeweils eigenen Entwicklungsziele mit ihr zu verknüpfen. So deutete sich auch bereits an, dass es schwierig werden kann, die Unteilbarkeit der Agenda durchzuhalten und Fortschritte auch bei den anspruchsvolleren und umstrittenen Zielen zu erreichen. Umso erfreulicher, dass viele Beiträge im Plenum und in den thematischen Parallelsitzungen auf die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen, sozialen und umweltpolitischen Verbesserungen abhoben. So sagte Paula Caballero, die 2011 als Mitglied des kolumbianischen Außenministeriums den Vorschlag der Sustainable Development Goals (SDGs) entwickelt und in die Verhandlungen eingebracht hatte: „Wir sprechen jetzt nicht mehr über einzelne Entwicklungsergebnisse, sondern über neue Entwicklungspfade“. Kolumbien sieht die SDGs als gute Grundlage für die Friedenssicherung und gesellschaftliche Reformen im Land. 47 der 70 Vereinbarungen, die dem Friedensplan mit der Guerilla zugrundeliegen, decken sich mit den SDGs, und sind bereits in den nationalen Entwicklungsplan aufgenommen worden. Während für Vertreter aus Entwicklungsländern die Anknüpfung an die 2030-Agenda auf der Hand lag – Entwicklung ist, was sie anstreben –, war es für reiche Länder noch nicht so einfach: Barack Obama erwähnte in seiner Rede am Sonntag zwar den Klimawandel als Bedrohung, im Zentrum seiner Rede stand aber die traditionelle Verpflichtung, global zur Armutsbekämpfung beizutragen und damit allen Menschen, allen Kindern zu ihren Rechten zu verhelfen. Damit vertrat Obama eher die klassische entwicklungspolitische Interpretation der Agenda, während Angela Merkel progressiv auftrat. Sie betonte klar die Universalität des Zielspektrums und damit auch die Veränderungen, die in reichen Ländern anstehen. Deutschland werde seine Nachhaltigkeitsstrategie im Sinne der 2030-Agenda fortentwickeln und sich damit bereits 2016 der internationalen Überprüfung stellen. Deutschland und andere traditionelle Geber stellten auch Finanzierungsbeiträge in Aussicht. China, als Schwellenland, kündigte ebenfalls einen Fonds von zwei Mrd. USD für die Umsetzung der SDGs im Süden an sowie bis zu 12 Mrd. USD bis 2030 für die Kooperation mit den ärmsten Ländern. Indien will erfolgreiche Lösungen und eigene Ressourcen mit anderen Ländern teilen. Die 2030-Agenda ist eine umfassende Entwicklungsagenda und gerade deshalb darf sie nicht nur als Auftrag an die Entwicklungspolitik verstanden werden. Sie erfordert eine neue Qualität der Kooperation nationaler Ministerien mit Blick auf binnen- und außenorientierte Politiken. Achim Steiner vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen ging einen Schritt weiter. Er forderte, die Märkte entschiedener als bisher zu regulieren, um soziale und ökologische Anforderungen zu erfüllen. Die schwedische Entwicklungsministerin sagte: „Entwicklungshilfe wird die Probleme nicht lösen – politische Lösungen sind gefragt, von uns allen“. Und der Aufbau von staatlichen Strukturen, von Rechtsstaatlichkeit und Frieden stünde im Zentrum der Agenda – nicht nur beim Monitoring. Damit wurde deutlich, dass es der 2030-Agenda nicht um technische Lösungen oder um die Anpassung an ökologisch-ökonomische Sachzwänge gehen kann, sondern um die gesellschaftliche Aushandlung von tiefgreifender Veränderung. An Entwicklungsländer wird diese Forderung seit Jahrzehnten mit großer Selbstverständlichkeit gerichtet. Für Industrieländer ist dies neu: Sie sind eher daran gewöhnt, Reformen in guten Zeiten anzugehen, wenn genug Mittel vorhanden sind, um neue Programme zu finanzieren (und alte Programme weiterlaufen zu lassen, um die Verteilungskämpfe zu begrenzen). Das muss sich nicht nur in der Sozialpolitik, der Klima- und Energiepolitik ändern. Die 2030-Agenda fordert von ihnen, sich auch in der Handels- und Sicherheitspolitik an universellen Normen der Fairness und Chancengleichheit zu orientieren.

2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung – wie relevant wird sie sein?

Tue, 22/09/2015 - 11:51
Bonn, 22.09.2015. Am kommenden Wochenende wird die Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) eine neue Agenda beschließen, die für die kommenden anderthalb Jahrzehnte gelten soll: Sie benennt 17 fundamentale Handlungsfelder, um die Lebensbedingungen der Menschen innerhalb der ökologischen Grenzen des Erdsystems wesentlich zu verbessern. Wird dieses Arbeitsprogramm relevant sein für politisches und gesellschaftliches Handeln in den Ländern und für die internationale Zusammenarbeit? In der politischen Auseinandersetzung über die Relevanz der 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung stand lange die Frage im Vordergrund, ob die Integration von sozio-ökonomischen, politischen und ökologischen Zielsetzungen dafür positiv oder negativ sein würde. Die Skeptiker geben zu bedenken, dass zu viele Ziele keine klaren Prioritäten mehr erkennen ließen und der Fokus auf die ärmsten Bevölkerungsgruppen abhanden gekommen sei. Damit fielen wichtige Anreize für das Engagement von Regierungen weg. Die Befürworter – zu denen ich selbst auch gehöre – sehen die neue, handlungsmotivierende Qualität der 2030-Agenda gerade in ihrer Breite. Der neuartige Verhandlungsprozess für die 2030-Agenda hatte zunächst über mehrere Monate auf eine inhaltliche Bestandsaufnahme von Problemen und Lösungsansätzen in 21 Handlungsfeldern gesetzt. Erst gegen Ende wurden die Verhandlungen über den Text aufgenommen, der die Ziele und Unterziele festschreiben und als Vorschlag an die VN-Generalversammlung gehen sollte. Etwa 70 Regierungsvertreterinnen und -vertreter nahmen an diesem Prozess der Verständigung und Verhandlung teil – und ihr Vorschlag von 17 Zielen und 169 Unterzielen erwies sich als so ausbalanciert, dass es gelungen ist, auch so umstrittene Herausforderungen wie die Gleichberechtigung der Geschlechter, Rechtsstaatlichkeit, Ungleichheit innerhalb und zwischen den Staaten sowie den Schutz der Ökosysteme zu Wasser und zu Lande in die Agenda aufzunehmen. Zum Schluss hat niemand mehr gewagt, zuungunsten einzelner Ziele das Gesamtpaket aufzuschnüren, denn er/sie hätte damit wiederum eigene Prioritäten in Gefahr gebracht. Die Breite ist aber nicht vor allem aus verhandlungstechnischen Gründen positiv zu bewerten: Vielmehr kann sie als normative Übereinkunft zwischen Industrie-, Entwicklungs- und Schwellenländern gewertet werden, die beschreibt, dass zu menschlichem Wohlergehen nicht nur die Überwindung extremer Armut und ein Grundstock an Gesundheit, Bildung und Gleichberechtigung gehören. Darüber hinaus ist es im Interesse zukünftiger Generationen entscheidend, gefährliche Veränderungen in wesentlichen Funktionsbereichen des Erdökosystems zu vermeiden, weil diese sämtliche erreichten Fortschritte bei der Armutsbekämpfung untergraben und umkehren werden. Diese Umweltveränderungen gehen auf Produktions- und Konsummuster zurück, die für die Industrialisierung und heutige Wohlstandsgesellschaften prägend waren und sind. Armutsbekämpfung und Wohlstandsverbesserung kann daher im 21. Jahrhundert nicht erfolgreich und zeitgemäß sein, wenn sie die Wechselwirkungen zwischen Wohlstand und Umwelt nicht erkennt und bearbeitet. Die 2030-Agenda muss daher neben den ärmsten Bevölkerungsgruppen und Ländern auch die reichen Länder, die globalen Mittelschichten und andere Politikfelder in den Blick nehmen. Um die Beziehungen zwischen Umwelt und Entwicklung nicht als Sachzwänge zu behandeln, sondern als Gegenstand normativer und politischer Entscheidungen, ist schließlich die Stärkung von politischer Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit erforderlich – und eine internationale Zusammenarbeit, die das globale Gemeinwohl und damit faire Regeln höher bewertet als die Durchsetzung nationaler Interessen, wenn es um diese Grundsatzfragen geht. Zugegeben – man kann die 2030-Agenda gerade aus dieser Perspektive auch skeptischer lesen: die extreme Armut soll erst 2030 abgebaut sein; zu wenig ist von den bekannten Grenzen der Tragfähigkeit des Erdsystems die Rede (stattdessen viel von Wirtschaftswachstum); es fehlt ein entschiedener Satz zur Dekarbonisierung von Produktion, Verkehr, Konsum; die Menschenrechte werden in der Präambel und der Erklärung genannt, tauchen aber in den Zielen und Unterzielen kaum als Richtschnur wieder auf; für die Gleichberechtigung der Frauen wird keine Frist gesetzt. Aber dies sind gerade die Felder, in denen es nicht nur zwischen Staaten, sondern innerhalb vieler Gemeinwesen scharfe politische Kontroversen gibt. Insgesamt haben die Verhandlerinnen und Verhandler daher gute Arbeit geleistet mit der 2030-Agenda – ein präziseres, ambitionierteres Ergebnis, dem die Regierungen aller Staaten zustimmen können, ist schwer vorstellbar. Ausdrückliches Lob gebührt dafür den Verhandlerinnen und Verhandlern aus Deutschland und der Europäischen Union. Dass die 2030-Agenda geschrieben wurde und nun voraussichtlich so beschlossen wird, ist angesichts der großen Krisen und Herausforderungen, mit denen sich die internationale Staatengemeinschaft befassen muss, viel wert. Und es wird spannend bleiben, nächstes Wochenende in New York zu hören, wie sich die Staats- und Regierungschefs zur 2030-Agenda stellen.

Rettet die Welt, wann es Euch gefällt!

Mon, 21/09/2015 - 09:57
Bonn, 21.09.2015. Die Staats- und Regierungschefs stehen bei der Weltrettung in diesem Jahr im Rampenlicht. Nach dem G7-Gipfel in Elmau und der Konferenz der Vereinten Nationen (UN) zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba folgen am kommenden Wochenende in New York die Verabschiedung der „2030 Agenda for Sustainable Development“ und im Dezember 2015 in Paris ein neues Klimaabkommen. Und wir? Unsere Rolle als Bürgerinnen und Bürger ist längst nicht darauf beschränkt, von Politikern Taten statt leerer Worte zu fordern. Angesichts des Zeitdrucks durch massive globale Herausforderungen wie der Flüchtlingskrise, dem Klimawandel oder der wachsenden Ungleichheit mag sich zunächst Ernüchterung über die internationalen Prozesse breit machen. Die Dokumente von New York und Paris werden schriftliche Beteuerungen enthalten, sich für ein menschenwürdiges Leben auf unserer Erde einzusetzen, doch ob ihnen umgehend Taten folgen, ist fraglich. Denn: Werden politische Vereinbarungen nicht eingehalten, gibt es im Rahmen der UN keine ernstzunehmenden Sanktionsmechanismen. Die Staaten erlassen ihre Regeln selbst und im Zweifel übertrumpfen wirtschaftliche oder geostrategische Partikularinteressen die gemeinsamen Vereinbarungen. Was bleibt, ist das Prinzip der Freiwilligkeit, wie bei den Millennium Development Goals und den Sustainable Development Goals (SDGs). Während es unter Bedingungen der Freiwilligkeit leichter ist, ambitionierte, wenn auch nur abstrakte, Zielsetzungen zu vereinbaren, bleiben diese für verbindliche Abkommen meist vage. Doch die Verantwortung liegt nicht nur bei der internationalen Gemeinschaft. Auch jeder Einzelne muss selbst Verantwortung übernehmen. Wir haben in unseren liberalen Gesellschaften die Freiheit zu zerstören, und tun dies gegenwärtig auch. Aber: die Freiheit, zerstörerisch zu handeln, beinhaltet gleichzeitig auch die Freiheit, es nicht zu tun. Denn individuelle Freiheit geht mit sozialer Verantwortung jedes Einzelnen einher. Auch das ist eine Errungenschaft liberaler Demokratien: Wir können Verantwortung für unser Handeln nicht auf die Regierenden abschieben, denn wir genießen einen großen Entscheidungsspielraum. Und wir sollten die Kosten unserer individuellen Entscheidungen nicht auf die Gesellschaft abwälzen. Wir haben die Wahl zwischen Mallorca oder Nordsee, zwischen Auto oder Fahrrad, zwischen Fleisch oder vegetarischer Ernährung, zwischen kurzlebiger Discounter-Mode oder hochwertiger und langlebiger Kleidung. Durch Informationsfreiheit und Medienvielfalt kann hierzulande niemand glaubwürdig machen, nichts von all den ökologischen und sozialen Kosten unserer Konsumentscheidungen zu wissen. Globale Veränderungen können wir unterstützen, indem wir die Verantwortung für jede unserer kleinen Alltagsentscheidungen erkennen und uns ihr stellen. Wir können sie weder abgeben, noch können wir Verantwortung für andere Menschen übernehmen. Darin liegt die größte Chance auf Veränderung: Wir haben die Freiheit, und damit schlussendlich auch die Macht, die Welt zu retten. Jeder einzelne Mensch, jedes Unternehmen, jede Gemeinde, jeden Tag aufs Neue. Individuelle Verantwortung und internationale Agenden gehen Hand in Hand. Durch den universellen Charakter der neuen Nachhaltigkeitsziele werden nicht nur die Entwicklungs- und Schwellenländer zum Handeln aufgerufen, sondern alle Staaten sind gefordert, einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschlagen. So kann jeder Mensch zum „Entwicklungshelfer“ werden – auch im eigenen Land. Auch das im Dezember zu verabschiedende UN-Klimaabkommen wird alle Staaten mit an Bord nehmen und gleichzeitig den Einfluss privater und lokaler Klimainitiativen anerkennen und fördern. Für die Weltpolitik ist allein schon die Einigung auf eine gemeinsame Richtung im Jahr 2015 ein wichtiger Schritt, auch wenn viele Details zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenden vorerst ungeklärt bleiben. In New York und Paris werden Wege zu einer nachhaltigen globalen Entwicklung geebnet, die eine kollektive Anstrengung der Weltgemeinschaft wahrscheinlicher machen. Doch die Verantwortung des Einzelnen, die Ausgestaltung dieser Nachhaltigkeits- und Klimaschutz-Agenden zu beeinflussen, ist nicht neu: Wir Bürgerinnen und Bürger können uns bereits heute jeden Tag aufs Neue entscheiden, ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung zu sein. Wenn auch Sie die Welt retten wollen, schauen Sie also nicht nur auf die großen Bühnen der internationalen Politik: tun Sie es einfach!

Okka Lou Mathis und Matthias Ruchser beteiligten sich vom 19.-20.09.2015 an der 2. Auflage des Theaterfestivals „Save The World“ in Bonn. Gemeinsam mit James Yarker von Stan’s Cafe aus Birmingham, UK, stellten sie die Dimensionen der Menschen in Bezug zur Erde dar und machten Klimagerechtigkeit und individuelle Verantwortung für die Zuschauer erfahrbar. Im Rahmen des diesjährigen Theaterfestivals lud das Theater Bonn verschiedene Teams aus Künstlern und Experten ein, die aktuellen Herausforderungen zur „Rettung der Welt“ vor dem Klimawandel und seinen Auswirkungen zu thematisieren.

Land in Sicht! Den Wert unseres Bodens erkennen

Mon, 14/09/2015 - 08:31
Bonn, Leeds, 14.09.2015. Am 15. September stellt die Economics of Land Degradation (ELD) Initiative ihren Bericht „The Value of Land“ bei der EU-Kommission in Brüssel vor. Dieser verdient Beachtung. Land und Böden sind Ressourcen, die wir meist stillschweigend voraussetzen. Sie geben uns Nahrung und Energie, speichern Wasser, beherbergen Millionen von Arten, regulieren das Klima, schützen uns gegen Auswirkungen von Überschwemmungen und sind sozioökonomisch, ökologisch und nicht zuletzt kulturell bedeutsam. Doch die Menschheit zerstört Land und Böden mit alarmierender Geschwindigkeit. Die aggregierten Wirkungen lokaler Landnutzungsänderungen drohen eine weitere planetarische Grenze zu überschreiten. Trotz unermüdlicher Aktivitäten zahlreicher NGOs, die sich für nachhaltige Landnutzung einsetzen, und der Koordinierung der entsprechenden internationalen Bemühungen, etwa durch die UN-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung (UNCCD), die Welternährungsorganisation (FAO) oder den Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), gibt es kaum Fortschritte in Richtung einer achtsameren Landnutznutzungspolitik. Während sich die Welt um Klimawandel und Finanzkrisen kümmert, bleiben Fragen von Land und Boden meist auf der Strecke. Dies könnte sich nun ändern. In der zweiten Jahreshälfte 2015 ist „Land in Sicht“:  das Thema gewinnt auf der politischen Agenda an Boden! Die Kosten der Landdegradation Der ELD-Bericht liefert die lang erwartete Grundlage, um nicht-nachhaltige Landnutzung zu stoppen und den Trend umzukehren. Wie der Stern Review on the Economics of Climate Change und The Economics of Ecosystems and Biodiversity (TEEB) versieht er Landdegradation mit einem Preisschild und belegt den Nutzen vermiedener Degradation. Er schafft also eine Grundlage, den sozioökonomischen Wert von Land und Böden zu erkennen. Im Kern zeigt er auf, was wir für einen Wandel in Richtung nachhaltiger Landnutzung zahlen müssen und warnt, dass uns bei Untätigkeit in Zukunft eine viel höhere Rechnung präsentiert werden wird. Politische Entscheidungsträger können und werden auf der Basis ökonomischer Evidenz besser informierte Entscheidungen treffen. Wenn Regierungen abschätzen können, wieviel der Stopp von Landdegradation im Verhältnis zu langfristiger Untätigkeit kostet, sind sie eher zu nachhaltigen Landnutzungspolitiken bereit. Hierzu präsentiert der ELD-Bericht aktuelle und künftige Szenarien, liefert Erkenntnisse über Kosten und Nutzen und neue Belege dafür, dass sich nachhaltiges Bodenmanagement lohnt. Darüber hinaus bietet er Instrumente und Methoden zur Identifizierung von Gebieten, bei denen Sanierung oder Rekultivierung sinnvoll ist. Dies wird umso bedeutsamer im Kontext der neuen Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDGs). Dies gilt insbesondere für SDG 15 zu terrestrischen Ökosystemen und das einschlägige Unterziel 15.3, das dazu aufruft, bis 2030 eine degradationsneutrale Welt zu schaffen. Landdegradationsneutralität besteht dann, wenn die Gesamtmenge gesunder und produktiver Landressourcen stabil bleibt oder zunimmt. Natürlich birgt die praktische Umsetzung des Konzepts eine Reihe von Fragen, die letztlich politisch sind, z.B. wann sollte Land überhaupt als degradiert gelten? Auf welcher Basis und mit welchen Indikatoren sollte die Erreichung von Landdegradationsneutralität gemessen werden? Dennoch, die eindeutige Berücksichtigung von Landfragen im SDG-Katalog unterstreicht den Eindruck, dass ‚Land in Sicht‘ ist. Die Welt ist sich des Problems der Landdegradation bewusst geworden. Wir erkennen endlich die Notwendigkeit an, die Schädigung unseres verbleibenden Grund und Bodens zu stoppen und die Bemühungen zu intensivieren, bereits degradiertes Land zu sanieren. Eine Initiative zur rechten Zeit Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung des ELD-Berichts könnte kaum passender sein. Unmittelbar vor Verabschiedung der SDGs auf dem Gipfel der UN-Generalversammlung zu nachhaltiger Entwicklung am 25.-27. September sendet er ein starkes Signal nicht nur über die Eignung der neuen Ziele, sondern auch zur Umsetzbarkeit der daraus folgenden Entwicklungsagenda. Seine Botschaft wirkt auch im Kontext des für 2015 ausgerufenen International Year of Soils, das gleichzeitig die Halbzeit der UN Decade for Deserts and the Fight Against Desertification (2010-2020) markiert. Mehr noch wird er der UNCCD-Vertragsstaatenkonferenz einen wertvollen Impuls geben, die nur 14 Tage nach dem UN-Gipfel in Ankara beginnt. Dort wird es darum gehen, wie Landdegradationsneutralität erreicht werden kann, welche Ressourcen dafür notwendig sind und welche Rolle die Wissenschaft bei der Bewertung des Fortschritts von SDG-Maßnahmen mit Landbezug spielen könnte. Nicht zuletzt ist er auch im Kontext des neuen Klimaabkommens relevant, das von der UNFCCC-Vertragsstaatenkonferenz im Dezember in Paris angenommen werden soll. All dies unterstreicht die Notwendigkeit, die nachhaltige Bewirtschaftung landbasierter Systeme zu stärken. Diese dient der Anpassung an den Klimawandel ebenso wie dem Klimaschutz. Selten war die Gelegenheit günstiger, den Argumenten für eine nachhaltige Bewirtschaftung von Land- und Bodenressourcen nachdrücklich Gehör zu verschaffen. Die Vorstellung des ELD-Berichts erfolgt zur rechten Zeit und könnte endlich dazu führen, den Wert des Bodens unter unseren Füßen zu erkennen.
Steffen Bauer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und Germany’s Science and Technology Correspondent to the UNCCD
Lindsay C. Stringer, Professor in Environment and Development at the School of Earth and Environment, University of Leeds, UK.

Ein Fünf-Punkte-Plan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise: es gibt keine kleinen Lösungen für große Probleme

Fri, 11/09/2015 - 08:00
Bonn, 11.09.2015. Europa kann keine Inseln der Glückseligen sein, weil grenzüberschreitende Krisen durch Mauern, Wegschauen und nicht-Handeln nicht einfach verschwinden. Das ist die Lehre von 2015: Finanzmarktkrisen und Griechenland, Ebola, Charlie Hebdo und islamistischer Terror mitten in Europa, weltweite Datenspionage bis ins Kanzleramt, das Elend der Flüchtlinge. 2015 ist kein ungewöhnliches Krisenjahr, auf das wieder ruhigeres Fahrwasser folgt. Unter Bedingungen umfassender Globalisierung müssen wir endlich lernen, deren Bumerangeffekte dauerhaft zu beherrschen, wenn Wohlstand und Demokratie eine Zukunft haben sollen. Für die Flüchtlingskrise bedarf es eines umfassenden Ansatzes, eines Fünf-Punkte-Plans, um Eskalationsdynamiken einzudämmen und Menschleben sowie unsere Vorstellung von Humanismus zu retten. Keine der notwendigen Initiativen ist einfach, alle benötigen langen Atem, hohen Ressourceneinsatz und mutige politische Reformen. Erstens sollte Europa, gemeinsam mit den USA und unter Einbeziehung Russlands, des Irans, Saudi Arabiens, Ägyptens und Tunesiens einen Prozess zur langfristigen Stabilisierung und Neuordnung der MENA-Region anstoßen. So wie Europa nach dem Krieg neu aufgebaut wurde, gilt es nun, den Nahen- und Mittleren Osten „neu zu erfinden“. Schnelle Lösungen sind ausgeschlossen, deshalb muss rasch begonnen werden. Gesucht werden pragmatische Visionäre vom Typus des gerade verstorbenen Egon Bahr, die trotz oder wegen der verfahrenen Situationen in Syrien, Irak, Libyen, Jemen einen multilateralen Prozess entwerfen, um Staatenzerfall, Krieg, Islamistischen Terror und Flüchtlingselend nach und nach einzuhegen. Zweitens ist ein großer Anlauf von UN, EU, G 7 und G 20 gefordert, um faire und menschenwürdige Lösungen für 60 Millionen Flüchtlinge weltweit zu suchen. Beschämend genug, dass wir Europäer uns dieser Aufgabe  erst zuwenden, nachdem ein kleiner Teil diese entwurzelten Menschen sich auch Richtung Europa aufmacht. Länder wie Jordanien, Libanon, die Türkei oder auch Pakistan, Uganda, Tschad mit deutlich höheren Flüchtlingszahlen (pro Einwohner) als in Europa, müssen massiv unterstützt werden. Wie können multilateral geschützte Sicherheitszonen für Flüchtlinge geschaffen werden? Wie können Flüchtlingslager entstehen, die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit und damit die Endlosschleife von Apathie und Gewalt vermeiden. Wie können faire Lastenverteilungen für zukünftige Klimaflüchtlinge, z.B. aus den pazifischen Inselstaaten und von Dürre bedrohten afrikanischen Ländern, aussehen? Drittens müssen wir in Deutschland und Europa unsere Hausaufgaben machen und für eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen und deren Integration sorgen. Es geht um Flüchtlingspolitik und Einwanderungspolitik im weiteren Sinne. Damit sind finanzielle, institutionelle, arbeitsmarkt-, sozial- und bildungspolitische, aber vor allem auch moralische Herausforderungen verbunden. Politik und Zivilgesellschaft sind gefordert, damit die größte Flüchtlingskrise nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in einer humanitären Bankrotterklärung Europas mündet. Wie kann zirkuläre Migration gestaltet werden, um Menschen in Deutschland Arbeit zu ermöglichen und deren spätere Wiedereingliederung in stabilisierten Herkunftsländern zu fördern? Wie kann europäische Zusammenarbeit aussehen, um Zuspruch für die Viktor Orbans Europas zu minimieren? Wie können Kriegsflüchtlinge geschützt und humanitär vertretbare Lösungen für Menschen entwickelt werden, die auf eine bessere ökonomische Zukunft in Deutschland und Europa hoffen? Viertens müssen Fluchtursachen bekämpft werden. Flüchtlinge kommen aus Kriegsgebieten und zerfallenen Staaten, Ländern mit desolaten ökonomischen Perspektiven oder aus Diktaturen, in denen Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Keine dieser Problemlagen ist rasch zu „beheben“, doch Entwicklungspolitik, kluge Diplomatie und Sicherheitspolitik können wirksam sein und Entwicklungs- und Lebensperspektiven eröffnen. Das kostet Geld, Zeit und Kreativität. Die Afrikapolitik Deutschlands und Europas müssen entsprechend neu ausgerichtet und ausgebaut werden. Europa muss seine Aktivitäten in den Balkanstaaten signifikant verstärken. Wirksame Klimapolitik ist präventive Flüchtlingspolitik. Fünftens ist die Bildungspolitik gefragt. Die nächsten Generationen müssen lernen, in einer offenen, heterogeneren Einwanderungsgesellschaft zu leben. Dazu gehören Kenntnisse des Islam genauso, wie der Umgang mit unvermeidbaren Konflikten in gesellschaftlichen Stresssituationen, Toleranz und die Verpflichtung aller auf Demokratie und Menschenrechte. Die Bildungspolitik muss außerdem darauf vorbereiten, dass ein globale Kooperation und Weltblick Grundvoraussetzungen für Frieden und Wohlstand in einer eng vernetzten Welt sind. Immanuel Kant hatte schon Ende des 18. Jahrhunderts, in der entstehenden Epoche der Aufklärung gemahnt: es reicht nicht Staatsbürger einer Nation zu sein – die Menschen müssten Weltbürger werden. Dies ist eine zentrale Aufgabe, damit die internationale Gemeinschaft nicht in einem Meer unsteuerbarer Konflikte versinkt.
Dieser Beitrag wurde in einer Langfassung auf ZEITonline mit dem Titel "Große Ideen für große Probleme gesucht" erstveröffentlicht.

Was zur Entschärfung der syrischen Flüchtlingskrise getan werden sollte – und was nicht

Tue, 08/09/2015 - 08:14
Bonn, 08.09.2015. Die zunehmende Anzahl syrischer Flüchtlinge, die in der EU Schutz suchen, hat in den vergangenen Wochen eine in der jüngsten europäischen Geschichte beispiellose Krise verursacht. Von einer Bevölkerung von rund 23 Millionen Syrern vor dem Krieg sind etwa zwölf Millionen aus ihrer Heimat geflohen – sieben Millionen sind Binnenflüchtlinge, fünf Millionen sind vor allem in den Libanon, nach Jordanien und in die Türkei geflohen. Etwa 340.000 sind 2015 nach Europa gekommen.

Je länger sich der Krieg hinzieht, desto verzweifelter ist die Lage der einfachen Syrer geworden. Immer mehr Menschen haben die Idee aufgegeben, nach Hause zurückzukehren und versuchen, ins relativ sichere Europa zu gelangen. Die lobenswerte Entscheidung der deutschen Regierung, alle Asylanträge von Syrern zu akzeptieren, ermöglicht es Deutschland, gegenüber anderen Regierungen der EU moralische Größe zu zeigen. Doch ohne legale und sichere Routen hier her sind syrische Familien gezwungen, ihr Leben in die Hände skrupelloser Schlepper zu legen. Deren psychopathische Missachtung anderer hat zu entsetzlichen Tragödien geführt wie die der 71 Toten, die in einem LKW auf der Autobahn zwischen Ungarn und Österreich entdeckt wurden.

Ohne Aussicht auf ein Ende des Bürgerkrieges und angesichts der überstrapazierten Kapazitäten der Nachbarländer Syriens wird sich die Krise noch verschlimmern, wenn nicht drei Dinge gleichzeitig geschehen. Die EU und die Regierungen der Mitgliedsstaaten haben dabei eine entscheidende Rolle zu spielen. Keiner der drei Schritte ist einfach, weil wichtige Akteure entweder eher an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert oder noch nicht bereit sind, den für eine Veränderung notwendigen Preis zu zahlen.

Erstens muss der Krieg in Syrien beendet werden. Dafür braucht es ein international vermitteltes regionales Abkommen, das alle wichtigen Akteure an einen Tisch bringt, einschließlich des Assad-Regimes, syrischer Oppositionsgruppen, der Iraner, Russen, Kurden, Türken und Saudis. Der IS sollte ausgeschlossen sein; dieses Problem verlangt statt Diplomatie eine multilaterale Eindämmungsstrategie. Diese muss das zu erreichende Abkommen, das das Töten im restlichen Syrien beendet, ergänzen. Angesichts der Animositäten zwischen den großen Spielern der Region und ihrer höchst unterschiedlichen Interessen erscheint ein regionales Abkommen leider als Wunschtraum. Dennoch - ohne internationalen Druck auf die regionalen Akteure wird dieser Krieg nicht zu stoppen sein. Und wenn der Krieg nicht aufhört, werden Menschen weiterhin fliehen.

Zweitens müssen die internationalen Anstrengungen deutlich erhöht werden, um die humanitären Krisen in den Nachbarländern Syriens auch langfristig zu bewältigen. Die Situation für Flüchtlinge wird unhaltbar und die Spannungen mit den lokalen Bevölkerungen nehmen zu. Erwachsene können nicht arbeiten und Kinder erhalten keinen Schulunterricht. Internationale Organisationen haben Bildungs- und Ausbildungsprogramme begonnen – doch wenn nicht noch viel mehr getan wird, wird eine ganze Generation von Syrern ‚verloren‘ sein. Die humanitäre Hilfe ist chronisch unterfinanziert und das 3RP Programm der UN hat organisatorische und finanzielle Probleme. Es gibt durchaus interessante Ideen- etwa die Einrichtung einer eigenen Industriezone für Syrer in Jordanien. Das Problem mit solchen Anstrengungen ist zweifach: Die großen westlichen Geber, China und die Golfstaaten zögern, mehr Geld bereitzustellen und die Libanesen und Jordanier betrachten angesichts ihrer Erfahrungen mit palästinensischen Flüchtlingen alles mit Argwohn, was nach einer dauerhaften Flüchtlingsansiedlung aussieht. Doch Tatsache bleibt: Solange sich die Bedingungen für Flüchtlinge in Syriens Nachbarländern nicht verbessern, nimmt nicht nur der Flüchtlingsdruck auf Europa sondern auch die Gefahr der Radikalisierung zu.

Drittens müssen sich die EU-Mitglieder einigen, wie sie mit der Durchreise und der längerfristigen Bleibe von Flüchtlingen umgehen wollen, bevor die Punkte 1 und 2 wirksam werden. Es gibt viele Gründe, warum dies bislang noch nicht geschehen ist. Die Debatten werden häufig von Ratlosigkeit und dem Austausch von Gerüchten dominiert. Die öffentliche Meinung scheint gespalten zwischen jenen, die denken, dass Europa die moralische Verantwortung und die Kapazität hat, syrische Flüchtlinge aufzunehmen und jenen, die diese als Bedrohung der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität Europas sehen. Angesichts der Leidenschaft, mit der die Positionen vertreten werden, wird eine Einigung schwer werden. Doch ist es eine schlichte Tatsache, dass das Chaos, das wir in den vergangenen Wochen gesehen haben, noch größer werden wird, wenn nicht bald ein EU-Abkommen erreicht wird. Dies wirft die Frage auf, wie viele Leichen die EU, die angeblich für Menschenrechte und Freiheit steht, noch zu akzeptieren bereit ist.

Zwei Dinge, die nicht funktionieren und das Leid noch vergrößern werden, sind eine weitere westliche Intervention im syrischen Krieg und die Abschottung von Europas Grenzen. Ersteres würde nur noch destruktivere, nicht kontrollierbare Kräfte entfesseln, wie bei allen westlichen Interventionen in der Levante seit dem Ersten Weltkrieg. Letzteres wird die Flucht nur teurer und noch gefährlicher machen, aber verzweifelte Menschen nicht davon abhalten, es zu versuchen.

Den multilateralen Schwung nutzen – Die Vereinten Nationen und die 2030-Agenda

Mon, 07/09/2015 - 09:00
Bonn, 07.09.2015. Ende September werden die Staats- und Regierungschefs in New York die neue Agenda für nachhaltige Entwicklung verabschieden und damit die wichtigsten entwicklungspolitischen Handlungsfelder für die nächsten fünfzehn Jahre benennen. Mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) ist die neue 2030-Agenda nicht nur wesentlich umfangreicher als die der acht Millenniumsentwicklungsziele (MDGs), denen sie nachfolgt. Erstmals gelten die Ziele universell, das heißt, für arme, aufstrebende und reiche Länder gleichermaßen. Und die Agenda bringt die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimensionen von nachhaltiger Entwicklung auf eine beispiellose Art und Weise zusammen. Auch Deutschland ist nun dazu aufgerufen, Fortschritte zu erzielen, z.B. mit Blick auf nachhaltigen Konsum oder Senkung des Armutsrisikos.

Obwohl die Ziele häufig den für multilaterale Prozesse unvermeidlichen Kompromisscharakter aufweisen – im Kern ist die 2030-Agenda eine ambitionierte und dem 70. Jubiläum der Weltorganisation würdige Vision.

Die neue Agenda mit ihren universalen und transformativen Ansprüchen stellt allerdings beispiellose Anforderungen. War bei den MDGs die Rolle der UN relativ einfach zu umreißen, stellt sich die Umsetzung der SDGs deutlich komplexer und verschwommener dar. Trotz bekannter Schwächen ist das UN-System ein Trumpf, den es bei der Umsetzung der neuen Agenda zu spielen gilt. Zum einen sind Organisationen wie das UN-Entwicklungsprogramm oder Kinderhilfswerk wichtige Akteure, die ihre Legitimität, Neutralität und weltweite Präsenz gewinnbringend in ärmeren Staaten einsetzen können. Zum anderen unterstützen etwa die Weltgesundheitsorganisation oder die Internationale Arbeitsorganisation alle Staaten darin, globale Güter wie Gesundheit oder faire Arbeitsbeziehungen zu schützen. Darauf gilt es aufzubauen.

Damit die UN in der Lage ist, die Umsetzung der 2030-Agenda zu prägen und voranzubringen, bedarf es allerdings fundamentaler Veränderungen. Längst bekannte Probleme des UN-Systems müssen angegangen werden. Speziell das UN-Entwicklungssystem ist fragmentiert und wenig effizient. Synergien zwischen einzelnen Organisationen und Programmen werden vor Ort noch zu selten erzeugt und der mögliche Mehrwert aus dem menschenrechtsbasierten Mandat zu wenig genutzt. Nun gilt es einmal mehr, die sozialen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeitsaspekte besser zusammenzubringen, sowohl konzeptionell als auch durch die praktische Zusammenarbeit verschiedener UN-Institutionen vor Ort.

Den multilateralen Schwung nutzen
Zwei umfangreiche und komplexe multilaterale Aushandlungsprozesse wurden dieses Jahr trotz Umbrüchen und Krisen im internationalen System erfolgreich abgeschlossen: zu Entwicklungsfinanzierung und zur 2030-Agenda. Jetzt gilt es, diesen Schwung zu nutzen:

Erstens sollten die Mitgliedsstaaten, und zwar die reichen ebenso wie aufsteigende Schwellenländer, die UN mit verlässlichen und ausreichend nicht-zweckgebundenen Mitteln ausstatten. Nur wenn UN-Organisationen planen können, besteht die Grundlage für eine strategischere und kohärentere Ausrichtung ihrer Tätigkeiten.

Zweitens müssen die Entwicklungs- und Schwellenländer mehr Mitspracherechte bekommen. Sie pochen seit Jahren entsprechend ihres gewachsenen globalen Einflusses auf eine geografisch ausgeglichene Repräsentation nicht nur im Sicherheitsrat, sondern auch in Aufsichtsgremien von UN-Entwicklungsinstitutionen.

Drittens sollte der im Wirtschafts- und Sozialrat laufende Dialog für eine radikale Überprüfung der UN-Entwicklungszusammenarbeit im Lichte der SDGs genutzt werden. Es gilt eine weitere Zersplitterung des Systems zu vermeiden, eine mögliche Folge der neuen Agenda. Besser wäre es noch, größer zu denken und jene Tätigkeitsfelder der Vereinten Nationen, die ebenfalls die Erreichung der SDGs betreffen, mit hinzuzuziehen, wie z.B. Peacekeeping, humanitäre Hilfe und Peacebuilding.

Bisherige Reformbemühungen scheiterten nicht selten an den Interessensunterschieden zwischen jenen zwei Lagern, die trotz starker Ausdifferenzierung in der realen Welt immer noch alle Verhandlungen prägen: „der Norden“, also vor allem USA, EU und andere OECD-Länder, und „der Süden“, zu dem arme Entwicklungsländer sowie aufsteigende Mächte wie China, Brasilien und Indien gehören. Nicht selten vermutete „der Süden“ hinter den Reformideen „des Nordens“ den Versuch, die UN für die eigenen Prioritäten (z. B. guter Regierungsführung, Sicherheitspolitik) zu instrumentalisieren, zu Lasten wirtschafts- und sozialpolitischer Themen.
 
Nun kommt es darauf an, weitere Gemeinsamkeiten zu identifizieren und Reformschritte weiter zu konkretisieren. Die Gelegenheit ist günstig, die Weichen für einen Wandel hin zu einer Weltorganisation zu stellen, die sowohl den Bedürfnissen einzelner Staaten als auch der Weltgesellschaft besser gerecht wird. Eine neue UN-Generalsekretärin, die im Januar 2017 das Steuer übernehmen wird, könnte hier gleich weitermachen.

Prävention statt Panzer: Vergangenheitsbewältigung im Irak als Faktor der Stabilisierung

Mon, 31/08/2015 - 09:00
Bonn, 31.08.2015. Die Berichterstattung über den Krieg des selbst ernannten „Islamischen Staates“ gegen den Irak und Syrien ist hierzulande stark von der politischen Instabilität und von geostrategischen Konstellationen geprägt. Militärische Lösungen dominieren die Diskussionen. Darüber gerät jedoch die langfristige Traumatisierung der Zivilbevölkerung leicht in Vergessenheit. Aber es ist vor allem die Zivilbevölkerung, die durch die Angriffe des Islamischen Staats bedroht wird. Hinzu kommen langfristige psychosoziale Folgen, wie sie durch Vertreibung, Vergewaltigung und physische Angriffe verursacht werden.
Das Land zwischen Eufrat und Tigris ist seit Dekaden mit einer massiven Gewalt konfrontiert, die nicht abzuebben scheint: die Kriege mit dem Nachbarland Iran in den 1980er Jahren, der US-Angriff in Folge der Besetzung von Kuwait durch Truppen Saddam Husseins und die US-Invasion seit 2003. Ein aktueller Höhepunkt der Gewalt ist das Erscheinen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“. Seit mehr als einem Jahr überzieht sie den Irak und das Nachbarland Syrien mit einer beispiellosen Kampagne der Gewalt und sorgt für weltweite Aufmerksamkeit.
Ergebnis der neuesten Entwicklungen sind massive Vertreibungen, Entführungen, eine weitverbreitete Traumatisierung der Bevölkerung, Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie materielle Zerstörungen in den Gebieten, die vom „Islamischen Staat“ angegriffen oder besetzt wurden. Die Region Kurdistan, die Zufluchtsstätte vieler Vertriebenen, ist selbst seit Dekaden Gewaltexzessen unterworfen. Traurige Höhepunkte waren etwa die Anfal-Kampagne des ehemaligen Diktators Saddam Hussein, der Ende der 1980er Jahre im Zuge einer Strafaktion zehntausende vor allem kurdische Zivilisten zum Opfer fielen und der Giftgasangriff auf die Kleinstadt Halabja im Jahre 1988 mit 5000 Toten in nur wenigen Tagen. Die erlebte, massive Gewalt hinterlässt auch Jahre nach einem beendeten Konflikt ihre Spuren in der Gesellschaft. Zu ihnen gehören schwere Traumata, die sich vielfach in Angst, Wut, Depressionen oder Schlaflosigkeit manifestieren. Die psychischen Störungen einer Vielzahl von Menschen beeinflussen das soziale Gefüge einer Gesellschaft nachhaltig. Die internationale Gemeinschaft ist daher aufgerufen, bei ihrer Suche nach Frieden und Stabilität im Irak und darüber hinaus, diese langfristigen Effekte des Krieges zu berücksichtigen. Der Frieden manifestiert sich nicht nur in der Schaffung demokratischer Institutionen, der Abhaltung von Wahlen, passierbaren Straßen und einer funktionierenden Energieversorgung. Diese sind zweifelsohne wichtige Elemente. Aber darüber hinaus müssen Traumata aufgearbeitet werden, um ein erneutes Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlicher ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit zu ermöglichen, um zukünftigen Terrorgruppen oder Milizen auf der Suche nach Rache den Boden zu entziehen. Nach wie vor ist die internationale Gemeinschaft, also die arabischen Nachbarländer mit ihren verschiedenen Interessen sowie die westlichen Staaten, weit davon entfernt, für die gebeutelte Region einen Plan zur Befriedung, zur staatlichen Konsolidierung und Versöhnung auch nur anzustreben. Aufgrund der historischen Verbindungen mit der Region trägt sie jedoch zumindest eine Mitverantwortung für das Geschehen. Einen solchen Plan bräuchte es jedoch dringend, denn die aktuellen Terrorkampagnen, die Flüchtlingsströme und Gewaltexzesse sind – wie das Beispiel Irak zeigt – die Probleme von Morgen für den Westen. Der deutsche Export von Militärmaterial ist in diesem Zusammenhang sicherlich keine gute Investition in die Zukunft. Bei aller gegebenen Notwendigkeit, terroristische Gruppen auch militärisch zu bekämpfen, sollte das „Danach“ einer von Gewalt gezeichneten Gesellschaft unbedingt Teil eines weitreichenden Plans zur Konsolidierung sein. Einzelne, beispielhafte Initiativen gibt es bereits. Dazu gehört die Vereinigung Jiyan, die 2005 gegründet wurde und als erste Organisation dieser Art Folteropfer im Irak unterstützt und ihnen psychologische Hilfe anbietet. Jiyan betreut Menschen aller ethnischer und religiöser Gruppen und macht sich für die Rechte von Frauen und Kindern stark. In Deutschland arbeitet die Gruppe mit dem Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin (BZFO) zusammen. Auch die christliche Organisation Wings of Hope arbeitet bei der Traumabewältigung eng mit Jiyan zusammen und bildet etwa vor Ort einheimische Fachkräfte fort. Diese und ähnliche Anstrengungen verdienen die Aufmerksamkeit und Unterstützung der Öffentlichkeit sowie der politischen Entscheidungsträger. Dieser Artikel ist auch bei ZEIT Online erschienen (02.09.2015)

Ausbau des Suezkanals: Was hat Ägypten davon?

Mon, 24/08/2015 - 09:30
Bonn, 24.08.2015. Feierlich hat der ägyptische Präsident as-Sisi Anfang August 2015 eine 35 Kilometer lange zweite Rinne des Suezkanals zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer eingeweiht. Die zusätzliche Rinne erhöht die Kapazität der Wasserstraße erheblich, weil sie nun auch von Schiffen mit größerem Tiefgang genutzt werden kann. Außerdem lässt die zweite Rinne auf bestimmten Abschnitten auch Gegenverkehr zu – bislang konnte der Kanal zur selben Zeit immer nur in einer Richtung befahren werden. Was aber bringt das dem Land Ägypten? Zunächst ist der Ausbau für Ägypten – und seinen Präsidenten as-Sisi – ein großer Erfolg. Planung, Bau und selbst die Finanzierung erfolgten durch Ägypter. Die Regierung hatte hierfür eine Staatsanleihe aufgelegt – ausschließlich an Ägypter. Sie reichte nicht nur für die Finanzierung des Baus aus, sondern ermöglicht darüber hinaus auch noch die Entwicklung der Kanalregion. Einzig die Maschinen kamen aus dem Ausland: zeitweise waren drei Viertel aller weltweit existierenden Saugbagger am Aushub beteiligt. Die Bauzeit, für die ursprünglich drei Jahre veranschlagt waren, konnte auf ein Jahr verkürzt werden. Für den Präsidenten und sein immer autoritärer handelndes Regime bedeuten die Erfolge beim Ausbau des Suezkanals einen wichtigen Prestigegewinn. Darüber hinaus wird die Zunahme des Schiffsverkehrs schon ab diesem Jahre mehr Kanalnutzungsgebühren in die Kassen des Staates spülen. Schon heute generieren sie 8 % der Staatseinnahmen, und die ägyptische Regierung hofft auf einen Anstieg auf das Zweieinhalbfache – nicht unwichtig in Zeiten, in denen das Haushaltsdefizit rund 11 % der Wirtschaftsleistung entspricht. Neben dem Ausbau des Suezkanals sieht das wirtschaftspolitische Programm des ägyptischen Präsidenten noch weitere Megaprojekte vor: eine neue Hauptstadt auf halbem Weg zwischen Kairo und dem Suezkanal, zahlreiche neue Touristenstädte an den Küsten des Roten Meres und des Mittelmeeres sowie  riesige Bewässerungsprojekte in der Wüste, durch die neue landwirtschaftliche Produktionsflächen entstehen sollen. Nicht zuletzt soll auch der Bergbau (Gold, Kupfer, Eisen, Phospaht etc.) vorangetrieben werden. Diese Projekte haben eines gemein: sie sollen die Einnahmen Ägyptens aus seinen traditionellen Einkommensquellen steigern. Rund 8 % der diesjährigen Deviseneinnahmen dürften aus Suezkanal-Nutzergebühren kommen, 25 % aus dem Verkauf von Erdgas und Erdölderivaten, 13 % aus Gastarbeiterüberweisungen, 10 % aus dem Tourismus – aber nur 6 bzw. 14 aus dem Export von anderen Dienstleistungen und Industriegütern. Ägyptens traditionelle Deviseneinnahmen lassen sich aber nicht beliebig steigern. Selbst das Tourismuspotenzial des Landes ist irgendwann ausgereizt – ganz zu schweigen von den Kapazitäten des Suezkanals oder des Erdöl- und Erdgassektors. Zudem schaffen diese Branchen – mit Ausnahme des Tourismus – kaum Arbeitsplätze. Gerade dies aber wäre wichtig, um die soziale und politische Lage im Land zu stabilisieren: 13 % aller Erwerbspersonen sind arbeitslos und weitaus mehr sind vollkommen unterbeschäftigt, das heißt sie stehen rund um die Uhr am Arbeitsplatz und verdienen dennoch – mangels Nachfrage – fast nichts. Und jedes Jahr treten weitere 600.000 junge Ägypterinnen und Ägypter auf den Arbeitsmarkt. Die ägyptische Wirtschaft muss also schnellstmöglich diversifizieren. Eine ausreichend große Zahl von Arbeitsplätzen kann nur durch den Aufbau neuer Industrien geschaffen werden. Wer könnte dies finanzieren? Grundsätzlich kommen der Staat, inländisches Privatkapital, Investoren im Ausland und ägyptische Kleinbetriebe in Betracht. Eine Industrialisierung durch Staatsbetriebe ist in Ägypten aber schon mehrfach gescheitert, weil deren Förderung schon bald nach der Gründung nicht mehr ökonomischen Kriterien, sondern politischer Patronage folgte. So wird man auf die anderen drei Investitionsquellen setzen müssen. Ist es aber realistisch, dass ägyptische Unternehmer in den kommenden Jahren neue Branchen aufbauen und für Ägypten neue Märkte im In- und Ausland entwickeln? Wohl eher nicht. Viel zu sehr mangelt es ihnen an ausreichend gut ausgebildeten Arbeitskräften, an Kreativität und Innovationskraft, an Zugang zu Bankkrediten und essenziellen Marktinformationen und vor allem an Rechtssicherheit: Jederzeit müssen ägyptische Unternehmen mit staatlicher Willkür und Korruption rechnen. Für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung Ägyptens wären daher strukturelle Reformen viel wichtiger als teure Megaprojekte wie der Ausbau des Suezkanals oder der Neubau einer Hauptstadt. Der Staat müsste das Bildungssystem reformieren, das derzeit eher auf das Auswendiglernen von Fakten denn auf das Heranziehen einer jungen kreativen, teamfähigen und kritisch denkenden Generation angelegt ist, die neue Ideen zur Diversifikation der ägyptischen Ökonomie entwickeln könnte. Er müsste die Ausbildung ägyptischer Arbeitskräfte und die Versorgung von Investoren mit Kapital verbessern. Er müsste Investoren Unterstützung bei der Identifikation zukunftsorientierter Wirtschaftsbranchen bieten. Und er müsste vor allem die Transparenz und Rechtsstaatlichkeit in der Justiz und der öffentlichen Verwaltung verbessern. Zweifellos verlangen diese Aufgaben von der ägyptischen Regierung viel mehr Planungsfähigkeit und Mut als der Ausbau des Suezkanals. Dieser Beitrag ist auch auf ZEITonline erschienen.

Kolumbien: auf steinigem Weg zum Frieden

Mon, 03/08/2015 - 08:30
Bonn, 03.08.2015. Der amerikanische Doppelkontinent ist in den letzten Wochen vor allem durch die Annäherung zwischen den langjährigen Erzfeinden USA und Kuba in die Schlagzeilen deutscher Medien geraten. Nach Jahrzehnten der Konfrontation zeichnet sich hier eine nachhaltige Entspannung ab. Aber Havanna ist seit geraumer Zeit auch Schauplatz eines anderen Prozesses. Seit November 2012 finden hier Verhandlungen zwischen der Regierung Kolumbiens und der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) statt, die Anlass zu vorsichtiger Hoffnung auf die Beendigung des längsten Krieges in der Region geben. Dabei finden die Verhandlungen in einem schwierigen Umfeld statt. Die FARC und das Militär kämpfen vornehmlich auf dem Land gegeneinander. Die Regierung lehnt eine Feuerpause ab, um den Eindruck von zu großer Nachgiebigkeit zu vermeiden. Bei früheren Verhandlungen Ende der 1990er Jahre war den Rebellen sogar eine ganze Region überlassen worden, was letztendlich zu einer Stärkung der Guerilla geführt hatte. Diese Entwicklung soll mit der harten Haltung unterbunden werden. Die Guerilla ihrerseits hat ihre Angriffe seit Mai erneut intensiviert, nachdem sie einen einseitigen Waffenstillstand aufgekündigt hatte. Vor allem die ländliche Bevölkerung leidet unter den nie beendeten Kämpfen. In der kolumbianischen Öffentlichkeit ist die Zustimmung zu den Friedensverhandlungen gleichwohl recht niedrig, da die städtische Bevölkerung weniger von den Auswirkungen des Guerilla-Krieges betroffen ist. Auch ist die vormals politische Ausrichtung der FARC mit ihrem Kampf um Landreformen und sozialer Inklusion mit den Jahren verblasst. Etwaige politische Ziele sind somit immer weiter in den Hintergrund gerückt. Mit den Jahren hat sich bei der FARC eine Kriegführung um des schieren Profitstrebens breitgemacht. Mit den Angriffen auf Ziele, vor allem der Energieversorgung, in den großen Städten des Landes haben sich die FARC zwar wieder in das Bewusstsein der Bevölkerung gebombt, die Zustimmung zu einer etwaigen Einigung wird durch die Aktionen jedoch kaum steigen. Rechte der Zivilbevölkerung stärken
Der Konflikt in Kolumbien hat mehr als vier Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Das Land führt mit Sudan und der Demokratischen Republik Kongo die Liste der Länder mit den meisten Binnenvertriebenen weltweit an. Frauen, Männer und Kinder wurden und werden durch Folter, Vergewaltigung, Mord, Entführungen, Erpressungen, aber auch durch die Verleugnung elementarer sozialer Bedürfnisse wie den Zugang zu Land, Bildung oder Wasser zu Hauptopfern dieses Krieges. Die Verhandlungen zwischen der ältesten Guerilla-Gruppe Lateinamerikas und der konservativen Regierung Santos sind alles andere als einfach. Sie werden jedoch, trotz der Rückschläge vor Ort, weiter geführt, was an sich eine gute Nachricht ist. Eine noch bessere Nachricht wäre selbstverständlich, wenn sich die Kriegsparteien auf einen Waffenstillstand einigen könnten, um die Friedensbemühungen für die Menschen in den betroffenen Gebieten tatsächlich fühlbar zu machen. Mut zu Ausgleich und Pluralität
Trotz aller Schwierigkeiten haben sich die Konfliktparteien vorgenommen, dicke Bretter zu bohren. Im Verhandlungsprozess wurden fünf Themen auf die Agenda gesetzt, die nacheinander abgearbeitet werden sollen. Dazu gehören die Lösung der Landfrage, der Drogenanbau, die politische Teilhabe, die Entschädigung der Kriegsopfer und schlussendlich die Beendigung des Krieges. Konfliktlinien, mit denen sich die kolumbianische Gesellschaft seit Dekaden konfrontiert sieht. Mit dem Gesetz 1448 zur Entschädigung und Wiedergutmachung der Kriegsopfer vom Dezember 2011 hat die Regierung Santos erste ermutigende Zeichen für die Aufarbeitung der blutigen Vergangenheit gesetzt. Darüber hinaus ist es auf diesem Themenfeld bei den Verhandlungen zur Einigung über eine Wahrheitskommission gekommen, was ebenfalls positiv zu bewerten ist. Auch bei anderen Punkten, wie der Drogenpolitik oder der politischen Teilhabe gibt es Fortschritte. Allerdings kommt es hier auf die praktische Umsetzung in den einzelnen Departements an. Eine Einigung der Kriegsparteien muss vor allem die brennenden sozialen und ökonomischen Fragen des Landes berücksichtigen, will sie nicht zu einer bloßen Demobilisierungsaktion für die geschwächte FARC werden. Eine solche Farce hatte die Regierung Uribe Mitte des letzten Jahrzehnts mit den rechts gerichteten Paramilitärs veranstaltet, mit dem Erfolg, dass sie wenig später als „Bandas Criminales“ zurückkehrten und ihr blutiges Geschäft bis heute weiter betreiben. Es ist den verfeindeten Akteuren in Havanna Mut bei der Lösung dieses anhaltenden Konflikts zu wünschen. Mut, der die Ausgrenzung und Benachteiligung weiter Bevölkerungsteile auflöst und eine politische Pluralisierung enthält. Denn in erster Linie waren es ökonomischer und politischer Ausschluss, die zum bewaffneten Aufstand der FARC und ähnlicher Gruppen geführt haben.

Weltwirtschaftliche Integration um jeden Preis?

Mon, 27/07/2015 - 08:30
Bonn, 27.07.2015. Die Transpazifische Partnerschaft (TPP) befindet sich auf der Zielgeraden. Im Anschluss an mehrtägige Verhandlungen der Chef-Unterhändler treffen am morgigen Dienstag die Handelsminister in Hawaii zusammen. Mehrere Zeichen deuten auf einen Abschluss der Verhandlungen zwischen den USA, Vietnam und zehn weiteren pazifischen Anrainerstaaten. Spätestens beim Besuch des vietnamesischen Parteichefs Anfang Juli in den USA wurde deutlich, dass TPP sowohl in Washington als auch in Hanoi außenpolitische Priorität genießt. Mit der Erteilung der Trade Promotion Authority (TPA) an Präsident Obama durch den US-Kongress ist außerdem kürzlich eine wichtige Verhandlungsbarriere gefallen. Diese „fast track authority“ erlaubt dem Präsidenten ein schnelles Vorgehen im Bezug auf Freihandelsabkommen: Der Kongress darf das fertig verhandelte Abkommen lediglich in seiner Gesamtheit annehmen oder ablehnen, aber keine Änderungswünsche mehr vorbringen – eine Voraussetzung dafür, dass die anderen Verhandlungsparteien ihre besten Angebote auf den Tisch legen. Bisher wird TPP – und auch die Transatlantische Partnerschaft TTIP – aus einem stark verengten, nationalen Fokus diskutiert. Aber was bedeutet die Unterzeichnung solcher Mega Regionals für Entwicklungsländer wie Vietnam? Die neue Generation mega-regionaler Abkommen
Das Welthandelssystem befindet sich vor einer Zeitenwende, mit der die zentrale Bedeutung der Welthandelsorganisation (WTO) unterminiert wird und sich eine Reihe regionaler Blöcke herausbildet. Frustriert von mehr als einem Jahrzehnt erfolglosen Ringens in der WTO treiben die USA und die EU zwei mega-regionale Freihandelsprojekte im transatlantischen und transpazifischen Raum voran, die als Blaupause für zukünftige Abkommen dienen sollen. Dabei liegt der Fokus nicht allein auf dem Abbau von Zollschranken. Zunehmend geht es um die Förderung von Investitionen, den Schutz geistiger Eigentumsrechte, die Wettbewerbsneutralität von Staatsunternehmen, die Öffnung öffentlicher Beschaffungsmärkte und die Etablierung von Sozial- und Umweltstandards. Diese Liste ließe sich nahezu beliebig fortsetzen. Der entscheidende Punkt ist, dass diese Regeln weitreichende Konsequenzen für die beteiligten Länder haben und gerade Entwicklungsländern wie Vietnam schmerzliche politische und wirtschaftliche Reformen abverlangen. Vor diesem Hintergrund überrascht, dass Hanoi zugleich eine ganze Palette an Freihandelsabkommen verhandelt – neben den USA unter anderem auch mit der EU oder Russland – und damit seine wirtschaftlichen Beziehungen auf dem gesamten Globus vertieft. Kaum ein anderes Entwicklungsland integriert sich aktuell so tief in das globale Handelssystem wie Vietnam. Woher kommt der handelspolitische Aktionismus Hanois?
Auf der Suche nach Antworten muss man den Blick über Vietnams nördliche Grenze werfen. Vietnams Wirtschaft ist stark abhängig von der zunehmend unsicheren wirtschaftlichen Entwicklung in China. Die wirtschaftliche Integration mit Europa und Nordamerika dient der Risikostreuung und dem Ziel, neue Exportmärkte für vietnamesische Produkte, insbesondere Textilien, zu erschließen. Vor allem durch TPP kann Vietnam zu einer wichtigen Exportplattform für ausländische Unternehmen werden. Und auch die Geopolitik spielt eine Rolle, denn die Drohgebärden Pekings im Territorialkonflikt um das südchinesische Meer haben sicher nicht zu einer Beruhigung der Gemüter in Hanoi beigetragen. Die Förderung wirtschaftlicher Reformen ist ein weiteres Argument, das man unisono in Vietnams Expertenkreisen vernimmt. In dem Land, das zwischen kommunistischer Ideologie und ungebremster Marktwirtschaft schwankt, wurden die letzten großen Reformprojekte im Zuge des WTO-Beitritts im Jahr 2007 durchgesetzt. Seitdem stagnierten die Reformanstrengungen, nicht zuletzt aufgrund des Widerstandes der dominanten Staatsunternehmen. Durch TPP und das Freihandelsabkommen mit der EU sollen daher nicht nur die Exporte von Waren gestärkt werden. Ähnlich bedeutsam ist der Import von Reformdruck. Ohne diesen scheint es der kommunistischen Führung nicht zu gelingen, die planwirtschaftliche Vergangenheit vollständig abzustreifen, um marktwirtschaftliche Strukturen zu stärken und Vietnams Wettbewerbsfähigkeit auszubauen. In vietnamesischen Expertenkreisen wird eine Analogie immer wieder bemüht, um auf die Chancen und Risiken dieser Strategie hinzuweisen: Der Familienvater, der alle Fenster öffnet, um frische Luft ins Haus zu lassen, sollte nicht vergessen, seinen Kindern vorher warme Kleider anzuziehen. Übersetzt in den handelspolitischen Jargon des 21. Jahrhunderts heißt dies: Mega Regionals können von Entwicklungsländern für die Integration in globale Wertschöpfungsketten genutzt werden. Eine solche Strategie führt aber nur zum Erfolg, wenn die nationale Industrie gestärkt wird, um diese Chancen auch tatsächlich ergreifen zu können. Gerade weil die neue Generation von Freihandelsabkommen tief in die wirtschaftlichen und politischen Systeme eingreift, ist ein offener und gleichberechtigter Dialog mit allen Betroffenen unabdingbar. Diese Kolumne wurde auch bei euractiv.com veröffentlicht.

Entwicklungsfinanzierung – kein großer Wurf ohne Führungsrolle der starken Länder

Fri, 24/07/2015 - 14:42
Bonn, 24.07.2015. Nun liegt sie also vor, die Addis Ababa Action Agenda, das Ergebnis der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung, die am 16. Juli in der äthiopischen Hauptstadt zu Ende ging. Sie war der Auftakt zu weiteren Weltkonferenzen in diesem Jahr, die den Rahmen für eine transformative und universelle globale Post-2015-Agenda für die nächsten 15 Jahre abstecken sollen. Die Entwicklungsagenda soll transformativ sein, indem sie eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung herbeiführt, welche die absolute Armut und soziale Ungerechtigkeit auf der Welt weitgehend abschafft; und das unter der Bedingung ökologischer Nachhaltigkeit, also der Eindämmung der Erderwärmung und einer Bewahrung der begrenzten Ressourcenbasis der Erde. Sie soll universell sein, indem sie alle Länder verpflichtet, ihren Beitrag hierzu zu leisten, durch die Einhaltung internationaler Verpflichtungen wie durch eine Politik im Inneren, welche die globalen Ziele berücksichtigt. Es ist offensichtlich, dass die Vereinbarungen von Addis dieses Ambitionsniveau bei Weitem nicht erreichen. Die Action Agenda ist nicht viel mehr als eine Bestandsaufnahme von Prozessen und Handlungsempfehlungen, die seit der ersten UN-Finanzierungskonferenz 2002 in Monterrey entwickelt wurden und den derzeitigen Stand der Debatte abbilden. Diesen Stand des Finanzierungsdiskurses – für die nationalen und internationalen, öffentlichen und privaten Finanzquellen – festzuhalten und damit für alle Länder einen verbindlichen Referenzrahmen zu schaffen, ist verdienstvoll. Aber reicht das, um eine finanzielle Grundlage für transformative Politiken zu schaffen? Wissen jetzt alle Länder und die einschlägigen internationalen Organisationen, die für die Umsetzung der Agenda eine wichtige Rolle spielen, was sie ab 2016 anders machen werden? Blickt man zurück auf die vergangenen 15 Jahre und fragt nach der Bedeutung der Vereinbarungen von Monterrey 2002 für die Entwicklungsfinanzierung, so kann man eher skeptisch sein: Wichtig für die Finanzierungsbedingungen in diesem Zeitraum waren die insgesamt günstigen und stabilen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen bis zur internationalen Finanzkrise 2008, gepaart mit großen Entwicklungsfortschritten einer Reihe von Ländern, allen voran China. Diese haben zu einem hohen Wachstum von Steuereinnahmen, Ersparnissen, privaten Investitionen und international verfügbarem Kapital geführt, von dem auch ärmere Länder profitierten. Diese günstigen Bedingungen sind vorerst nicht mehr gegeben. Der Internationale Währungsfonds revidiert seine Wachstumsprognosen für die Weltwirtschaft regelmäßig nach unten. Die großzügige, oft auch überzogene Kreditversorgung durch die internationalen Finanzmärkte hat sich deutlich abgeflacht. Große Schwellenländer stecken – auch wegen niedriger Rohstoffpreise – in einer Strukturkrise. Es gibt Befürchtungen, dass der Aufholprozess der Entwicklungsländer in einem insgesamt krisenhaften weltwirtschaftlichen Szenario erst einmal nicht weitergehen wird. Dies bedeutet nicht, dass die Action Agenda von Addis irrelevant wäre. Sie enthält viele sinnvolle Aktionspläne, die zu besseren Finanzierungsbedingungen beitragen können, etwa die Maßnahmen zur Eindämmung der Steuerflucht aus Entwicklungsländern. Für die Umsetzung dieser Aktionspläne ist die Kooperationsbereitschaft von Industrie- und Entwicklungsländern sowie von öffentlichen und privaten Akteuren erforderlich. Diese wird indes nur dann gegeben sein, wenn durch ein positives weltwirtschaftliches Umfeld zusätzliche finanzielle Handlungsspielräume geschaffen werden. Die Addis Agenda spricht zwar vollmundig von einem global framework for financing development post-2015. Sie sagt jedoch nur wenig Konkretes zur Frage, wie die globalen Rahmenbedingungen verbessert werden können. Hier sind vor allem die Länder gefragt, die sich kurz vor der Addis-Konferenz auf gesonderten Gipfeln getroffen haben – die G7-Länder in Elmau und die BRICS-Länder in Ufa. Sie saßen zwar in Addis mit am Tisch, hielten sich aber eher bedeckt, was ihre weltwirtschaftliche Rolle und ihre entsprechende Verantwortung für das globale Handels-, Investitions- und Finanzsystem betrifft. Von ihrer Politik im Inneren und ihrer Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft nach Außen wird es jedoch abhängen, ob die neue transformative und universelle Entwicklungsagenda eine Chance haben wird. Fragen der Finanzmarktregulierung, des internationalen Währungssystems, des Umbaus des Energiesystems, der Rolle multinationaler Unternehmen in einer nachhaltigen Weltwirtschaft sind ohne kooperative Beiträge dieser Länder nicht zu lösen. Die G7- und die BRICS-Länder werden sich allerdings regelmäßig in kleiner Runde gemeinsam treffen und werden dann herausgefordert sein, sich zu ihrer Verantwortung für die Umsetzung der Post-2015-Agenda zu äußern. Die nächste Chance besteht beim G20-Gipfel in Antalya im November, kurz nachdem die UN-Generalversammlung die neuen Entwicklungsziele verabschiedet haben wird. Dann werden China für 2016 und danach Deutschland für 2017 den Vorsitz der G20 übernehmen. Wäre das nicht eine Chance für eine Führungsrolle der beiden Länder bei der Umsetzung der neuen Entwicklungsagenda?

Addis Abeba: Die Quadratur des Kreises oder: Wie lässt sich Verantwortung in einer ungleichen Welt gemeinsam tragen

Mon, 20/07/2015 - 12:01
Bonn, Mexiko-Stadt, 20.07.2015. Die UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba schloss mit einer Einigung in letzter Minute. Zu den umstrittensten Themen in Addis Abeba zählte die Frage: Wie ist die globale Verantwortung – auch die finanzielle – auf Industrie- und Entwicklungsländer zu verteilen? Vor allem die Rolle von Schwellenländern wie Brasilien, China, Indien, Mexiko oder der Türkei, die sich zunehmend in der Süd-Süd-Kooperation engagieren, wurde kontrovers diskutiert. Ein so breit angelegtes, ambitioniertes Programm wie die Post-2015-Agenda würde alle Länder zu starken Zusagen bewegen; so die Hoffnung. Am Ende jedoch verschlossen Industrie- und Schwellenländer die Augen – vor Verantwortung und Chancen.

Universelle Gültigkeit für eine Entwicklungsagenda – in alten Mustern und Rollen

2012 vereinbarten die UN-Mitgliedstaaten, die neue Agenda für nachhaltige Entwicklung am Grundsatz der „Universalität“ auszurichten. Universalität impliziert, dass sich Entwicklungs- wie Industrieländer ändern müssen. Sie zieht außerdem die klassische Nord-Süd-Dichotomie in Zweifel. Vor der Konferenz herrschte Einigkeit, dass in Addis Abeba auch die Finanzierung der neuen Nachhaltigkeitsagenda verhandelt werden sollte. So beharrte die EU darauf, eine universelle Agenda setze voraus, dass sich alle Akteure nach ihren Möglichkeiten beteiligen. Besonders die größeren Schwellenländer sollten mehr Verantwortung übernehmen und klare, messbare Zusagen machen.

Entwicklungs- und Schwellenländer sahen im Begriff „Lastenteilung“ jedoch einen rhetorischen Schachzug, der traditionellen Gebern einen Rückzieher aus ihren bisherigen Verpflichtungen ermöglichte. Für diese Interpretation sprach, dass viele Geber argumentieren, die Bedeutung von Entwicklungszusammenarbeit (EZ) schwinde und die Relevanz anderer Mittel, etwa Steuern, Rücküberweisungen und Beiträge des Privatsektors, nehme zu. Die jüngsten Kürzungen der Entwicklungsetats in einigen EU-Staaten untergruben zusätzlich die Glaubwürdigkeit der EU-Zusage, das 0,7 % Ziel bis 2030 zu erreichen.

Um sich nicht an einem, wie sie es nannten, „shameful burden sharing“ beteiligen zu müssen, präsentierten sich die großen Schwellenländer als typische Entwicklungsländer. Sie betonten, dass sie Teil der G 77 sind und die klassische Nord-Süd-Dichotomie noch greift. So konnten sie Industrieländer unter Druck setzen, Entwicklungsverpflichtungen zu erfüllen, ohne selbst Zusagen machen zu müssen. Schwellenländer bestehen zu Recht darauf, dass die Industrieländer ihre Verpflichtungen erfüllen. Doch sie haben sich unwillentlich einen Bärendienst erwiesen mit der Weigerung, ihre neue Rolle als aufstrebende Mächte anzunehmen und keinerlei Verpflichtungen zur Unterstützung ihrer ärmeren Nachbarn einzugehen.

Auf dem Weg zu einem Kompromiss

Einen Kompromiss zwischen den Positionen der G77 und der Industrieländer findet nur, wer anerkennt, dass das Konzept des Südens, das alle Entwicklungsländer umfasst, noch gilt: Alle Entwicklungsländer ringen mit Armut und anderen Entwicklungsproblemen. Ebenso ist jedoch anzuerkennen, dass zum Süden, anders als früher, auch eine Gruppe von Schwellenländern gehört, die wirtschaftlich stark genug sind, um gegenüber ärmeren Ländern differenzierte Verantwortung zu übernehmen. Dies meint Verpflichtungen je nach ihrem Leistungsvermögen, das nicht dem des Nordens gleicht.

Diesen Gedanken akzeptiert die G77 scheinbar und schlug vor, die „gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung“ (Common But Differentiated Responsibilities – CBDR) in das Ergebnisdokument von Addis Abeba aufzunehmen. Problematisch ist aber, dass mit CBDR für Entwicklungsländer – und damit auch für Schwellenländer – keine Pflichten verknüpft sind. Dieser politische Standpunkt wurde durch die doppelte Bedeutung von „responsibility“ gefördert: Responsibility kann „Verantwortung für Handlungen in der Vergangenheit“ und „Verpflichtung, zukünftig zu handeln“ bedeuten. Das jedoch birgt die Logik, wer sich für nicht verantwortlich in der Vergangenheit betrachtet, wird auch in der Zukunft keine Aufgaben übernehmen. So wurde der Begriff der CBDR in Klimaverhandlungen, wo er geprägt wurde, interpretiert. Industrieländer haben deshalb in Addis Abeba die Aufnahme von CBDR in Entwicklungszusammenarbeit blockiert.

Das Beharren auf der Nord-Süd-Trennung wird sich negativ auf die Weltgemeinschaft und die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) auswirken. Je länger die Schwellenländer die Übernahme globaler Verantwortung ablehnen und je mehr Industrieländer ihr Engagement reduzieren und Schwellenländer drängen, ihres hingegen zu erhöhen, umso unwahrscheinlicher wird die Verwirklichung der SDGs. Dass sich wichtige G7-Mitglieder deutlicher denn je vom 0,7 % Ziel distanzieren, hilft hier nicht.

Angesichts drängender globaler Entwicklungsprobleme, die niemanden verschonen, sollten alle Länder ein langfristiges Interesse daran haben, zusammenzuarbeiten. Falls CBDR jetzt politisch belastet ist, könnten sich Industrie- und Entwicklungsländer auf eine andere Formulierung einigen wie „differenzierte Verpflichtungen (oder Aufgaben?)“. Diesen Begriff akzeptierten 2011 alle Parteien des Busan-Gipfels zur Wirksamkeit der EZ.

Gerardo Bracho ist ein mexikanischer Diplomat. Ansichten von Herrn Bracho sind seine eigenen; sie sind nicht auf die mexikanische Regierung zurückzuführen.

Chinas Dilemma: Wie reformiert man das System von innen heraus?

Mon, 20/07/2015 - 10:14
Bonn, Würzburg, 20.07.2015. Man kann der im Januar 2015 angetretenen griechischen Regierung vorhalten, die Krise durch ihren Widerstand gegen weit gehende marktorientierte Reformen verschärft zu haben. Im Gegensatz dazu sind die jüngsten Turbulenzen an den chinesischen Aktienmärkten eher auf zu weit gehende Marktreformen zurückzuführen. In beiden Fällen werden wir die Folgen noch lange spüren. Seit Jahren betonen chinesische und ausländische Ökonomen, dass China ein neues Wachstumsmodell brauche, da das durch Export und Investitionen getriebene Modell nicht nachhaltig sei. Daher hofften viele Experten auf marktorientierte Reformen, zumal in der Ära von Wen Jiabao und Hu Jintao (2003-2013) der Staat in der Wirtschaft an Einfluss gewonnen hatte. Entsprechend genau wurden die personellen Entscheidungen analysiert, welche die Führung in Beijing auf dem 18. Parteikongress in 2012 und dem Nationalen Volkskongress in 2013 traf. Diese „Pekinologie“ war wichtig, um die wirtschaftspolitischen Intentionen der neuen Führung zu erahnen. Insgesamt deutete das neue Personaltableau auf ein Gleichgewicht zwischen marktorientierten Reformern und Staatskapitalisten hin, wobei nach Ansicht von Experten die Reformer – viele davon mit ausgewiesener Expertise und internationalem Ansehen – im Finanz- und Fiskalbereich dominierten. Daher wurde erwartet, dass hier mit ambitionierten Reformen zu rechnen sein würde. Diese Erwartung wurde bestätigt, als die Führung Ende 2013 eine umfangreiche Reformagenda beschloss, die Shanghaier Freihandelszone schuf, die Renminbi-Internationalisierung vorantrieb und später auch die Börsen von Shanghai und Shenzhen liberalisierte. Während andere Politikvorstöße nicht unbedingt mehr Markt versprachen (zum Beispiel die Zusammenlegung von Staatsunternehmen), war dies im Finanzsektor der Fall. Allerdings sahen sich die Reformer zwei Herausforderungen gegenüber: Erstens sank das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes. Xi Jinping führte deswegen das Mantra des „neuen Normalzustands“ ein. Dies besagt, dass die „Qualität“ des Wachstums wichtiger sei als die Quantität und dass niedrigeres Wachstum in Chinas aktueller Entwicklungsphase zu erwarten sei. Leider zweifelt die neue Führung selbst an diesem Mantra und verspricht seit Anfang 2015 sieben Prozent Wachstum. Dies zeigt, wie nervös sie angesichts des neuen Normalzustands ist. Zweitens wurden die Reformen von einer gnadenlosen Antikorruptionskampagne begleitet. Natürlich kann die Bekämpfung von Korruption ökonomische Reformen unterstützen. Da die Korruptionsbekämpfung aber durch die Partei organisiert wird, hat dies eher zu einer Lähmung der Wirtschaft geführt und sowohl Stimmung als auch Wachstum beeinträchtigt. In diesem Kontext haben die Marktreformer in der politischen Führung offenbar gehofft, dass expandierende Finanzmärkte gleich mehrere Probleme lindern könnten: die Verschuldung der Staatsunternehmen, die schwache Investitionsneigung der Privatunternehmen und die Schwäche der Konsumnachfrage. Um die Reformen voranzubringen, setzten die Reformer darauf, dass die Finanzmärkte die Wirtschaftsentwicklung ankurbeln könnten. Es ist anzunehmen, dass diese gewagte Wette von Anfang an auf einigen Widerstand stieß. Anfang 2015 deuteten sich die ersten Probleme an: Sobald die Börsenkurse stotterten, betonten Regierungs- und Parteimedien, dass der Aufwärtstrend anhalten werde. Diese Vorhersagen schienen den Finanzsektor zu unterstützen, gefährdeten aber tatsächlich die Marktreformen, da sie dazu anhielten, auf weitere – durch die Regierung gestützte – Kursgewinne zu setzen. Als die Aktienblase dann im Juni und Juli dieses Jahres platzte, verpuffte auch die Idee, dass marktorientierte Reformen über den Finanzsektor angestoßen werden könnten. Stattdessen griff die Regierung massiv in den Markt ein, um die Kurse an den Börsen zu stabilisieren. In der Folge ist vielfach auf die Verluste hingewiesen worden, die Kleinanleger durch diese Turbulenzen erlitten haben, und darauf, dass die Regierung das Vertrauen in Marktreformen erschüttert habe. Beides ist richtig, aber die eigentliche Tragödie liegt darin, dass die Marktreformer innerhalb der Regierungselite an Gesicht und Einfluss verloren haben. Sofern die Pekinologie in 2013 richtig lag und die Reformer innerhalb der neuen Führungsriege tatsächlich hofften, über den Finanzsektor weit reichende Marktreformen einzuleiten, so sind sie gründlich gescheitert, und zwar nicht nur aus Sicht der Kleinanleger oder internationalen Märkte, sondern insbesondere auch in den Augen ihrer Gegner in der chinesischen Regierung. Das wirft die Frage auf, wer noch in der Lage ist, das chinesische Wirtschaftssystem zu reformieren und ein neues Wachstumsmodell für China zu entwerfen. Die jüngsten Entwicklungen dürften leider jene Kräfte in der Regierung stärken, die am liebsten am bisherigen Modell festhalten wollen. Zumindest in naher Zukunft werden die Reformer in der Regierung Schwierigkeiten haben, weit reichende marktorientiere Reformen anzustoßen, egal ob innerhalb oder außerhalb des Finanzsektors.

Doris Fischer ist Professorin für China Business and Economics an der Universität Würzburg.

Addis Abeba: Die einmalige Gelegenheit

Mon, 13/07/2015 - 08:30
Bonn, 13.07.2015. Heute beginnt die UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba. Sie bildet den Auftakt von drei Weltgipfeln zu Schlüsselfragen globaler nachhaltiger Entwicklung in nur sechs Monaten. Der Finanzierungsgipfel soll die Grundlage für die UN-Generalversammlung im September 2015 in New York legen, auf der die Weltgemeinschaft die neue Post-2015-Agenda mit universellen Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) beschließen wird. Gleichermaßen ist der erste Gipfel richtungsweisend für den Klimagipfel in Paris im Dezember, auf dem das Kyoto-Nachfolgeabkommen beschlossen werden soll, auch wenn die Klimafinanzierung offiziell nicht Thema der Addis-Konferenz ist. Es ist indes klar: ohne eine angemessene Finanzierung kann die Weltgemeinschaft weder die nachhaltigen Entwicklungsziele erreichen noch den Klimawandel bewältigen. Alle Akteure müssen Verantwortung übernehmen: private und öffentliche. Das heißt aber auch, dass sich alle Länder beteiligen. Einen großen Anteil müssen die Industrieländer bezahlen. Zum einen können die Entwicklungs- und Schwellenländer die SDGs nicht ohne ihre finanzielle Unterstützung erreichen. Zum anderen sind die Industrieländer die Hauptverursacher des Klimawandels. Daher müssen die Industrieländer wenigstens ihre bisher gemachten Zusagen einhalten. In Addis Abeba müssen sich die Industrieländer dazu bekennen, das bereits 1970 vereinbarte Ziel - 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungsleistungen (Official Development Assistance, ODA) auszugeben -, einzuhalten. Die bisherige Bilanz ist ernüchternd. Bisher haben nur fünf Länder dieses Ziel erreicht: Luxemburg, Dänemark, Norwegen, Schweden und Großbritannien. Damit sie ihre Glaubwürdigkeit herstellen können, ist es notwendig, einen realistischen Zeitplan für die Umsetzung des 0,7-Prozent-Ziels zu vereinbaren. Die Europäische Union hat erklärt, das 0,7-Prozent-Ziel bis 2030 zu erreichen. Aber es ist dringend notwendig, konkrete Zwischenziele zu benennen. Die Industrieländer könnten sich in Addis beispielsweise dazu verpflichten, den Abstand zwischen dem aktuellen Niveau der öffentlichen Entwicklungsgelder und dem 0,7-Prozent-Ziel bis zum Jahr 2020 zu halbieren. Dies hat auch das Sustainable Development Solutions Network (SDSN) vorgeschlagen. Ohne konkrete Zeitpläne bleibt das 0,7-Prozent-Ziel ein leeres Versprechen. Darüber hinaus sollten die Schwellenländer in Zukunft auch mehr Verantwortung übernehmen und sich in Addis Abeba dazu verpflichten, ihre Entwicklungshilfe für arme Länder signifikant zu erhöhen. Auch dafür sollten sie ein konkretes Ziel und einen Stufenplan für dessen Erreichung vereinbaren. Die Verteilung der öffentlichen Entwicklungsleistungen muss sich ebenfalls zugunsten der ärmsten Länder ändern. Für diese Länder ist ODA die wichtigste externe Finanzierungsquelle, weil ihnen kaum private Finanzmittel zur Verfügung stehen. Im aktuellen Verhandlungsdokument für Addis Abeba vom 7. Juli wird ge-fordert, dass bis 2030 0,2 Prozent des Bruttonationaleinkommens an die ärmsten Länder fließt. Aber ist das ausreichend? Im Jahr 2009 hatten sich die Industrieländer in Kopenhagen verpflichtet, für Klimaschutz und Anpassung in Entwicklungsländern öffentliche und private Finanzierungsmittel bis 2020 auf jährlich 100 Mrd. USD zu erhöhen. Dieses Ziel hat die G7 auf ihrem diesjährigen Gipfel in Elmau zwar bekräftigt. Nach wie vor ist aber offen, wie diese Summe zwischen den öffentlichen und privaten Akteuren aufgeteilt wird. Darüber hinaus ist nicht klar, in welchen Schritten die Finanzmittel bis 2020 auf 100 Mrd. USD erhöht werden. Das heißt, es gibt keine konkreten Verpflichtungen für die kommenden fünf Jahre. Gleichermaßen ist die Verteilung der Mittel zur zum Teil geklärt. Wenn die Regierungen der Industrieländer ihren Anteil nicht konkretisieren und sich nicht zu einem Fahrplan für ihre Verpflichtungen bekennen, dann wird das 100-Milliarden-Ziel nicht erreicht werden und die Folgen des Klimawandels werden Entwicklungserfolge in anderen Bereichen zunehmend torpedieren. Auch wenn Klimafinanzierung nicht das Kernthema in Addis sein wird, ist es wichtig, es bereits in Addis aufzugreifen und erste Entscheidungen mit Blick auf die Klimakonferenz in Paris vorzubereiten. Die Partnerländer selbst müssen auch Verantwortung für die Finanzierung übernehmen. Der Löwenanteil der Finanzierung wird über das inländische Steuersystem und das Wachstum des Finanzsektors mobilisiert. Die Partnerländer müssen daher notwendige Reformen in ihren Steuersystemen und -verwaltungen umsetzen. Sie müssen das Steuersystem transparent ausgestalten und die Governance-Strukturen verbessern. Die Industrie- und Schwellenländer können beim Aufbau von geeigneten Steuersystemen wertvolle technische Hilfe leisten. Die Weltgemeinschaft hat in dieser Woche in Addis Abeba die einmalige Chance, durch die Sicherstellung der Finanzierung eine neue positive Dynamik für globa-le nachhaltige Entwicklung zu erzeugen. Die Industrieländer haben hier eine Vorreiterolle. Wir sollten die Chance nutzen und zum Wohle der Menschheit und unseres einzigen Planeten unsere Hausaufgaben machen.

Verbunden, umstritten und komplex – Warum Europa eine globale Strategie braucht

Mon, 06/07/2015 - 08:30
European Think Tanks Group (ETTG)
Bonn, London, Maastricht, Madrid, Paris, 06.07.2015. Eines der wichtigsten, aber kaum beachteten, Ergebnisse des Europäischen Rates von vergangener Woche war der Auftrag an die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, eine „globale Strategie der EU für Außen- und Sicherheitspolitik“ zu erarbeiten. Zu sehr stehen die Griechenland-Krise, der Streit über Einwanderung und die Forderung des Vereinigten Königreichs, die Bedingungen seiner EU-Mitgliedschaft neu zu verhandeln, im medialen Vordergrund. Diese Ratsentscheidung gibt der früheren italienischen Außerministerin das Mandat, einen neuen Weg in der Außen- und Sicherheitspolitik zu beschreiten. Es ist jedoch ein mit Steinen übersäter Weg, den Frau Mogherini mit gemischten Gefühlen betrachten muss. In vielen Bereichen baut sich Druck auf – durch Russland im Osten, Instabilität im Nahen Osten, gescheiterte Staaten in Afrika und durch globale Bedrohungen wie den Klimawandel. Gleichzeitig wirken Europas unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten immer wieder als Hemmnis für gemeinsames Handeln. Die Migrationskrise bietet ein perfektes Beispiel. Einige Länder sind nicht bereit, mehr Einwanderer aufzunehmen. Andere Länder beklagen, dass illegale Einwanderung den Druck auf ihre Gesellschaft stärker erhöht als die aktuellen Flüchtlingsströme. Wieder andere sagen, dass das Problem durch Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe an der Wurzel angepackt werden muss. Bestenfalls kann gesagt werden, dass ein kleiner Schritt getan ist. Es braucht aber noch Zeit, bis eine gemeinsame Position entsteht, die diesen Namen verdient. Tatsache ist, dass der Europäische Rat sieben Jahre nach der EU-Finanzkrise immer noch in Uneinigkeit verharrt. Seine Position ist bei miteinander verknüpften Themen widersprüchlich. Er verdeutlicht damit einmal mehr, dass Europas Strategie für langfristige Sicherheit und Wohlstand eine konzertierte Aktion über das gesamte Spektrum der EU-Innen- und Außenpolitiken erfordert – von der Handels-, Finanz-, Energie-, Klima und Entwicklungspolitik bis zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die großen Herausforderungen, vor denen Europa steht, verlangen gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene und regelmäßige Überprüfungen der Strategie. EU-Politik ist nicht immer so beschwerlich. Die EU hat vor Kurzem Sanktionen gegen Russland verhängt und bekräftigt. Sie hat in Gesprächen mit dem Iran gut zusammengearbeitet und sich auf eine einigermaßen ambitionierte Position zum Klimawandel verständigt. Man kann also etwas erreichen. Welche Lehren sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten ziehen? Erstens müssen sie sich klar sein, dass eine globale Strategie für Europa einen wirklich integrierten Ansatz erfordert. Zum Beispiel können die tieferen Ursachen von illegaler Einwanderung und Flüchtlingsströmen nicht allein mit einem sicherheitsorientierten Ansatz angegangen werden, der aus Mauern und Marineoperationen besteht. Ohne die richtige Mischung aus EU-Instrumenten und Partnerschaften wird Europa weiterhin Brandbekämpfung mit wenig Hoffnung auf Problemlösung betreiben. Als European Think Tanks Group haben wir in dem im September 2014 veröffentlichten Bericht ‚Unser gemeinsames Interesse’ erklärt, dass die neue europäische Globalstrategie in ihrem Streben und ihrer Sprache integriert und strategisch sein muss und daher die interne EU-Politik mit den Bereichen des äußeren Handelns verknüpft. Zweitens sollten sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten konsequent der Herausforderungen (und Möglichkeiten) annehmen, die eindeutig gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene verlangen. Obwohl die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 versuchte, über einen sicherheitsorientierten Ansatz hinauszugehen, konzentrierte sie sich auf äußere Bedrohungen und zeigte wenig Gespür für die gemeinsame Verantwortung für die Welt, ihre Ressourcen und ihre Menschen. Europa ist in der Welt aufgrund seines integrierten, präventiven und langfristigen Werteansatzes bei globalen öffentlichen Gütern, seines geteilten Wohlstandes und seiner Prosperität weiterhin ein globaler Machtfaktor. Es sind diese Werte, von der die Zukunft der EU abhängt. Wir erwarten daher, dass die nächste EU-Strategie die Post-2015-Agenda mit ihren neuen, universellen Zielen nachhaltiger Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs), die voraussichtlich im September 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet werden, widerspiegelt. Die EU sollte gleichermaßen eine Bestandsaufnahme bei ihren internen Versäumnissen und jenen vor ihrer Haustür vornehmen. In ‚Unserem gemeinsamen Interesse‘ heben wir die Notwendigkeit für die EU hervor, zu einem Wachstumsmodell des 21. Jahrhunderts beizutragen, das verantwortlichen Handel und die Koordinierung der Finanzpolitik betont. Drittens wird es eine wesentliche Herausforderung für die globale EU-Strategie sein, Prioritäten zu setzen, indem eine handhabbare Zahl von Themen identifiziert wird, zu denen die EU Wesentliches beitragen kann. Erfolg in einigen Bereichen könnte die öffentliche Meinung und die politische Führung dazu bringen, die nächste Runde gemeinsamen EU-Handelns zu unterstützen. Zu diesen Prioritäten muss weiterhin die europäische Führungsrolle in der Klimapolitik gehören, legale Einwanderung muss erleichtert werden und die EU muss sich der schwachen, fragilen oder gescheiterten Staaten in ihrer Nachbarschaft annehmen. Die Europäische Union steht vor harten und folgenschweren Entscheidungen im In- und Ausland. Der Ausgang der schweren Krise in Griechenland wird weitreichende Folgen haben, auch auf der internationalen Bühne. Wir unterschätzen nicht die Schwerstarbeit, die von Federica Mogherini, den EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten geleistet werden muss, um einen Wandel zu erreichen. Doch wir fordern die politische Führung Europas auf, neue Entschlossenheit zu zeigen, um sich den Herausforderungen, vor denen Europa steht, in Umfang und Tragweite – gemeinsam – zu stellen. Ewald Wermuth, European Centre for Development Policy Management (ECDPM)
Giovanni Grevi, Fundacion para las Relaciones Internacionales y el Dialogo Exterior (FRIDE)
Dirk Messner, German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)
Teresa Ribera, Institute for Sustainable Development and International Relations (IDDRI)
Kevin Watkins, Overseas Development Institute (ODI) Dieser Artikel wurde erstmals am 03.07.2015 bei euractiv.com veröffentlicht. Über die European Think Tanks Group:
Die European Think Tanks Group (ETTG) vereint fünf führende europäische Think-Tanks, die sich mit internationaler Entwicklung befassen: das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE), das Overseas Development Institute (ODI), das European Centre for Development Policy Management (ECDPM), Fundación para las Relaciones Internacionales y el Diálogo Exterior (FRIDE) und das Institute for Sustainable Development and International Relations (IDDRI).

Dekarbonisierung ist kein Selbstläufer

Mon, 29/06/2015 - 13:42
Bonn, 29.06.2015. Keine drei Wochen ist es her, dass der G7-Gipfel von Elmau sich unmissverständlich zu einer „Dekarbonisierung der Weltwirtschaft“ bekannte und sich Angela Merkel einmal mehr als Klimakanzlerin feiern lassen durfte. Nun ist aus dem Bundeswirtschaftsministerium zu vernehmen, die angekündigte Klimaabgabe für Kohlekraftwerke sei vom Tisch. Trifft dies zu, unterstreicht es, dass die angestrebte Dekarbonisierung noch lange kein Selbstläufer ist. Die Widerstände einer pro-fossilen Allianz aus Kraftwerksbetreibern und Gewerkschaften sowie den Partikularinteressen einzelner Bundesländer sind beträchtlich. Das kann nicht überraschen. Ist doch die Transformation ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen, wie sie das Ziel einer umfänglichen Dekarbonisierung zwangsläufig erfordert, zutiefst politisch. Natürlich – und darauf zielt das von Bundesminister Gabriel umgehend verbreitete Dementi, wonach „weiter mehrere Vorschläge auf dem Tisch [liegen], wie die CO2-Einsparungen erreicht werden können“ – kann Deutschland seine selbstgesteckten Emissionsminderungsziele von minus 40 % bis 2020 gegenüber 1990 wahrscheinlich auch ohne die Kraftwerksabgabe erreichen. Dennoch sprechen mindestens drei triftige Gründe gegen ein Einknicken vor der Kohlelobby, wie es der Verzicht auf die Abgabe innen- wie außenpolitisch nolens volens symbolisieren würde: Erstens wird es ohne die Klimaabgabe auf Kohlekraftwerke erheblicher zusätzlicher Anstrengungen in anderen Sektoren bedürfen, um die klimapolitische Zielmarke zu erreichen und es würde die gewünschte Lenkungswirkung pro Dekarbonisierung im Kraftwerkssektor verfehlt. Zweitens wäre es sehr wünschenswert die 40-Prozentige Reduzierung frühzeitig zu erreichen und im positiven Sinne über das Ziel hinauszuschießen. Das wird ohne verbindliche politische Vorgaben gegenüber den Kohlekraftwerksbetreibern kaum zu schaffen sein. Drittens und vor allem ist die Signalwirkung fatal! Zumal in den entscheidenden Monaten der Verhandlungen über ein neues globales Klimaabkommen, wie es im Dezember in Paris verabschiedet werden soll und um dessen Verbindlichkeit aktuell zäh gerungen wird. Der besondere klimapolitische Stellenwert der G7-Erklärung erklärt sich ja genau daraus. Verzichtet die Bundesregierung zu diesem kritischen Zeitpunkt nun auf die Klimaabgabe für Kohlekraftwerke wird der Rückenwind von Elmau zumindest den deutschen und europäischen Unterhändlern prompt wieder aus den Segeln genommen. Wie will man glaubhaft mit den großen Kohlefördernationen des Südens, wie insbesondere China, Indonesien, Südafrika und Kolumbien, aber auch innerhalb Europas – vor allem Polen – über die so dringend gebotene Dekarbonisierung ihrer Volkswirtschaften verhandeln, wenn man selbst als Energiewende-Vorzeigeland, den Vetospielern des fossilen Wirtschaftsmodells meint nachgeben zu müssen? Die Frage gilt umso mehr, als es in Deutschland vor allem um die Verfeuerung des klimafeindlichsten fossilen Energieträgers geht, nämlich Braunkohle. Hoffnungsfroh stimmt, dass die Zeichen der Zeit auch ohne die Klimaabgabe in den meisten Industrieländern klar auf das Ende der fossilen Ära hindeuten: In der Privatwirtschaft kündigen mehr und mehr Großkonzerne ambitionierte Emissionsminderungsinitiativen an. Institutionelle Investoren haben unter dem Stichwort „Divestment“ damit begonnen, ihre Anlagen aus fossilen Energieunternehmen abzuziehen und zugunsten klimaverträglicher Investitionen umzuleiten. Der IWF betonte unlängst die massiven indirekten Kosten der ohnehin schon in der Kritik stehenden Milliarden-Subventionen für fossile Energieträger, Weltbank und OECD arbeiten intensiv an der Operationalisierung von zero-carbon-economy-Konzepten. Und mit Papst Franziskus hat sich eine weltweit wirkungsmächtige moralische Instanz eindeutig zur Abkehr vom fossilen Wirtschaftsmodell positioniert. Selbst in den USA befinden sich die sogenannten Klimaskeptiker und die sie stützenden Lobbygruppen längst in der Defensive. Umso unverständlicher erschienen die nun im Raum stehenden Zugeständnisse gegenüber der deutschen Kohlelobby. Wer hierbei soziale Gerechtigkeit als Argument ins Feld führt, ignoriert nicht nur die profunden Ungerechtigkeiten des anthropogenen Klimawandels sondern leistet den Rückzugsgefechten fossiler Partikularinteressen kurzsichtige Schützenhilfe. Der Preis dafür ist beträchtlich: er kostet in hohem Maße Zeit, die klimapolitisch ohnehin äußerst knapp ist, und er kostet Glaubwürdigkeit, die für einen erfolgreichen Abschluss des Pariser Klimaabkommens und seiner Umsetzung essenziell ist. Zudem würde in Kauf genommen, dass die Mehrkosten der nun diskutierten Alternativen zur Klimaabgabe – etwa Braunkohlekraftwerke als Kapazitätsreserve zu erhalten – wahlweise dem Bundeshaushalt oder den Endverbrauchern aufgebürdet würden. Der ehemalige Bundesumweltminister und langjährige UN-Umweltchef Klaus Töpfer hat die Widerstände kommen sehen und speziell seinen Ministerkollegen Gabriel bezüglich des Vorschlags der Klimaabgabe – der „ökonomisch und ökologisch sinnvoll“ sei – noch im April 2015 explizit zum Durchhalten ermutigt. Es sieht aktuell nicht so aus, als reichten solche Appelle aus. Es bleibt zu hoffen, dass am Mittwoch, wenn es im Kabinett zum Schwur kommt, der Geist von Elmau einer klimapolitischen Entscheidung auf den Weg hilft, die kluge Signale in Richtung Paris aussendet.

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