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Deutsches Institut für Entwicklungspolitik / Latest News

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Publikationen des German Institute of Development and Sustainability (IDOS)
Updated: 1 month 2 weeks ago

Private Investitionen als Chance

Mon, 04/06/2018 - 09:00
Bonn, 04.06.2018. Ende Mai haben sich in Frankfurt Vertreter aus Finanzindustrie, Technologiefirmen und Politik zur Messe „Innovate4Climate“ getroffen. Drei Tage lang tauschten sie sich darüber aus, wie private Firmen und Investoren zur Erreichung der Klimaziele beitragen und gleichzeitig Gewinne erwirtschaften können. Die Themen reichten dabei von Investitionen in erneuerbare Energien über Kohlenstoffmärkte bis hin zu innovativen Versicherungen gegen Klimarisiken. Die Veranstaltung verdeutlichte den Trend der letzten Jahre, dass der Privatsektor immer stärker auch im Klimaschutz und der nachhaltigen Entwicklung aktiv wird – Bereiche, die traditionell als Aufgaben der Politik angesehen wurden. Was ist davon zu halten? Klar ist: Um die im Jahr 2015 beschlossenen Pariser Klimaabkommen gesteckten Ziele zu erreichen und die Weltwirtschaft auf einen klimafreundlichen Entwicklungspfad zu schicken, ist weltweit ein gigantischer Investitionsbedarf zu decken. Die Industrieländer haben sich verpflichtet, ab dem Jahr 2020 die Klimaschutzbemühungen der Entwicklungsländer mit 100 Milliarden USD jährlich zu unterstützen. Der gesamte Investitionsbedarf für Klima und nachhaltige Entwicklung ist jedoch noch viel größer: Die OECD schätzt, dass für die Jahre 2015 bis 2030 die Summe der notwendigen globalen Infrastrukturausgaben in Bereichen wie Energieversorgung oder Verkehr insgesamt rund 100 Billionen USD verschlingen werden. Das nötige Kapital dafür zu mobilisieren und sicherzustellen, dass es in innovative und klimafreundliche Technologien investiert wird, kann die Politik allein nicht leisten. Daher ist es unerlässlich, private Investoren mit ins Boot zu holen. Was den Privatsektor antreibt Wichtig ist dabei, die Motive für klimafreundliche Investitionen zu verstehen. Zwar wird ein steigender Anteil von Investoren durchaus von ethischen Motiven geleitet, wenn sie Klimaschutz in ihr Handeln einbeziehen – nicht zu verschweigen ist jedoch, dass viele Anleger schlicht auf der Suche nach neuen Geschäftsmodellen und Ertragschancen sind. Dies wird nicht zuletzt durch das herausfordernde wirtschaftliche Umfeld getrieben, in dem durch Entwicklungen wie den gegenwärtigen Niedrigzinsen, der Verschiebung wirtschaftlicher Macht in Richtung Asien oder Megatrends wie der Digitalisierung alte Geschäfts- und Investitionsfelder zunehmend wegbröckeln. Man kann zwar die Sorge haben, dass die wichtigen Ziele des Klimaschutzes und der nachhaltigen Entwicklung privaten Gewinninteressen untergeordnet werden könnten. Aber man sollte dies eher als eine große Chance begreifen: Schafft es die Politik, die richtigen Anreize und Rahmenbedingungen für Investoren zu setzen, dann wird künftig ein immer größerer Anteil des privaten Kapitals im Einklang mit den Zielen von Klimaschutz und nachhaltiger Entwicklung eingesetzt werden. Balance von Freiwilligkeit und Regeln Die richtigen Regeln sind dabei immens wichtig. Sie müssen sicherstellen, dass klimafreundliche Investitionen auch wirklich klimafreundlich sind und nicht nur so aussehen. Der Markt für grüne Anleihen (Green Bonds) veranschaulicht die Chancen und auch Herausforderungen privater Investitionen sehr gut. Green Bonds sind ein noch recht junges Finanzinstrument, mit dem Unternehmen Geld von privaten Investoren einsammeln und versprechen, es in grüne Projekte zu investieren. Welche Projekte aber wirklich „grün“ sind, ist teilweise umstritten. Ist dies bei Solarenergie noch klar, so ist die Antwort bei der Installation von besseren Filtern für Kohlekraftwerke nicht mehr eindeutig. Auch ist nicht immer sicher, ob wirklich neues Geld für grüne Projekte eingesammelt wird, oder ohnehin geplante Investitionen einfach einen grünen Anstrich erhalten. Freiwilligkeit kann dabei ein Schlüssel für die Schaffung von transparenten Regeln sein. Auf eigene Initiative von Vertretern der Finanzindustrie und anderen Interessengruppen wie Nichtregierungsorganisationen hin haben sich bereits freiwillige Regelwerke wie die „Green Bond Principles“ oder die „Climate Bond Standards“ herausgebildet und werden fortlaufend weiterentwickelt. Dies kann für mehr Informationen und Transparenz bei Anlegern und der Öffentlichkeit sorgen. Die Politik ist gut beraten, solche freiwilligen Initiativen des Privatsektors aufzugreifen und weiterzuentwickeln. So kann ein Ausgleich der Interessen von Politik und Wirtschaft erreicht werden: einerseits wird die Akzeptanz von Regeln erhöht und diese auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugeschnitten, andererseits wird aber auch sichergestellt, dass die Regeln effektiv sind und die Interessen von allen gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigen. So wird die Europäische Kommission in Kürze ein eigenes Regelwerk für die Klassifikation von grünen Finanzprodukten vorlegen, welches auch freiwillige Standards aufgreift. Internationale Plattformen wie die G20 sollten zudem genutzt werden, Regeln und Standards international zu harmonisieren. So kann erreicht werden, dass der private Sektor sinnvoll zur Deckung des weltweiten Investitionsbedarfs und zur Erreichung der Klimaziele beiträgt.
Diese Kolumne wurd am 04.06.2018 auch auf makronom.de veröffentlicht.

Die Welt feiert den ersten Weltbienentag

Tue, 22/05/2018 - 09:00
Bonn, 22.05.2018. Am vergangenen Sonntag feierten die Vereinten Nationen den ersten Weltbienentag, an den sich der heutige 25. Internationale Tag der Biodiversität direkt anschließt. Der im Dezember von Slowenien vorgeschlagene Weltbienentag fällt auf den 285. Geburtstag von Anton Janša, einem slowenischen Imker und Bienenwissenschaftler. Seit dieser Zeit haben die Menschen ein besseres Verständnis über die Rolle der Bienen in unseren Ökosystemen entwickelt – insbesondere im Hinblick auf ihre besondere Rolle bei der Bestäubung wichtiger Kulturpflanzen. Außerdem wissen wir heute deutlich mehr über die potentiellen Folgen des Bienensterbens. Im Jahr 2016 wertete die „Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services” (IPBES) Daten zu Bestäubern, einschließlich Bienen, aber auch Hummeln, Schmetterlingen, Vögeln und vielen anderen Tierarten aus. Diese Auswertung zeigte, dass wilde Bestäuber in Nordeuropa und Nordamerika stark zurückgehen. Die verfügbaren Daten für andere Regionen reichen für eine allgemeine Bewertung nicht aus. Allerdings wurden in Südamerika, Asien, Afrika und Ozeanien ebenfalls lokale Rückgänge verzeichnet. In Anbetracht der bedeutenden Rolle, die Insekten und Vögel bei der Bestäubung spielen, ist dieser Verlust besorgniserregend. So sind beispielsweise beinahe 90 Prozent der wilden Blütenpflanzen auf Bestäuber angewiesen. Ebenfalls hängt auch die Landwirtschaft zunehmend von ihnen ab: die bestäubungsabhängige Produktion von Kulturpflanzen ist in den vergangenen 50 Jahren um 300 Prozent gestiegen. Heute werden mindestens 800 Kulturpflanzen, und damit 35 Prozent der landwirtschaftlichen Erträge, von Insekten, Vögeln und anderen Tieren bestäubt. Ohne Bienen gäbe es in den Supermärkten keine Äpfel, keine Gurken, keinen Kaffee und keine Gummibärchen mehr. Bienen sind nicht nur zuverlässige Bestäuber, sondern können auch die Qualität der Früchte verbessern. So wurde in einer Studie gezeigt, dass, im Vergleich mit selbst- oder windbestäubten Früchten, durch Bienen bestäubte Erdbeeren schwerer sind, weniger Fehlbildungen aufweisen und somit eine höhere Qualität erreichen. Leider häufen sich allerdings in den letzten zehn Jahren die Berichte über das Sterben von Wild- und Honigbienen – mit aussagefähigen Belegen dafür, dass der Einsatz von Pestiziden und Dünger in der intensiven landwirtschaftlichen Produktion verantwortlich ist. Überdies verschwinden mit der Intensivierung der Landwirtschaft Wildkräuter, während zunehmend die gleichen Pflanzen angebaut werden. Die begrenzte Blütezeit von Monokulturen reduziert aber die zeitliche Verfügbarkeit von Nektarquellen. Geht dadurch die Zahl der Bestäuber zurück, werden für die Landwirtschaft wichtige Pflanzen nicht mehr bestäubt und die Erträge sinken. Das Teilverbot von Neonicotinoiden in der EU als Schritt in die richtige Richtung Die kürzlich erfolgte Erweiterung des EU-Verbots von Neonicotinoiden-Insektiziden bildet einen wichtigen Schritt zum Schutz der Bienen und anderen, durch Pflanzenschutzmittel bedrohten Insekten. Dieses Verbot wurde politisch durchsetzbar, nachdem in einer umfassenden Neubeurteilung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) nachgewiesen wurde, dass die weltweit am häufigsten eingesetzten Insektizide eine schwerwiegende Gefahr für Honig- und Wildbienen bilden. In einer weiteren Studie wurde außerdem gezeigt, dass bereits 75 Prozent des Honigs weltweit mit Neonicotinoiden belastet ist. Das Verbot ist somit ein Schritt in die richtige Richtung – allerdings reicht es nicht aus. Obwohl die EU ein vollständiges Freilandverbot für drei Wirkstoffe (Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam) verabschiedet hat, ist deren Einsatz in Gewächshäusern weiter gestattet. Damit besteht noch immer das Risiko mit diesen Substanzen Wasser und Böden zu verunreinigen. Solange die Agrarsysteme gegenüber Schädlingen und Krankheiten so anfällig sind, werden Bienen und andere Bestäuber schädlichen Chemikalien ausgesetzt. Daher brauchen wir eine Agrarproduktion, die weniger vom Einsatz chemischer Stoffe abhängig ist. Eine nachhaltige, bestäuberfreundliche Landwirtschaft, die eine ökologische Intensivierung der Landwirtschaft und eine Diversifizierung der Anbausysteme fördert, wäre eine gute Lösung. Tatkräftige Beteiligung Es besteht die Gefahr, dass wir ein Drittel der wichtigsten Nutzpflanzen verlieren, wenn es uns nicht gelingt, die Vielfalt der Bienen und anderer Bestäuber zu erhalten. Mittlerweile werden an einigen Orten Bienenstöcke kommerziell vermietet, um dort, wo es nicht ausreichend einheimische und lokale Honigbienen gibt, die Bestäubung der Pflanzen in landwirtschaftlichen Betrieben zu gewährleisten. Albert Einstein soll einst gesagt haben: „Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben.” Wir wissen heute, dass dieses Zitat nicht von Albert Einstein stammt, aber wir sollten trotzdem versuchen, das Bienensterben aufzuhalten. In diesem Sinne sind neben dem Konsum ökologisch erzeugter Lebensmittel auch lokale Initiativen, wie Bienenhotels oder bienenfreundliche Gärten, wichtig. Der Weltbienentag wird nicht nur gefeiert, um die Menschen für die Leistungen der Bienen zu begeistern, sondern versteht sich auch als Aufforderung, konkrete Maßnahmen zum Schutz der Bienen und damit zum Schutz der Zukunft unserer Nahrungsmittel zu ergreifen.

Wir brauchen einen neuen Begriff von Fairness im internationalen Steuersystem

Mon, 14/05/2018 - 09:00
Bonn, 14.05.2018. Aktuelle Vorstellungen von Fairness im internationalen Steuersystem greifen zu kurz. Sie beruhen wesentlich auf der Idee, dass Steuern dort erhoben werden, wo Mehrwert geschaffen wird. Aber eine zentrale Dimension jeder nationalen Debatte über Steuergerechtigkeit oder -fairness wird im globalen Diskurs völlig ausgeblendet: Die Frage, in welchem Verhältnis öffentliche Leistungen zu den Abgaben stehen, die die Steuerzahler regelmäßig entrichten. Die Forderung, Steuern dort zu erheben, wo Mehrwert geschaffen wird, ist von zentraler Bedeutung für zwei aktuell vieldiskutierte Probleme: Steuervermeidung, vor allem durch große multinationale Unternehmen, sowie Steuerwettbewerb zwischen Staaten. Steuervermeidung beruht auf dem Prinzip, gewinnträchtige Aktivitäten künstlich dorthin zu verlagern, wo sie niedrig oder gar nicht besteuert werden. Weltweit unterschiedliche Standards oder Rechtsauffassungen ermöglichen es Unternehmen, ihre Steuerlast im grenzüberschreitenden Austausch von Waren und (Finanz-)Dienstleistungen zu minimieren. Steuerwettbewerb zwischen den Staaten wiederum führt zu einer allgemeinen Absenkung der Steuerlast. Er wurde zuletzt durch die US-Steuerreform vom Dezember 2017 weiter angeheizt. Im Rahmen dieses Wettbewerbs gewähren die Regierungen immer großzügigere Steuererleichterungen, um Kapital anzulocken oder im Land zu halten. Sie untergraben damit ihre eigenen fiskalischen Möglichkeiten, öffentliche Leistungen bereitzustellen – auch solche, die für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung notwendig wären. Wenn es nun gelänge, unternehmerische Wertschöpfung wieder enger mit Besteuerung zu verknüpfen – die OECD bezeichnet dies als „Nexus-Prinzip“, könnten Steuervermeidung und Steuerwettbewerb wirksamer als bisher eingehegt werden. Gegenüber der derzeitigen Situation wäre dies ein großer Fortschritt. Das Nexus-Prinzip allein kann aber die Fairness des internationalen Steuersystems nicht sichern, denn es greift in wesentlichen Aspekten zu kurz. Zum einen verlagert sich Wertschöpfung vom eigentlichen Produktionsprozess in vor- bzw. nachgelagerte Aktivitäten. Sie findet heute immer mehr in Forschung und Entwicklung, Design, Marketing und nachgelagerten Dienstleistungen statt, und immer weniger in der Produktion selbst. Die wertschöpfungsintensiveren Tätigkeiten sind dabei typischerweise in den Ländern des globalen Nordens bzw. in sogenannten „Steueroasen“ angesiedelt. Die Finanzierungsprobleme vieler ärmerer Staaten wären somit nicht gelöst. Noch wichtiger: Das Verhältnis von Wertschöpfung zu den dafür notwendigen öffentlichen Leistungen ist nicht immer gleich. Globale Wertschöpfungsketten sind heute so gestaltet, dass wertschöpfungsintensivere Tätigkeiten nicht immer auch höherwertige öffentliche Leistungen (z.B. Infrastruktur, Bildungs- oder Sozialleistungen) erfordern. Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz Hier kommt das von Mancur Olson bereits 1969 entwickelte Prinzip der fiskalischen Äquivalenz ins Spiel. Es besagt, dass der Kreis jener, die von einem öffentlichen Gut profitieren, mit dem Kreis jener übereinstimmen soll, die für dieses Gut bezahlen. Dort, wo dieses Prinzip verletzt wird – wo also Personen oder Unternehmen profitieren, ohne zu zahlen, bzw. zahlen, ohne zu profitieren – kommt es zu einer ineffizienten Bereitstellung von Leistungen. Dies kann auf die Quersubventionierung bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten zu Lasten anderer Sektoren hinauslaufen, oder auf eine Unterversorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Leistungen. Eine internationale Debatte, die die Wertschöpfung zum zentralen Maßstab von Besteuerung erhebt, drückt sich letzten Endes um diese Diskussion. Sie zwingt besonders ärmere Staaten zu Anpassungen ihres Leistungsportfolios, die dem gesellschaftlichen Willen eventuell nicht entsprechen. Was also wäre zu tun, um das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz international zu stärken? Erstens müssen die Regierungen in einheitlicher Form Transparenz über die steuerlichen Anreize herstellen, die sie im internationalen Wettbewerb gewähren. Nur wenn diese Informationen vorliegen, kann darüber debattiert werden, welche steuerliche Förderung tatsächlich erwünscht oder sogar notwendig ist. Für die meisten Fördermechanismen gilt heute, dass wir nicht wissen, was sie kosten und welchen wirtschaftlichen Nutzen sie bringen. Zweitens müssen multilaterale Ansätze zum Austausch steuerrelevanter Informationen gestärkt werden. Insbesondere muss offenliegen, wer die tatsächlichen wirtschaftlichen Eigentümer von Vermögenswerten sind, denn nur dies ermöglicht es, Nutzer und Zahler öffentlicher Leistungen zu identifizieren. Drittens wäre es für die Staatengemeinschaft wichtig, zu einer einheitlichen Bemessungsgrundlage für Unternehmenssteuern zu gelangen. Diese könnte sicherstellen, dass die Besteuerung von Unternehmen zwischen den Staaten so abgestimmt wird, dass neben Umsätzen bzw. Gewinnen auch andere Kriterien, z.B. Beschäftigtenzahlen, herangezogen werden. Damit ließen sich die jeweiligen Leistungen der Staaten besser als bisher berücksichtigen. Diese Kolumne wurde am 14.05.2018 auch auf makronom.de veröffentlicht.

Wann kommt es zur Emanzipation arabischer Gewerkschaften?

Mon, 30/04/2018 - 09:00
Bonn, 30.04.2018. Sicherlich wird in diesem Jahr der Tag der Arbeit auch in arabischen Ländern gefeiert werden – mit viel Prunk und Fanfaren, offiziellen Umzügen und möglicherweise der feierlichen Verkündung einer Gehaltserhöhung im öffentlichen Dienst. Doch einmal abgesehen von der vielerorts noch anhaltenden Begeisterung für den Arabischen Sozialismus: Es gibt nicht viel zu feiern auf den Arbeitsmärkten in Nordafrika und dem Nahen Osten. Ein wichtiger Grund hierfür ist das Fehlen handlungsfähiger Gewerkschaften, die ihrer arbeitsmarktpolitischen Rolle gerecht werden. Die Arbeitslosigkeit in Nordafrika und dem Nahen Osten, insbesondere unter Universitätsabsolventen und Jugendlichen, ist alarmierend hoch. Und dies, obwohl die Erwerbsquote von Frauen im internationalen Vergleich das Schlusslicht darstellt. Das heißt, viele Frauen (und darüber hinaus die im informellen Sektor Beschäftigten) tauchen in der Arbeitslosenstatistik gar nicht erst auf. Der nun bereits sieben Jahre zurückliegende Arabische Frühling entzündete sich an der prekären sozioökonomischen Lage und am Fehlen von glaubwürdigen Institutionen, die hier Abhilfe leisten können. Seitdem hat sich die Wirtschaftslage in den meisten Ländern der Region eher noch verschlechtert als verbessert. Laut Umfragen werden, neben innerer Sicherheit, Beschäftigung und das Erwirtschaften von Einkommen von großen Teilen der Bevölkerung in arabischen Ländern als dringlichste Probleme gesehen. Selbst der Klassenprimus in Punkto politische Öffnung, Tunesien, kämpft mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten – und dies obwohl die Gewerkschaft UGTT und der Arbeitgeberverband UTICA als Verhandlungsführer im sogenannten Tunesischen Quartett maßgeblich zum nationalen Dialog und zur Schaffung einer neuen, freieren politischen Ordnung beitrugen und hierfür sogar den Friedensnobelpreis erhielten. Arabische Gewerkschaften haben einen äußerst schwierigen Stand: Einerseits ist da das korporatistische Erbe aus Zeiten des arabischen Sozialismus, in dem Gewerkschaften weitgehend gleichgeschaltete Massenorganisationen im Dienste autokratischer Herrscher waren. Andererseits ist das Thema Gewerkschaften im arabischen Raum ein hochpolitisches: In einem Kontext, der von westlicher Parteiendemokratie weit entfernt ist, bieten Gewerkschaften einen legalen Rahmen, sich politisch zu organisieren – auch trotz Ausnahmezustand, Versammlungsverboten oder beschnittener Pressefreiheit. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass arabische Potentaten in Gewerkschaften mögliche oppositionelle Rädelsführer vermuten und versuchen, ihren Einfluss – notfalls mit Gewalt – einzuschränken. Selbst der italienische Forscher Giulio Regeni, der zur ägyptischen Gewerkschaftsbewegung forschte, fiel der Repression zum Opfer. Dementsprechend vorsichtig und verhalten ist der Umgang nicht nur der deutschen Entwicklungspolitik mit dem Thema Gewerkschaften. EZ-Projekte im Bereich Beschäftigung befassen sich vorwiegend mit der Bekämpfung von Jugend- und Frauenarbeitslosigkeit durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, oder mit Unternehmensförderung, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Mikrokrediten. Maßnahmen, die direkt auf die Organisation des Arbeitsmarkts abzielen, wie die zur Unterstützung des tunesischen Sozialpakts, sind eher selten, entwicklungspolitisch aber umso wichtiger.  Die Funktion von Gewerkschaften ist es in erster Linie, Arbeitnehmerinteressen zu vertreten und der Arbeiterschaft erzielte Verhandlungsergebnisse zu vermitteln, um so zu einem funktionierenden Arbeitsmarkt beizutragen. In Nahost und Nordafrika ist beides unabdingbar, um den überfälligen neuen Gesellschaftsvertrag aus der Taufe zu heben: Arbeitgeber und staatliche Akteure müssen Arbeitnehmer mehr mitbestimmen lassen, arabische Arbeitnehmer im Gegenzug Verhandlungsergebnisse anerkennen und realistische Erwartungen hinsichtlich verfügbarer Jobs im öffentlichen Dienst oder möglicher Sozialleistungen entwickeln. Nicht nur staatliche Repression, sondern auch Seilschaften und rücksichtslose Durchsetzung von Partikularinteressen gefährden arbeitsmarktpolitische Errungenschaften. Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder in einem Arbeitgeberverband wird bislang häufig nur als Investition in das eigene wasta (arabisch für „Vitamin B“) gedeutet. Diese Vetternwirtschaft oder gegenseitige Schuldzuweisungen an der Misere des lokalen Arbeitsmarkts sind kontraproduktiv. Vielmehr muss die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Institutionen, Arbeitgeberverbänden und eben auch Gewerkschaften stärker in den Mittelpunkt rücken und sich, frei von politischen Vorurteilen, den Problemen auf dem Arbeitsmarkt widmen. Mit etwas Mut und Fingerspitzengefühl kann die deutsche Entwicklungspolitik arabischen Partnern das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft nahebringen und so zur inklusiveren Wirtschaftsentwicklung beitragen. Zum Tag der Arbeit heißt es: Es gibt noch viel zu tun, für die arabische Welt und für ihre entwicklungspolitischen Unterstützer!

Nachhaltiger öffentlicher Einkauf als Beitrag zu besserem Arbeitsschutz

Mon, 23/04/2018 - 08:00
Bonn, 23.04.2018. Vor fünf Jahren, am 24. April 2013 stürzte in Rana Plaza, Bangladesch ein Fabrikgebäude ein, in dem tausende Menschen an Kleidungsstücken für den Export arbeiteten. Bei dem Einsturz, der auf die Missachtung von Bauvorschriften und Vorgaben zur Arbeitssicherheit zurückzuführen ist, kamen 1.138 Menschen ums Leben. Damals lenkte die Katastrophe die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Menschen- und Arbeitsrechte entlang globaler Wertschöpfungsketten. Doch was wurde aus der berechtigten Empörung der Weltgemeinschaft und werden Staaten ihrer Verantwortung heute gerecht? Rana Plaza war eines der schwersten Unglücke in der Bekleidungsindustrie in Bangladesch. Als mediales Ereignis hat diese Katastrophe die Öffentlichkeit über unzumutbare und mitunter lebensgefährliche Arbeitsbedingungen in Bangladesch und im gesamten Globalen Süden sensibilisiert. Einer der aussagekräftigsten Indikatoren dafür sind die Versprechungen großer Marken nicht nur höhere Standards bei ihren Zulieferern einzufordern, sondern diese auch zu kontrollieren. Verantwortungsvolle Nachfrage stärken Die Arbeitsgesetzgebung in Bangladesch ist durchaus fortschrittlich, nur mangelt es wie in vielen Produzentenländern des Globalen Südens an deren Durchsetzung. Der Fabrikeinsturz in Rana Plaza hat in Bangladesch und darüber hinaus Bemühungen um sicherere und bessere Arbeitsbedingungen verstärkt. Viele Probleme bestehen aber weiterhin. Es zeigt sich, dass breitenwirksame Regelungen zu fairen Produktionsbedingungen, beispielsweise in Gestalt der UN-Leitprinzipien zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten von Unternehmen, kaum Auswirkungen haben. Gleichzeitig hat die Reaktion von Unternehmen und der Politik auf das Unglück von Rana Plaza die Notwendigkeit zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen deutlich gemacht. Vielversprechender ist es daher, auf der Nachfrageseite Druck auf Unternehmen auszuüben und ihre Verantwortung für soziale und ökologische Folgen ihrer Produktion zu unterstreichen. Öffentliche Beschaffung als Hebel für nachhaltigen Wandel Weltweit macht die öffentliche Nachfrage 15-20 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung aus und kann somit, wie auch der private Konsum, maßgeblichen Einfluss auf Produktionsbedingungen ausüben. Alleine in Deutschland beträgt das Einkaufsvolumen der öffentlichen Hand ungefähr 460 Mrd. Euro jährlich. Damit verfügt die öffentliche Nachfrage über eine enorme Hebelwirkung gegenüber Händlern und Herstellern. So wird nachhaltige öffentliche Beschaffung auch als zentrales Instrument zur Umsetzung des Agenda 2030-Ziele der Vereinten Nationen aufgeführt. Dank Reformen des Vergaberechts auf EU- und Bundesebene kann diese Hebelwirkung theoretisch auch für die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards bei der öffentlichen Vergabe genutzt werden. In der Praxis jedoch gibt es aber nur wenige öffentliche Auftraggeber, die entsprechende Kriterien berücksichtigen. Insbesondere bei den Kommunen, die ungefähr zwei Drittel des bundesdeutschen Einkaufsvolumens verwalten, gibt es nur einzelne Vorreiter. Auch Landesgesetzgebungen haben daran bisher nur wenig geändert. Genauso stellen faire Beschaffungsprojekte in Kommunen anderer EU-Staaten bislang eher die Ausnahme denn die Regel dar. Es handelt sich stets um positive Leuchtturmprojekte, eine flächendeckende Umsetzung durch Kommunen und andere öffentliche Konsumenten gibt es nicht. Die mögliche Hebelwirkung der öffentlichen Beschaffung für eine Transformation in Richtung Nachhaltigkeit wird kaum genutzt. Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung anstoßen Erste Erkenntnisse legen nahe, dass die Eröffnung eines regulativen Möglichkeitsraums zur Verfolgung sozialer und ökologischer Ziele in der öffentlichen Beschaffung nur ein Bereich darstellt um Veränderungen anzustoßen. So werden im Zuge eines aktuellen Forschungsprojekts am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) zwei weitere, mindestens ebenso wichtige Bausteine zur Umsetzung fairer Beschaffung in Kommunen analysiert – die Verwaltungsstrukturen sowie die Rolle von engagierten Einzelpersonen. Praxisnahe Leitfäden zu nachhaltiger öffentlicher Beschaffung liegen seit Jahren vor, an Erkenntnisse zu Wandlungsprozesse innerhalb kommunaler Verwaltungen zu deren Umsetzung fehlt es jedoch. Genau diese Forschungslücke wird das Projekt mit Bezug auf kommunale Akteure in Europa, Lateinamerika und Sub-Sahara Afrika adressieren und dazu Stakeholder aus der Praxis einbinden. Die öffentliche Hand hat mit ihren Beschaffungsentscheidungen und deren Ausgestaltung ein machtvolles Instrument zur Verfügung, Marktversagen in sozialen und ökologischen Belangen zu korrigieren und Wirtschaftsakteure zu beeinflussen. Hierzu müssen jedoch institutionelle Veränderungsprozesse angestoßen werden, durch Weiterbildung, Change-Management und die Unterstützung überzeugter Individuen. Falls die öffentliche Hand es auf dieser Grundlage schafft große Teile ihrer Beschaffung nachhaltig zu gestalten, kann sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass sich Ereignisse wie das Unglück von Rana Plaza nicht wiederholen.

Die Nexus-Perspektive: Für eine integrierte Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele

Mon, 16/04/2018 - 09:00
Bonn / Chapel Hill, 16.04.2018. Wollen wir weltweite nachhaltige Entwicklung erreichen, dann müssen wir unsere wirtschaftlichen Aktivitäten gezielter steuern. Einerseits müssen die ökologischen Grenzen des Planeten respektiert werden. Andererseits darf niemand zurückgelassen und es muss die Ungleichheit innerhalb und über Länder hinweg minimiert werden. Diese komplexe Vision einer gemeinsamen Zukunft wurde in der Agenda 2030 mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen (SDGs) im Jahr 2015 von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gemeinsam verabschiedet. Seither treffen sich jeden Juli die UN-Mitgliedsstaaten in New York, um den Stand dieser 17 Ziele im Rahmen des Hochrangigen Politischen Forums (HLPF) zu diskutieren. Doch zwei Wochen zwischenstaatlicher Berichterstattung sind ein enges Zeitfenster, um der inhaltlichen Komplexität dieser Vision gerecht zu werden. Insbesondere aber fehlt es an einer vernetzten Betrachtung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen. Die Nexus-Perspektive erlaubt es, sowohl die systemische Verbundenheit der SDGs herauszuarbeiten, sowie gleichzeitig Zielkonflikte systematisch in den Blick zu nehmen. Der Prozess um das HLPF herum gewinnt zunehmend an Bedeutung. So finden im Vorfeld des HLPF zahlreiche Expertentreffen statt. Darüber hinaus sensibilisieren wissenschaftliche Sonderhefte, Schattenberichte und Konferenzerklärungen der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und des Privatsektors zunehmend diesen gesamten Prozess und speisen so vernachlässigte Themen und Erfolgsbeispiele in den Berichterstattungsprozess ein. Diese Prozesse sollen die Abstimmung vor dem HLPF und das Lernen zwischen den Ländern und unterschiedlichen Stakeholdergruppen fördern. Dies alles ist wichtig. Jedoch befördert die bislang getrennt geführte Berichterstattung über die jeweiligen Ziele es nicht, die Wechselwirkungen zwischen den ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen zu berücksichtigen. Eine Nexus-Perspektive hingegen fördert ein systemisches Verständnis und erörtert übersektorale Governance-Ansätze. So befasst sich die Debatte um den Wasser-Energie-Nahrungs-Nexus mit der Frage, wie konkurrierende Nachfrage nach den natürlichen Ressourcen Wasser (SDG 6), Boden und Biodiversität (SDG 15), mit den Anstrengungen zur Erreichung von Wasser- (SDG 6), Energie- (SDG 7) und Ernährungssicherheit (SDG 2) und dem Schutz des Klimas (SDG 13) in Einklang gebracht werden kann. In einer Analyse des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) und des Stockholm Environment Institute (SEI) wurden die Beiträge aller im Rahmen des Pariser Klimaabkommens eingereichten Selbstverpflichtungen (NDCs) den 17 Nachhaltigkeitszielen zugordnet und in einem Online Tool visualisiert. Ein Ergebnis der Untersuchung war, dass Synergien fester Bestandteil politischer Dokumente sind, Zielkonflikte hingegen nicht adressiert werden. Das könnte aber möglicherweise dazu führen, dass die Klimaziele auf Kosten des Erhalts der Biodiversität oder des Sicherstellens von Wasser- oder Ernährungssicherheit erreicht werden. Im Vorfeld des diesjährigen HLPF findet diese Woche in Chapel Hill, North Carolina zum zweiten Mal die vom Water Institute initiierte Nexus-Konferenz statt. Es ist ein Stakeholdertreffen, das wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche und politische Akteure gleichermaßen vereint und sich mit übersektoralen Ansätzen zur integrierten Umsetzung der Agenda 2030 befasst. Die erste Nexus-Konferenz leistete im Jahr 2014 einen bedeutenden inhaltlichen Beitrag zur Anerkennung der Verbundenheit der 17 Nachhaltigkeitsziele. Was können wir nun also von der diesjährigen, zweiten Nexus-Konferenz erwarten? Als eine Plattform, die den Dialog zwischen unterschiedlichen Stakeholdern befördert, ermöglicht sie den Wissensaustausch zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Politikgestaltung. Zudem verdeutlicht der diesjährige Fokus auf die Urbanisierung den Querschnittscharakter der SDGs. Die konkurrierende Nachfrage nach natürlichen Ressourcen und die Herausforderung soziale Ziele zu erreichen schlagen sich drastisch in den stark wachsenden urbanen Räumen nieder. Um eine integrierte Umsetzung aller SDGs im urbanen und dem damit eng verknüpften ländlichen Raum zu erreichen, ist es sinnvoll übersektorale Ansätze für kritische Zielkonflikte zu diskutieren, um Interdependenzen innerhalb der Agenda 2030 frühzeitig zu adressieren. Hier kann die diesjährige Nexus-Konferenz wegweisend sein, indem kritische Zielkonflikte im ausgewählten Themenspektrum thematisiert werden und das Ergebnisdokument der Nexus-Konferenz Schlüsselfaktoren für eine integrierte Umsetzung der Agenda 2030 betont. Dabei bietet die Konferenz eine geeignete Plattform, den Umgang mit Zielkonflikten kritisch zu reflektieren. Dies beinhaltet prozedurale Fragen, wie mit Zielkonflikten umgegangen werden soll, Fragen der Legitimität, nämlich wer Entscheidungen in Hinblick auf Zielkonflikte entscheiden darf und möglicherweise ethische und praktische Fragen, wer Anspruch auf Kompensationen hat. Diskussionen um mögliche Lösungspfade können wiederum im Rahmen thematischer Reviews vor dem HLPF Eingang in nationale Umsetzungsprozesse und politischen Agenden finden.

Der Wald in Subsahara Afrika braucht umfassende Strategien für Energie aus Biomasse!

Wed, 28/03/2018 - 13:52
Bonn, 28.03.2018. Am 21. März wird der internationale Tag des Waldes gefeiert, obwohl vielen Waldschützern nicht zum Feiern zumute ist. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO hatte bereits in den 1970er Jahren einen solchen Gedenktag ins Leben gerufen. Seitdem sind insbesondere in den Tropen viele Millionen Hektar Wald verloren gegangen, was durch die Zunahme der Waldfläche in den gemäßigten Breiten nicht kompensiert werden konnte. Ein wichtiger Grund für den Waldverlust und für den Verlust seiner ökologischen Qualität ist die (übermäßige) Entnahme von Holz für den Energiebedarf. Zum Tag des Waldes 2017 (Motto „Wald und Energie“) sammelte die FAO  dazu beeindruckende Zahlen: (2,4 Milliarden Menschen sind auf Holzenergie angewiesen zum Kochen und Heizen. Mehr als die Hälfte des eingeschlagenen Holzes weltweit wird zur Energienutzung verwendet. Holzenergie stellt 40 Prozent der gesamten erneuerbaren Energie - mehr als Solar-, Hydro- und Windenergie zusammen. 900 Millionen Menschen sind im Holzenergiesektor beschäftigt, 3/4 davon Frauen. Besonders abhängig von Holzenergie ist Subsahara Afrika, in Tansania etwa sind es 90 Prozent des gesamten Energieverbrauchs. Die Internationale Energieagentur geht davon aus, dass zumindest bis 2040 die Produktion von Energie aus Biomasse global noch ansteigen wird. Für Afrika geht die Agentur für erneuerbare Energien IRENA selbst unter optimistischen Annahme davon aus, dass der Biomasse-Verbrauch nur geringfügig sinkt –  er könnte aber auch deutlich ansteigen. Sind das gute oder schlechte Nachrichten für den Wald? Interessanterweise gibt es dazu ganz unterschiedliche Antworten: In vielen Industrieländern wird die Ausdehnung der Holzenergienutzung aktiv betrieben. Das betrifft die (wiederentdeckte) Nutzung von Scheitholz, aber noch viel mehr von Holzpellets. Der entsprechende Handel wächst exponentiell. Grund für den Boom sind die Eigenschaften von Biomasse: Sie ist vielseitig, leicht lager- und transportierbar und gut mit bisherigen Energiesystemen kompatibel. Die Politik unterstützt allgemein diese Nutzungstendenz. In Entwicklungsländern ist die Situation anders: Holz wird häufig als altmodisch angesehen und mit negativen Attributen bedacht (Emissionen, Unfälle und eben Entwaldung). Viele Länder versuch(t)en sich an Substitutionsprogrammen z.B. durch Flüssiggas. Dies hat(te) zwar in Schwellenländern durchaus Erfolg, sprach in den ärmeren Ländern Subsahara Afrikas aber häufig nur städtische und einkommensstärkere Haushalte an. Zum Teil wurde die Holzkohleproduktion schlicht verboten, was allerdings mangels Alternativen nur zur Förderung von Schwarzmärkten und Preis führte, aber kaum zur Reduzierung des Verbrauchs. In den meisten Ländern wird allenfalls an Teilproblemen gearbeitet, wie etwa der Verbreitung verbesserter Öfen oder Aufforstungen im Rahmen von Klimaschutz-Programmen. Rar dagegen sind Ansätze, die die Angebotssteigerung von nachhaltig erzeugter Biomasse fördern, und noch rarer wirklich integrierte Ansätze, die die gesamte Energieholz-Wertschöpfungskette von der Produktion über die Vermarktung und Verarbeitung bis zum Konsum adressieren. Ein unrealistisches oder kein Engagement zur Holzenergie löst allerdings keine Probleme, sondern verlagert und verschärft diese nur. Denn gerade die arme Bevölkerung in Subsahara Afrika hat kaum Alternativen zu Holz. Substitutionsprogramme, die meist auf fossiler Energie beruhen, können dies allenfalls sehr langfristig ändern. Wenn die bis 2100 auf bis zu 4 Milliarden Menschen geschätzte Bevölkerung Afrikas Energie nachhaltig konsumieren soll, muss nachhaltige Holzenergiewirtschaft berücksichtigt werden. Dieses Holz kann aus Waldwirtschaft (zusammenhängende Baumbestände) sowie Agro-Forstwirtschaft (Bäume integriert in Landwirtschaft) stammen. Für diese Holzenergiestrategien braucht es ein Bündel von Maßnahmen: abgestimmte Rechte an Boden, Bäumen und Wäldern, forstwirtschaftliche und verarbeitungstechnologische Verbesserungen, insbesondere bei der Waldbewirtschaftung, den agroforstlichen Anbausystemen und der Holzkohle-/Meilertechnologie, Verteuerung von nicht-nachhaltiger Produktion, Reformen zur Abstimmung zwischen den beteiligten Sektoren ((Land)Wirtschaft, Energie, Forst) sowie zwischen den verschiedenen administrativen Ebenen vom einzelnen Land/Forstwirt bis zu Ministerien.  Da Holzenergie in Afrika faktisch aus atomisierten Wertschöpfungsketten besteht, sind dezentrale Ansätze mit dem Ausgangspunkt im ländlichen Raum unabdingbar. Trotzdem ist, wegen der Gefahr des Raubbaus, eine zentrale Überwachung ebenso wichtig. Die Geber sollten sich vor diesem Sektor nicht scheuen, auch wenn er hochkomplex ist - und die Gefahr von Rückschlägen und Negativ-Schlagzeilen nicht gering: Nicht-Beachtung ist schlimmer und gefährlicher. Die positive Einstellung zur Biomasse in den Industrieländern und deren jahrhundertealter Waldschutz unter/durch Nutzung sollte deswegen weitergetragen werden. Mit konsequentem Engagement kann so aus der Holzenergie eine positive Kraft für den Wald entstehen, ohne aber wird das Gegenteil passieren.

US-Zollerhöhungen: Welche Auswirkungen haben sie für Entwicklungsländer?

Fri, 23/03/2018 - 11:22
Bonn, 23.03.2018. An diesem Freitag treten die von den USA beschlossenen Strafzölle auf Stahl- und Aluminiumimporte in Kraft. Die amerikanische Handelspolitik war im ersten Jahr der Präsidentschaft von Donald Trump von einer aggressiven Rhetorik geprägt, der allerdings erst einmal kaum Taten folgten. Einzig der Austritt der USA aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) am ersten Amtstag von Donald Trump und die erzwungene Nachverhandlung der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) sorgten für Aufregung. Die massiven Zollerhöhungen auf Stahl- und Aluminium und die gestern angekündigten Maßnahmen gegen China haben das Potenzial eine protektionistische Eskalation in Gang zu setzen. Welche Auswirkungen dies auf Entwicklungsländer haben wird, hängt maßgeblich von den Reaktionen der anderen Handelsmächte, vor allem der Europäischen Union (EU) und dem Schwellenland China, ab. Die kurzfristigen Auswirkungen der Zollerhöhungen auf Entwicklungsländer – sieht man von den großen Schwellenländern ab – dürften gering sein. Die USA erhöhen die Zölle zwar auf alle Stahl- und Aluminiumimporte, allerdings sind Entwicklungsländer hiervon kaum betroffen, weil ihr Anteil am weltweiten Stahlhandel gering ist. Es sind vor allem die Industrie- und Schwellenländer, die von den Zollerhöhungen der USA betroffen sind. Daher war es auch folgerichtig, dass die G20-Finanzminister das Thema bereits auf dem G20-Gipfel in Hamburg und diese Woche in Argentinien diskutiert haben – gleichwohl mit mäßigem Erfolg. Eigentlich wäre die G20 der richtige Rahmen für Verhandlungen. Denn die Handelsproblematik steht im Zusammenhang mit Überkapazitäten (vor allem in China) und makroökonomischen Politiken (vor allem den massiven deutschen Leistungsbilanzüberschüssen). Diese Situation erfordert Zugeständnisse auf allen Seiten, wenn ein offenes Handelssystem auf kooperativer Grundlage erhalten werden soll. Besorgniserregender für Entwicklungsländer sind jedoch die mittel- bis langfristigen Auswirkungen der US-Zollerhöhungen. Entwicklungsländer sind tief in die globalen Wertschöpfungsketten eingebunden, an deren Spitzen Unternehmen aus Industrie- und zunehmend auch Schwellenländern stehen. Mit dem Ziel günstiger und effizienter produzieren zu können, spalten große und mittlere Unternehmen seit den 1990er Jahren Produktionsprozesse zunehmend auf. Um am Welthandel teilnehmen zu können, müssen sich Unternehmen aus Entwicklungsländern auf einzelne Aufgaben in globalen Wertschöpfungsketten spezialisieren, anstatt zu versuchen das gesamte Produkt selbst herzustellen. Eine Zollspirale, die sich zwischen den USA, der EU und China nach oben schraubt, hätte demnach auch negative Auswirkungen auf Entwicklungsländer, die durch die Wertschöpfungsketten übertragen werden. Denn in den Produkten europäischer und chinesischer Unternehmen, die nicht mehr auf dem amerikanischen Markt abgesetzt werden können, stecken auch Zwischenprodukte aus Entwicklungsländern. Vergleicht man die Wirkung von Zöllen auf globale Wertschöpfungsketten mit einem fahrenden Zug, so ist jeder Aufprall an der Spitze des Zuges auch im letzten Waggon noch zu spüren. Entwicklungsländer würden auch von der Schwächung des multilateralen Handelssystems betroffen sein. Sowohl Brüssel als auch Peking haben angekündigt gegen die Zollerhöhungen Washingtons in der Welthandelsorganisation (WTO) vorzugehen. Grundsätzlich ist es richtig, Handelskonflikte im Rahmen eines unabhängigen und regelbasierten Systems auszutragen. Allerdings ist der Ausgang des internationalen Schiedsverfahrens offen. Dies liegt vor allem an der Begründung von Präsident Trump: Zollerhöhungen auf Stahl- und Aluminiumimporte sind notwendig, weil ansonsten die nationale Sicherheit der USA bedroht ist. Gerade der Ausnahmetatbestand der nationalen Sicherheit ist allerdings im WTO-Regelwerk nur schwammig definiert. Sollte diese Begründung in einem WTO-Verfahren Erfolg haben, dürften sich auch Unternehmen aus anderen Sektoren und Ländern ermuntert sehen, auf Zollschranken im nationalen Sicherheitsinteresse zu drängen. Dieser legalisierte Protektionismus würde auch Sektoren treffen, die für Entwicklungsländer wichtig sind. Sollten die USA in den Schiedsverfahren unterliegen, dürfte Washington dies zum Anlass nehmen, auch den letzten Nagel in den Sarg zu schlagen, in dem die WTO zu Grabe getragen wird. Seit seinem Amtsantritt hat Präsident Trump mit seiner Abneigung gegenüber der WTO nicht hinterm Berg gehalten und blockiert aktuell die Besetzung zentraler Richterstellen beim Berufungsgericht der WTO. Eine weitere Schwächung der WTO wäre vor allem für Entwicklungsländer fatal, denn gerade die Schwachen im Welthandelssystem sind auf eine Institution angewiesen, in der Regeln maßgeblich sind und nicht der Wille des Mächtigen. Die Situation scheint verfahren. Mit welcher Härte die Trumpschen Schutzzölle auf das Handelssystem durchschlagen, hängt davon ab, wie die anderen großen Handelsmächte reagieren. Direkte Gegenmaßnahmen im Stahl und Aluminiumsektor sind gerechtfertigt, um sich vor Überkapazitäten zu schützen und Arbeitsplätze zu sichern. Weitergehende Vergeltungsmaßnahmen sind dagegen kontraproduktiv. Sie würden nur den nächsten Gegenschlag der USA provozieren. Diese Eskalation muss verhindert werden – auch im Interesse der Entwicklungsländer.

Wassersicherheit und ökosystembasierte Anpassung an den Klimawandel

Thu, 22/03/2018 - 09:00
Bonn, 22.03.2018. Das Motto des diesjährigen Weltwassertages lautet „die Antwort liegt in der Natur“ und bezieht sich auf grüne Lösungen für die Wasserkrisen des 21. Jahrhunderts. Diese Krisen sind eng mit dem Klimawandel verknüpft, der die Wassersicherheit weltweit bedroht. Rund 1,9 Mrd. Menschen sind bereits heute mit Wasserknappheit konfrontiert. Nach Schätzungen der OECD wird diese Zahl bis 2050 auf 3 Mrd. Menschen steigen. Schätzungen zufolge werden außerdem bis 2050 fast 20 Prozent der Weltbevölkerung von Überschwemmungen bedroht sein. Nach dem World Economic and Social Survey bekommen arme und marginalisierte Gruppen wahrscheinlich die schlimmsten Auswirkungen von Wasserknappheit und Hochwassergefahren zu spüren, da sie in besonders risikobehafteten Gebieten leben und nicht die Mittel haben, um sich auf Dürren oder Hochwasser vorzubereiten. Der Klimawandel verschärft dabei bestehende Ungleichheiten und bedroht die Wassersicherheit und damit die Entwicklung und das Wohlergehen bereits benachteiligter Gruppen überproportional. Wasser ist für Menschen lebenswichtig. Es wird als Trinkwasser genutzt und stellt die Grundbedingung für die Produktion von Fisch, Holz, Früchten und einer Vielzahl anderer Produkte aus der Landwirtschaft und Industrie sowie für eine Reihe von Freizeitmöglichkeiten dar. Darüber hinaus können wasserbasierte Ökosysteme und die von ihnen bereitgestellten Dienstleistungen den Menschen helfen, die Auswirkungen des Klimawandels zu bewältigen. Die Hochland-Ökosysteme der Anden (Paramos) z.B. nehmen Wasser auf und speichern es, dienen als Hochwasserpuffer in der Regen- und als ausgleichende Wasserquelle in der Trockenzeit. Küstenmangroven und Feuchtgebiete reduzieren die Auswirkungen von Überschwemmungen und Stürmen auf Städte und Dörfer. Vor diesem Hintergrund setzen viele Entwicklungs- und Umweltagenturen auf die Förderung ökosystembasierter Anpassungsstrategien, um Wasserressourcen auch zukünftig zu sichern Ökosystembasierte Anpassung sowie Maßnahmen zur Wassersicherheit stellen das Wohlergehen aller Menschen in den Mittelpunkt. Bestehende soziale Ungleichheiten beeinflussen jedoch oft, inwieweit Bevölkerungsgruppen von Ökosystemdienstleistungen profitieren können und wie sich Wasserressourcen und -risiken verteilen. Als Realitätscheck ist es daher notwendig, Maßnahmen zur Förderung der Wassersicherheit und ökosystembasierter Anpassung vor dem Hintergrund wachsender Ungleichheit zu bewerten. Zum Beispiel kann die Wassernutzung einer bäuerlichen Gemeinschaft flussaufwärts (z.B. Bewässerung) mit der Wassersicherheit eines flussabwärts gelegenen Schnittblumenproduzenten oder eines Wasserversorgungsunternehmens. So kann die Bewahrung der Wassersicherheit einiger Akteure zu einer Wasserunsicherheit für andere führen. Politische und wirtschaftliche Macht spielen eine wichtige Rolle bei der Frage, wessen Wassersicherheit erreicht wird. Viele ökosystembasierte Anpassungsprojekte werden in lokalen Gemeinschaften in kleinen Projekten durchgeführt. Doch die Aktivitäten mächtiger Wirtschaftsakteure (z.B. große Viehzüchter, Immobilienentwickler) schränken häufig die Anpassungsfähigkeit der Gemeinschaften ein, z.B. durch das Trockenlegen von Feuchtgebieten oder das Fällen von Bäumen, was das Überschwemmungsrisiko erhöht. Die meisten ökosystembasierten Anpassungsprojekte sind mit Umweltschutzauflagen verbunden: Dies bedeutet jedoch einen eingeschränkten Zugang der Gemeinden zu einigen Ökosystemen und deren Dienstleistungen (z.B. weniger Bewässerungswasser, weniger Holz, Landnutzungsbeschränkungen) und einen erhöhten Zeitbedarf für Anpassungsmaßnahmen (z.B. lebende Hecken, Mangrovenanbau). Unterdessen versuchen mächtige Wirtschaftsakteure, Umweltschutzgesetze zu umgehen und zerstören weiterhin bestehende Ökosysteme. In diesem Sinne hängt der Erfolg ökosystembasierter Anpassung nicht nur von den Anstrengungen der Gemeinschaften selbst ab, sondern auch von der Durchsetzung der Umweltgesetze und der Verantwortung, die mächtige Wirtschaftsakteure für diese gemeinsamen Ökosysteme zu übernehmen bereit sind. Das Potenzial naturbasierter Lösungen ist gewaltig. Sie bieten die Möglichkeit, Wassersicherheit,
Klimaresilienz und sozialen Zusammenhalt zu verbessern und gleichzeitig Ökosysteme zu schützen. Sozioökonomische Ungleichheiten und die Auswirkungen des Klimawandels auf die Wassersicherheit stellen jedoch eine doppelte Herausforderung dar. Um sicherzustellen, dass naturnahe Lösungen diejenigen erreichen, die am dringendsten Hilfe benötigen, müssen sie Fragen der sozialen Differenzierung in den Blick nehmen und mögliche Auswirkungen auf die Sozialstruktur der Zielgruppen genau betrachten. Nur so können sie zu echten Win-Win-Ergebnissen führen.

Die Zeit ist reif für mehr gemeinsame Impulse zu globalen Entwicklungsfragen

Wed, 21/03/2018 - 11:17
Bonn/Paris, 21.03.2018. Die globale Entwicklungsagenda steht unter Druck. Die weltweit steigende Zahl von Flüchtlingen, die humanitären Krisen in fragilen Staaten sowie die zunehmend sichtbaren Folgen des Klimawandels machen deutlich, dass „inklusive“, „nachhaltige“ oder „gute“ Entwicklung nicht automatisch stattfindet. Gemeinsame Strategien zur Lösung globaler Probleme waren deshalb noch nie so wichtig wie heute, auch wenn gleichzeitig die Möglichkeiten, gemeinsam gegen schwierige Trends vorzugehen, noch nie so begrenzt erschienen. Auch Europa bildet hierbei keine Ausnahme, da eine Vorliebe für kurzfristige politische Erfolge und die populistische und nationalistische Sichtweise einiger EU-Mitgliedsstaaten die konzertierte Verfolgung gemeinsamer Entwicklungsthemen immer wieder schwächt. Aus diesem Grund halten wir eine Neuausrichtung der Entwicklungspolitik durch die Suche nach flexibleren Bündnissen und Netzwerken für unabdingbar. Der Zusammenarbeit von Frankreich und Deutschland kommt hierbei aus drei verschiedenen Gründen eine besondere Bedeutung zu. Drei Gründe für eine engere deutsch-französische Zusammenarbeit Die enge, historisch gewachsene Verbindung von Deutschland und Frankreich auf vielen Gebieten ist das Fundament für die zukünftige Zusammenarbeit bei globalen Entwicklungsfragen. Grundlage hierfür ist der 1963 vom Präsidenten der Französischen Republik, Charles de Gaulle, und dem deutschen Bundeskanzler, Konrad Adenauer, unterzeichnete Élysée-Vertrag, welcher ehrgeizige Ziele für die Zusammenarbeit beider Länder in entwicklungspolitischen Fragen festschrieb: „Hinsichtlich der Entwicklungshilfe stellen die beiden Regierungen ihre Programme einander systematisch gegenüber, um dauernd eine enge Koordinierung durchzuführen. Sie prüfen die Möglichkeit, Vorhaben gemeinsam in Angriff zu nehmen.“ Trotz einiger vielversprechender Ansätze (z.B. bei der Projektzusammenarbeit im Wassersektor in verschiedenen Ländern) wurden die ursprünglich angestrebten Ziele noch nicht erreicht. Des Weiteren befinden sich sowohl der französische Präsident Macron als auch die deutsche Bundeskanzlerin Merkel noch am Anfang ihrer jetzigen Amtszeit. Ein „neuer Aufbruch für Europa“ hat für beide Regierungen eine herausragende Bedeutung. Trotz in mancherlei Hinsicht unterschiedlicher Sichtweisen, haben neuere politische Entwicklungen ein gesteigertes Interesse an einer engeren Zusammenarbeit beider Länder befördert. Im Jahr 2017 hat beispielsweise der Deutsch-Französische Ministerrat über mehrere entwicklungspolitische Themen beraten. Hierbei könnte die von Frankreich, Deutschland und der EU (sowie von einigen weiteren Partnern) vorangetriebene „Allianz für den Sahel“ eine Vorreiterrolle für weitere gemeinsame Projekte einnehmen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, einer neuen, von beiden Ländern gemeinsam getragenen Entwicklungspolitik stärkeres Gewicht zu verleihen. Gleichzeitig könnten so auch die von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini in Hinsicht auf eine globale Strategie geforderte gemeinsame EU-Außenpolitik und der vom EU-Präsidenten Jean-Claude Junker vorgeschlagene Mehrjährige Finanzrahmen der EU vorangetrieben werden. Darüber hinaus liegen die Vorteile einer nach dem Brexit fortgeführten, möglichst engen Zusammenarbeit von Großbritannien und der EU auch in Fragen globaler Entwicklung auf der Hand. Für beide Seiten sind sowohl Fachkenntnisse und Sachverstand als auch die bewährten Finanzierungsinstrumente des jeweils anderen unverzichtbar. Auch über den derzeitigen finanziellen Beitrag der Briten zur europäischen Außenpolitik (12%) hinaus, ist es im gemeinsamen Interesse von Deutschland und Frankreich, Großbritannien in möglichst großem Umfang weiterhin in die europäische Entwicklungspolitik einzubeziehen; dies gilt vor allem für die Kooperation mit Blick auf Krisenregionen. Eine gemeinsam von Frankreich und Deutschland erarbeitete Strategie globaler Entwicklung könnte dabei den Grundstein sowohl für eine Schärfung des entwicklungspolitischen Profils der EU als auch für eine gemeinsame Vision der zukünftigen, „post-Brexit“ Zusammenarbeit mit Großbritannien legen. Mögliche Handlungsfelder Auf politischer Ebene könnte während der französischen G7-Präsidentschaft 2019 eine vom Deutsch-Französischen Ministerrat vorbereitete gemeinsame Initiative für Afrika und die krisenanfälligsten Staaten vorgestellt werden. Auf der Finanzebene müsste eine Bestandsaufnahme der bisherigen Aufwendungen vorgenommen und gleichzeitig die schon bestehende, bilaterale Zusammenarbeit der jeweiligen Finanzinstitute intensiviert werden. Die Agence Française de Développement (AFD) und die KfW Entwicklungsbank betreiben seit Jahren einen regen Mitarbeiteraustausch. Dieser Austausch sollte sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Abstimmung als auch einer gemeinsamen Strategieentwicklung mit anderen entwicklungspolitischen Institutionen ausgebaut werden. Auf wissenschaftlicher Ebene brauchen wir mehr deutsch-französische Denkanstöße für eine kritische Auseinandersetzung mit Fragen der künftigen strategischen Ausrichtung. Unserer Meinung nach könnten hier das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und das Institut du développement durable et des relations internationales (Iddri) für die gemeinsame Debatte einen geeigneten Rahmen bieten und dabei mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, anderen Akteuren globaler Entwicklung, Mitgliedern der Parlamente und zivilgesellschaftlichen Gruppen kooperieren. Ziel eines solchen Gedankenaustauschs sollte eine Reihe unabhängiger Analysen und Handlungsempfehlungen sein, welche die gemeinsame Arbeit zu globalen Entwicklungsfragen von Frankreich und Deutschland befördert. Stephan Klingebiel ist Co-Chair des Forschungsprogramms „Inter- und transnationale Zusammenarbeit“ am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE). Er ist regelmäßiger Gastprofessor der Stanford University. Tancrède Voituriez ist Volkswirt. Er leitet das Governance-Programm am Institut du développement durable et des relations internationales (Iddri).
Dieser Beitrag ist parallel auch auf Französisch erschienen
Diese Kolumne ist am 21.03.2018 auch bei Euractiv.de erschienen.

Die Ziele des Koalitionsvertrags weisen über die Grenzen Deutschlands hinaus

Mon, 19/03/2018 - 08:00
Die neue Bundesregierung hat sich mit ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland zu stärken. Die Dringlichkeit der Aufgabe liegt auf der Hand. Wahlergebnisse und die Art der politischen Auseinandersetzung belegen zunehmende Risse im sozialen Gefüge. Doch das Problem besteht weit über Deutschland hinaus. Es erklärt etwa den Aufstieg populistischer Politiker, deren Agenden für Konfrontation und Abschottung stehen: Von Chavez bis Trump, von Putin bis Orban. Für viele Gesellschaften sind die Folgen der inneren Zerrissenheit noch viel einschneidender: Seit 2016 sahen sich mehr Länder mit gewaltsamen Konflikten konfrontiert denn je seit dem Ende des Kalten Krieges, warnen Vereinte Nationen und Weltbank in einer kürzlich erschienenen gemeinsamen Studie. Die Verbindung Deutschlands mit dieser Entwicklung steht seit 2015 allen vor Augen. Ohne die Implosion der alten Ordnung im Nahen Osten und Nordafrika wäre es nicht zu jener humanitären Katastrophe gekommen, die dann schließlich auch Europa erreichte. Was also ist zu tun? Der Bericht von UN und Weltbank macht deutlich: Wer nachhaltigen Frieden erreichen will, muss Ausgrenzung überwinden, benachteiligten Gruppen gleiche Chancen zur politischen Teilhabe eröffnen und neue Wege bei der Überwindung von Armut und der Schaffung von Wohlstand gehen. Mehr Wachstum alleine schafft keinen Frieden, mehr Arbeitsplätze sind keine Garantie, dass sich gesellschaftliche Spaltung nicht vertieft. Es ist immerhin die Weltbank, die argumentiert, dass im Zweifel auch Umverteilung erforderlich sein kann, um den sich vertiefenden sozialen Gräben entgegenzuwirken. Unter der Überschrift der „Reduzierung von Fluchtursachen“ hat auch die Bundesregierung seit 2015 viel investiert. Mehrere Milliarden Euro wurden jährlich aufgewendet, um humanitäre Hilfe für Flüchtlinge in Erstaufnahmeländern zu leisten, um Krisenländer und ihre Nachbarschaft wirtschaftlich und mit Infrastrukturmaßnahmen zu stabilisieren – und um damit, so die Hoffnung, die Zahl der Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, zu begrenzen. Vieles davon ist fraglos sinnvoll und aus humanitärer Sicht geboten. Anderes hat Kritik auf sich gezogen, weil etwa Menschenrechtsorganisationen eher Abschottung als nachhaltige Hilfe am Werk sahen. Vor allem aber ist es nicht gelungen, endlich in gleichem Maße in die tatsächliche Vorbeugung von Krisen und die Schaffung nachhaltiger Friedensordnung zu investieren wie in die Krisenbewältigung. Die gemeinsame UN-Weltbank-Studie hat erneut dargelegt, dass Vorbeugung um ein Vielfaches weniger kostet als alleine die Bewältigung der wirtschaftlichen Schäden gewaltsamer Konflikte und humanitärer Katastrophen, von den menschlichen Folgen ganz abgesehen. Wer sich der Minderung von Fluchtursachen widmen will, muss sich damit auseinandersetzen, warum Menschen sich gezwungen sehen, in großer Zahl gegen ihren Willen ihre Heimat zu verlassen. In aller Regel steht dahinter ein Staat, der mehr oder weniger große Teile seiner Bevölkerung aufgegeben hat. Untersuchungen des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), die seit dieser Woche unter dem Titel „Constellations of State Fragility“ online abrufbar sind, zeigen, wo und in welchem Maße Staaten weltweit seit Mitte der 2000er Jahre Kernaufgaben gegenüber ihren Bevölkerungen vernachlässigt und damit Risiken für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geschaffen haben. Anhand der Daten lässt sich unter anderem nachvollziehen, dass Staaten, die auf Repression statt Legitimierung gegenüber ihrer Bevölkerung setzen, mit zunehmender Dauer zu tickenden Zeitbomben werden können. Besonders der Nahe Osten und Nordafrika stechen hier hervor. Die Region verzeichnete vor 2011 die größte Ansammlung an Staaten mit Legitimitätsdefiziten. Die tragischen Folgen sind bekannt. Zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt und damit zur Verhütung gewaltsamer Konflikte auch in anderen Ländern beizutragen, ist also für jede Bundesregierung ebenso ein Gebot der Vernunft wie der Menschlichkeit. Die letzte Große Koalition hat sich dazu noch im Sommer 2017 mit einem Grundsatzdokument zur Friedensförderung in bemerkenswerter Deutlichkeit bekannt. „In einer eng vernetzten Welt spüren wir Auswirkungen von staatlicher Fragilität, von Krisen und Gewalt auch in Deutschland“, schrieb die Bundeskanzlerin in ihrem Vorwort. Nun kommt es darauf an, von einer Fokussierung auf die Krisenbewältigung überzugehen zu einer Politik, die sich für die Überwindung von politischer und wirtschaftlicher Ausgrenzung weltweit, vor allem aber in fragilen Staaten, einsetzt. Eine solche Politik macht im Übrigen nicht halt an den klassischen Grenzen der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Sie betrifft ebenso Handels-, Finanz- und Umweltpolitik sowie weitere Politikbereiche. Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen weist dazu den Weg. Die neue Bundesregierung hat mehr Gründe denn je, die Verpflichtungen, die sie 2015 gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft eingegangen ist, ernst zu nehmen. Letztlich wird dies auch dem sozialen Zusammenhalt in Deutschland dienen.
Um eine genauere Analyse fragiler Staatlichkeit zu ermöglichen, hat das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) ein neues Daten-Tool entwickelt: Constellations of State Fragility unterscheidet sechs Typen fragiler Staatlichkeit anhand von zehn Indikatoren in drei Dimensionen, die für 171 Länder weltweit ermittelt wurden.

Eine evangelikale Bewegung erschüttert die Parteiendemokratie in Costa Rica

Mon, 12/03/2018 - 09:00
Bonn, 12.03.2018. Am 4. Februar dieses Jahres fanden in Costa Rica Wahlen statt, die die Parteiendemokratie des zentralamerikanischen Landes erschüttert haben. Ein charismatischer Fernsehprediger erzielte vor allem mit homophoben Thesen einen Erdrutschsieg und kommt überraschend in die für den 1. April vorgesehene Stichwahl um die Präsidentschaft. Hier spiegelt sich ein verbreiteter Trend in Lateinamerika wider: der rapide Aufstieg konservativer evangelikaler Gruppen in Gesellschaft und Politik. Das Ende des Zweiparteiensystems in Costa Rica Seit 70 Jahren verlaufen Regierungswechsel in Costa Rica durchweg friedlich auf Basis einer funktionsfähigen Parteiendemokratie. Von 1970 bis 2014 wurden sieben Präsidenten von dem sozialdemokratischen Partido Liberación Nacional (PLN) und fünf von dem konservativen Partido Unidad Social Cristiana (PUSC) gestellt. 2014 setzte sich erstmals der Kandidat einer anderen Partei durch, des linksliberalen Partido Acción Ciudadana (PAC). Das überkommene Zweiparteiensystem war zu Ende. Die Wahl im Februar 2018 führte zu Ergebnissen, die kurz zuvor nicht voraussehbar waren. Die evangelikale Bewegung des Partido Renovación Nacional (PREN) kam noch im November 2017 auf Zustimmungswerte von unter 5 Prozent und erhielt am 4. Februar fast 25 Prozent der Stimmen. Der PAC Kandidat erzielte knapp unter 22 Prozent. Im Hintergrund hatte sich schon länger Unmut bei traditionellen Bevölkerungsteilen aufgebaut. Dieser kristallisierte sich insbesondere zu Themen heraus, die die Evangelikalen in weiten Teilen Lateinamerikas seit Jahren instrumentalisieren: Gleichstellungspolitik (als „Genderideologie“ verunglimpft), eine pluralistische Sexualerziehung, und vor allem die gleichgeschlechtliche Ehe. Am 9. Januar verpflichtete ein Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof IDH seine Mitgliedsstaaten dazu, gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Ehen zu garantieren. Die costa-ricanische Verfassung verpflichtet die Regierung zur Umsetzung von Urteilen des IDH. Der Kandidat des PREN kündigte dennoch an, das Urteil im Falle eines Wahlsiegs zu missachten. Dies führte innerhalb von nur vier Wochen zu seinem kometenhaften Aufstieg, der zu einer Zustimmung von fast 25 Prozent bei den Februarwahlen führte. Der Aufstieg rechtskonservativer evangelikaler Bewegungen in Lateinamerika Im überwiegend katholischen Lateinamerika verzeichnen evangelikale, vor allem pfingstkirchliche Bewegungen in den letzten drei bis vier Jahrzehnten Zulauf. Während sich 1970 noch etwa 92 Prozent der Menschen dem katholischen Glauben zuordneten, waren es 2014 nur noch 69 Prozent. In einigen Ländern rechnen sich große Teile der Bevölkerung heute dem protestantischen Glauben zu, so wie in Guatemala 40 Prozent, in Honduras 36 Prozent, in Nicaragua 26 Prozent und in Costa Rica zwischen 15 Prozent und 25 Prozent. Während diese Bewegungen lange Zeit eher unauffällig agierten, greifen sie zunehmend nach politischem Einfluss und Macht. So wurde 2015 ein evangelikaler Fernsehkomiker Präsident von Guatemala. Seit 2016 ist ein protestantischer Priester Bürgermeister von Rio de Janeiro. In Kolumbien hat die pfingstkirchliche Bewegung massiv gegen den Friedensvertrag zwischen der Regierung und der Rebellenorganisation FARC gearbeitet und maßgeblich zu seiner Ablehnung in der ersten Abstimmung im Oktober 2016 beigetragen. Der Aufstieg evangelikaler Gruppen begann in Guatemala bereits in den 1930ern und erfolgte in verschiedenen Ländern unterschiedlich rasch. Ihre Missionsarbeit zielt vor allem auf die besonders armen Bevölkerungsschichten, teilweise auf indigene Gruppen und Nachkommen versklavter Afrikaner, zum Beispiel an der zentralamerikanischen Karibikküste. Früh wurden diese Zielgruppen durch den Einsatz von Massenkommunikationsmitteln wie Radio und Fernsehen („Televangelistas“) erreicht, heute durch professionelle Netzwerke multimedialer Diffusionskanäle (RedeRecord, UnoRed). So wurden die zunächst verstreut lebenden Zielgruppen früh erreicht. Durch die Landflucht der letzten Jahrzehnte siedeln diese heute vor allem in Marginalvierteln der Großstädte, wo evangelikale Kirchen oft das einzig sichere Stück öffentlichen Raumes darstellen. Die „drive-through“-Gebiete Costa Ricas Was in den USA das „flyover country“ ist, das sind in Costa Rica die „drive through“-Gebiete, Regionen an beiden Küsten, die die Stadtbevölkerung nur bei Wochenend- und Urlaubsfahrten zu den Stränden erlebt. Die dort lebende Bevölkerung ist von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen und von der wirtschaftlichen Dynamik im zentralen Hochland abgekoppelt. Evangelikale Kirchen sind oft erste Anlaufstellen bei Naturkatastrophen und persönlichen Notlagen. Daher ist ihr Zulauf hier besonders stark. Ihr politischer Arm PREN erhielt bei den Februarwahlen in der Pazifikprovinz 35 Prozent und an der Karibikküste 42 Prozent der Stimmen. Da sich die hier lebende Bevölkerung seit Jahrzehnten vernachlässigt fühlt, ist unwahrscheinlich, dass sie sich bei der Stichwahl am 1. April grundlegend anders entscheiden wird. Deren Ausgang ist Mittel März absolut offen. In diesem Jahr stehen noch Wahlen in Brasilien, Kolumbien, Mexiko, Venezuela und Paraguay an. Auch in diesen Ländern spielen die Evangelikalen eine zunehmende Rolle. Diese Publikation ist am 13.03.2018 auch bei Euractiv.de erschienen.

Von Geschlechterparität zur Gleichstellung der Geschlechter: die Lebenswirklichkeit von Frauen verändern!

Mon, 05/03/2018 - 10:17
Bonn, 05.03.2018. Bisherige Bemühungen zur Gleichstellung der Geschlechter haben viel dazu beigetragen, Aufmerksamkeit zu schaffen und Veränderungen zu fördern, doch es liegt noch ein langer Weg vor uns. Frauen sind nun erwerbstätig, aber die #MeToo-Kampagne hat gezeigt, dass der Arbeitsplatz ein Nährboden für Ungleichheit und Gewalt gegen Frauen sein kann. Der diesjährige Internationale Frauentag am 8. März hat das Motto „Press for Progress“. Es ist teilweise inspiriert vom Global Gender Gap Report 2017 des World Economic Forum (WEF), der darauf verweist, dass wir unter gegenwärtigen Bedingungen erst in 217 Jahren Geschlechterparität bei Einkommen erreichen werden. Der Internationale Frauentag setzt sich dafür ein, „in Geschlechterparität zu denken“. Aber was ist Geschlechterparität? Welche Rolle spielt sie bei der Förderung der Geschlechtergleichstellung? Geschlechterparität ist ein statistisches Maß, das mit einem numerischen Wert das Verhältnis zwischen Frauen und Männern oder Mädchen und Jungen für Indikatoren wie Einkommen oder Bildung angibt. Wenn in einem Land die gleiche Anzahl von Mädchen und Jungen die Grundschule abgeschlossen hat, beträgt die Geschlechterparität bei diesem Indikator eins. Je größer der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen ist, desto niedriger ist der Geschlechterparitätswert. Geschlechterparität ist ein nützliches Instrument, um die Ungleichheit der Geschlechter in bestimmten Bereichen zu bewerten, Ziele zu setzen und Veränderungen und Fortschritte zu messen. Geschlechterparität bedeutet jedoch nicht Gleichstellung der Geschlechter, und diese Unterscheidung ist wichtig, um Mittel nicht mit Zielen zu verwechseln. Einer der Teilindizes im WEF-Bericht betrifft die wirtschaftliche Partizipation in 144 Ländern. Dazu gehört bezahlte Arbeit, formelle und informelle. Zwangsläufig schließt der Teilindex unbezahlte Arbeit von Frauen aus, die gewöhnlich wirtschaftliche Aktivitäten in ländlichen Gebieten unterstützt. Unbezahlte Arbeit ist jedoch ein wichtiger wirtschaftlicher Beitrag, auch wenn sie nicht explizit monetär vergütet wird. Zudem hat sie Auswirkungen auf das Ausmaß, in dem Frauen an wirtschaftlichen Aktivitäten teilnehmen können. Sind sie hauptsächlich für unbezahlte Arbeit verantwortlich, bleibt ihnen weniger Zeit und Energie für wirtschaftliche Aktivitäten als ihren männlichen Gegenübern. Geschlechtergleichstellung zu erreichen, bedeutet, einen tatsächlichen Wandel in der Lebenswirklichkeit von Frauen zu bewirken, insbesondere in Arbeitskontexten. Dies beinhaltet wesentliche Veränderungen nicht nur des Anteils von Männern und Frauen in Bezug auf bestimmte Indikatoren, sondern auch tiefgreifender gesellschaftlicher Normen und Identitätsgefühle – unabhängig vom Geschlecht geschätzt und respektiert zu werden. Um die Gleichstellung der Geschlechter zu verwirklichen, müssen die Bemühungen über das Erreichen von Statistikwerten hinausgehen. In großen Teilen der Welt sind noch Fortschritte nötig beim Zugang von Frauen zu grundlegenden Menschenrechten wie Bildung, sicheren Arbeitsplätzen und Eigentum. Hier sind unterstützende Politiken der Regierungen gefragt; aber es muss auch dafür gesorgt werden, dass geschlechtssensible Politiken umgesetzt werden und effektiv dazu beitragen, die Lebenswirklichkeit von Frauen positiv zu verändern. Im Südwesten Äthiopiens beispielsweise ist die Praxis, Land an Söhne zu vererben, tief verwurzelt – trotz einer Regierungspolitik, die das Recht der Frauen auf Land formell anerkennt. In vielen Fällen besitzen Frauen nach einer Scheidung oder dem Tod des Ehemannes ein Stück Land, nur um später von männlichen Verwandten enteignet zu werden. Dies geschieht trotz der gesetzlichen Anerkennung der Frauenrechte. Es braucht mehr als eine politische Maßnahme, um die Gleichstellung der Geschlechter zu verwirklichen. „Ich glaube, dass ermächtigte Frauen die Gesellschaft verändern. Die Daten sagen es uns“, schreibt Melinda Gates im Jahresbrief 2018 der Bill & Melinda Gates Foundation. Dann fragt sie: „Warum bekommen berufstätige Frauen in nordischen Ländern so viel Unterstützung?“ Dies betont die Situation in anderen Teilen der Welt, wo Frauen trotz geltender Gesetze nicht die nötige Unterstützung erhalten. Im äthiopischen Beispiel sieht das Gesetz vor, dass die Namen der Ehefrauen in die Registrierung von Land aufgenommen werden müssen – ein lobenswerter Schritt in die richtige Richtung. Wie wirksam Gesetze sind, hängt jedoch von tief verwurzelten Denk- und Handlungsstrukturen ab, die die täglich gelebte Realität der Menschen bestimmen. Die Gleichstellung der Geschlechter hat mehrere Komplexitätsebenen und wir kratzen gerade erst an der Oberfläche. Was bedeutet diese Komplexität für politische Entscheidungsträger, Forscher, Entwicklungspraktiker, Sozialarbeiter und alle, die daran interessiert sind, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern? Indikatoren für Geschlechterparität sind nützlich, um Problembereiche zu ermitteln, die Aufmerksamkeit erfordern. Aber wenn es um echten Wandel geht, ist es wichtig, über die Zahlen hinauszuschauen und, mit den Worten des UN-Generalsekretärs António Guterres, die „Tatsachen vor Ort“ zu betrachten.

Deutschland und Europa dürfen in Nordafrika nicht aufgeben

Mon, 26/02/2018 - 08:00
Bonn, 26.02.2018. Zum siebten Geburtstag des „Arabischen Frühlings“ sind die Hoffnungen auf mehr soziale Gerechtigkeit, Mitbestimmung und Transparenz in der Politik und bessere öffentliche Dienstleistungen in Nordafrika noch nicht erfüllt. Doch Deutschland und die EU dürfen die Region nicht aufgeben. Denn was im Jahr 2011 dort begonnen hat, ist mit Europas eigener demokratischer Transformation vergleichbar, die mehrere Generationen gedauert hat bis sie nach 1945 endlich verankert wurde. Und es kommen auch positive Meldungen aus Nordafrika: In Tunesien prägt die Zivilgesellschaft aktiv den Wandel hin zu mehr Gerechtigkeit, Transparenz und Beteiligung. In Marokko bietet die Dezentralisierungsreform trotz schleppender Umsetzung Perspektiven für eine bürgerorientierte Politik. Beide Länder haben neue, demokratischere Verfassungen. Und in beiden Ländern hat sich seit 2011 eine neue Protestkultur entwickelt und sorgt durchaus für eine neue Qualität öffentlicher Debatten. Auch in Libyen und Ägypten versuchen mutige Menschen, den Regimen eine verantwortungsvollere Politik abzuringe Was können Deutschland und die EU bewirken, um den Wandel in der arabischen Welt konstruktiv zu unterstützen? Zunächst sah es 2011 so aus, als würden statt autoritären Herrschern nun Demokratiebewegungen unterstützt. Doch aktuell scheinen Flüchtlingsdeals, Terrorbekämpfung und die vom Internationalen Währungsfonds erzwungene Sparpolitik wieder wichtiger zu sein als langfristige Entwicklung. Vertrauen in einen demokratischen Prozess kann so nicht gestärkt werden. Sieben Jahre nach dem Beginn der Aufstände gegen autoritäre Regime – und gegen die sie unterstützende Politik des Westens – sollten Deutschland und die EU ihre Strategie in Nordafrika überdenken. Drei Maßnahmen könnten helfen: Erstens sollte Nordafrika nicht auf seine Rolle im Umgang mit Migration reduziert werden, auch wenn es hierfür eine wichtige Bedeutung hat. Ebenso lassen sich Entwicklungsprobleme nicht auf „Fluchtursachen“ reduzieren – eine sichere Wasserversorgung, bessere Bildung und Gesundheit verbessern die Entwicklungschancen auch dann, wenn sie nicht unmittelbar Migration entgegenwirken. Deshalb kann Flüchtlings- und Migrationspolitik auch Projekte der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) einschließen. Keinesfalls sollte letztere jedoch auf die „Fluchtursachen“ beschränkt werden. Letztlich wird auch die beste EZ Flucht und Migration nie umfassend verhindern und kann deshalb nur glaubwürdig bleiben, wenn sie ihre Daseinsberechtigung jenseits dieses stark politisierten Themas bewahrt. Zudem prägt die Politik auch unser Bild von den Menschen aus der Region, die nicht auf potentielle Migranten reduziert werden dürfen. Die EU und Deutschland sollten den häufig rücksichtslosen Umgang lokaler Sicherheitskräfte mit Migranten und Flüchtlingen stärker kritisieren: Polizeiliche Übergriffe und das Verschleppen von Migranten von Europa an den Rand der Wüste Marokkos und Algeriens dürfen nicht toleriert werden. Zweitens sollte die deutsche und europäische Nordafrikapolitik den Wandel innerhalb des afrikanischen Kontinents anerkennen. Die Länder im Norden des Kontinents bleiben kulturell, sprachlich und religiös eng mit der arabischen Welt verbunden, wenden sich in den vergangenen Jahren jedoch immer stärker dem südlichen Afrika zu. So stärkt die Rückkehr Marokkos in die Afrikanische Union (AU) den wirtschaftlichen und politischen Einfluss des Landes auf dem Kontinent. Auch die Zivilgesellschaft orientiert sich zunehmend an Erfahrungen von NGOs in Subsahara-Afrika, etwa bei der Korruptionsbekämpfung. Deshalb sollten Deutschland und die EU viel stärker auch die Süd-Süd-Kooperation fördern, zum Beispiel über eine engere Verzahnung von EU -Assoziierungsabkommen mit nordafrikanischen Ländern und der EU-Partnerschaft mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks. Drittens sollte die Nordafrikapolitik bei dem Ruf nach mehr Investitionen der Privatwirtschaft – wie etwa im Marschall-Plan mit Afrika – nicht vergessen, dass nur verzahnte fundamentale politische und ökonomische Reformen Entwicklungsperspektiven schaffen können. Jeder wirtschaftliche Gewinn, der an etablierte Eliten fließt und nicht der breiten Bevölkerung zugutekommt, wird das politische System langfristig destabilisieren und nicht zur “Fluchtursachenbekämpfung“ beitragen. Stattdessen sollten die Prinzipien demokratischer Regierungsführung – etwa politische Teilhabe, Transparenz und Rechenschaftspflicht –stärker in die Konditionierung von EZ-Mitteln einfließen. Maßnahmen wie ein besserer Zugang zum europäischen Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen von nordafrikanischen Ländern sind weiterhin dringend notwendig. Chancen, diese Punkte voran zu bringen, gibt es reichlich im Kontext des „Marshall-Plans mit Afrika“, bei den Bestrebungen von Frankreichs Präsident Macron für eine neue Afrikapolitik Europas und wenn Deutschland 2020 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Nicht zuletzt ist Deutschlands Ansehen in der Region aufgrund seiner Unterstützung von Flüchtlingen aus der Region und der langjährigen Entwicklungszusammenarbeit positiv. Deutschland hat jetzt die Chance, ein „Player“ in Nordafrika zu sein. Denn zu den nächsten Geburtstagen von Nordafrikas Aufständen braucht die Bevölkerung mehr als „viel Glück“. Diese Aktuelle Kolumne wurde auf euractiv zweitveröffentlicht.

Mehr Komplexität wagen!

Mon, 19/02/2018 - 08:00
Bonn, 19.02.2018. Auch in Zeiten größter politischer Verunsicherung und einer sich quälend lange hinziehenden Regierungsbildung bleibt eine Sache klar: Das Bekenntnis der (Vielleicht-)Koalitionäre von SPD und den Unionsparteien zur Fluchtursachenbekämpfung. Wie es im vorletzte Woche ausgehandelten Koalitionsvertrag heißt, sollen durch die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit vor allem in Afrika „Zukunftsperspektiven vor Ort“ geschafften werden. Damit sind in erster Linie Arbeitsplätze gemeint, die die Menschen davon abhalten sollen, die gefährliche Reise durch die Sahara und über das Mittelmeer in Richtung Europa überhaupt anzutreten. Diese Zielvorgabe der sich abzeichnenden neuen Bundesregierung zeigt aber einmal mehr, dass das Thema „Fluchtursachen“ nicht mit der notwendigen Komplexität angegangen wird. In der öffentlichen und politischen Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht und Migration erfreuen sich mono-kausale Erklärungsmuster größter Beliebtheit. Zwar gibt es eine Hauptursache für Flucht im eigentlichen völkerrechtlichen Sinne: Die stetige Zunahme der weltweiten Flüchtlingszahlen – derzeit gelten etwa 65 Millionen Menschen als Flüchtlinge und Binnenvertriebene – hat vor allem mit bewaffneten Konflikten zu tun. Die Intensität bewaffneter Konflikte hat in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen. Dies liegt nicht nur am Krieg in Syrien, sondern auch an anderen Konflikten wie dem im Südsudan oder in der Demokratischen Republik Kongo. Die Fluchtursachen-Debatte dreht sich allerdings bei weitem nicht nur um Kriegsflüchtlinge, sondern umfasst auch die aus europäischer Sicht „irreguläre“ Migration zwischen Afrika und Europa. Ein Großteil der Migranten stammt hier nicht aus von Kriegen betroffenen Ländern; ihre Migration kann als Reaktion auf vielfältige – und sich wechselseitig verstärkende – Bedingungen gesehen werden. Wie der in diesem Fall sehr zutreffende englische Begriff „mixed migration“ schon andeutet, vermischen sich hierbei Fluchtgründe wie Konflikte, Repression, schwache staatliche Institutionen oder Terror mit klassischen Migrationsmotiven wie der Suche nach besseren wirtschaftlichen Perspektiven. Die Beliebtheit einfacher bzw. eindimensionaler Erklärungen für komplexe Migrationsgründe zeigte sich auch Ende letzten Jahres als das Wissenschaftsjournal „Science“ eine Studie veröffentlichte, die einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen der globalen Erwärmung und den Asylzahlen in Europa belegt. Während die Wissenschaft in weiten Teilen entsetzt auf diese starke Vereinfachung des Zusammenhangs zwischen Klimawandel und (Flucht-)Migration reagierte, berichteten zahlreiche Medien unkritisch und übernahmen eins zu eins durchaus fragwürdige Prognosen über zukünftige Flüchtlingszahlen in Europa. Wie der Koalitionsvertrag zeigt, gibt es aber noch ein anderes, sehr beliebtes Erklärungsmuster für Migration, welches ebenso wie die Science-Studie komplexe Zusammenhänge zugunsten einer einfachen Ursache-Folgen-Logik unterschlägt: Armut. In der Migrationsforschung weiß man schon lange, dass Armut vielmehr Migration verhindert, als dass sie diese bedingen würde. Die ärmsten Länder der Welt wie etwa Niger, der Tschad oder Burkina Faso haben kaum internationale Migranten. Erst wenn Löhne und Beschäftigung ansteigen, steigen auch die Auswanderungsraten. Wenn sich die wirtschaftliche Lage in den verschiedenen afrikanischen Ländern in den nächsten Jahren (weiter) verbessern sollte, so hieße das zwar nicht, dass sich noch viel mehr Menschen auf den gefährlichen Weg Richtung Europa machen würden. Es hieße aber durchaus, dass der Wunsch vieler Menschen, auf sicheren und regulären Wegen international zu migrieren größer werden könnte. Die Logik, wonach man mit der Förderung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, Migration unterbinden könne, geht in dieser Form nicht auf, sondern könnte sich vielmehr ins Gegenteil verkehren. Daher müssen wir in der Auseinandersetzung mit weltweiter Flucht und Migration sowohl einfache Erklärungsmuster als auch vermeintlich naheliegende politische Lösungen überdenken. So kann die Verzweiflungsmigration tausender junger Menschen aus Afrika in Richtung Mittelmeer und Europa nicht wahlweise „nur“ mit europäischen Rüstungsexporten, dem westlichen Lebensstil, Korruption, dem Versagen lokaler Eliten, unfairen Welthandelsstrukturen oder Umweltwandel erklärt werden. Wir müssen vielmehr anerkennen, dass all diese – und viele weitere – Faktoren diese Migration verursachen. Wir müssen mehr Komplexität wagen. Dabei könnte uns ausgerechnet die Große Koalition helfen. Denn sie möchte auch eine Kommission „Fluchtursachen“ im Bundestag einrichten, um diesem Themenkomplex tiefer auf den Grund zu gehen. Das sollten wir durchaus als Chance begreifen.

Ist Trumps Steuerreform schlecht für Entwicklungsländer?

Mon, 12/02/2018 - 08:00
Bonn, 12.02.2018. Das erste erfolgreich durchgesetzte Projekt des seit einem Jahr im Amt stehenden US-Präsidenten Donald Trump ist gleich eines, das weltweite Auswirkungen haben wird. Es ist die größte US-amerikanische Steuerreform seit 1986. Sie wird vor allem für ihre inländischen Verteilungswirkungen kritisiert, weil sie große Entlastungen für besserverdienende Haushalte und Unternehmen, aber mittelfristig wenige bis keine Entlastungen für Geringverdiener und die Mittelschicht bringt. Gleichzeitig hat die Reform aber auch globale Auswirkungen. Finanziert werden soll sie nämlich größtenteils über die Rückführung von Auslandsvermögen, für welche die Reform die entsprechenden Anreize setzt. Der sogenannten „Tax Cuts and Jobs Act“ verringert erstens die US-amerikanische Unternehmenssteuer von 35 Prozent auf 21 Prozent der erzielten Gewinne. Damit wird dieser Steuersatz, der zuvor im internationalen Vergleich zu den höchsten zählte, auf einen Schlag unter den weltweiten Durchschnitt von etwa 23 Prozent gesenkt. Zweitens wechseln die USA vom Welteinkommensprinzip mit Anrechnungsmethode zu einem Territorialprinzip. Das bedeutet, dass die Auslandsgewinne amerikanischer Unternehmen in Zukunft nicht mehr mit dem amerikanischen, sondern nur noch mit dem ausländischen Steuersatz besteuert werden, auch wenn dieser niedriger ist (eine Minimalbesteuerung soll allerdings extremem Missbrauch vorbeugen). Drittens werden als Ausnahmeregelung alle bisher geparkten ausländischen Gewinne mit einem besonders niedrigen Satz von 15,5 bzw. 8 Prozent besteuert. Schätzungen sprechen von über 2,5 Billionen US-Dollar, die bisher im Ausland geparkt wurden, jetzt aber wenigstens teilweise in die USA zurückfließen werden. Firmen wie Apple haben solche Rückflüsse bereits angekündigt. Dies hat vielfältige Auswirkungen auf alle anderen Länder. Die USA sind mit einem Stock von insgesamt ca. 6 Billionen US-Dollar die mit Abstand größten Eigner von ausländischem Direktkapital in der Welt, auch in vielen Entwicklungsländern. Was also haben diese von der Steuerreform zu erwarten? Wir sehen vor allem drei Effekte. Erstens könnten Entwicklungsländer vom erhofften Wachstumsschub profitieren. Gerade hat der IWF seine Vorhersagen zum Wachstum der US-amerikanischen wie auch der globalen Wirtschaft im Jahr 2018 nach oben korrigiert – ausdrücklich unter Bezug auf die Steuerreform. Viele Experten befürchten allerdings, dass sich der Wachstumsimpuls als relativ kurzfristig erweisen könnte, weil mehrere Aspekte der Reform dämpfend auf die heimische Nachfrage wirken. Dies sind steigende Haushaltsdefizite (die Rede ist von zusätzlich 0,5 bis 1,5 Billionen US-Dollar über die kommenden zehn Jahre), der mittelfristig regressive Verteilungscharakter der Reform sowie Kostensteigerungen einer zunehmend nationalisierten US-Wirtschaft. Zweitens wird sich mit der Steuerreform zwar das Investitionsverhalten vieler großer Unternehmen ändern. Hiervon sind aber die anderen Industrienationen sowie Niedrigsteuerländer wie Irland und Luxemburg stärker betroffen als die meisten Entwicklungsländer. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass es in einigen Ländern mit engen Verbindungen zur US-Wirtschaft in der verarbeitenden Industrie zu niedrigeren Zuwächsen oder sogar Abflüssen bei den Direktinvestitionen kommt. Drittens muss sich die Welt nun auf eine neue Runde im globalen Steuerwettbewerb einstellen. Ein race to the bottom bei den Unternehmenssteuern wäre für viele Entwicklungsländer keine gute Nachricht, sind sie doch oft besonders abhängig von diesen Steuern – wobei der Löwenanteil zudem häufig von einer kleinen Zahl multinationaler Konzerne getragen wird. Andererseits dürfte es auch heute schon kaum Investitionen im verarbeitenden Gewerbe in Entwicklungsländern geben, die nicht über mehrere Jahre steuerbefreit sind. In anderen, kapitalintensiven Sektoren (wie zum Beispiel Naturressourcen, Energie, Telekommunikation etc.) spielt der Steuerwettbewerb zwischen Ländern hingegen eine weniger große Rolle. Wichtiger für Entwicklungsländer dürfte daher die Frage sein, wie sich die US-Regierung im Hinblick auf internationale Steuervermeidung und -hinterziehung aufstellen wird, unter der diese Länder besonders leiden. Trumps Reform richtet sich zwar gegen einige Praktiken der Steuervermeidung in den USA, aber das unilaterale Vorgehen der US-Regierung lässt befürchten, dass international abgestimmte Vorgehensweisen – etwa beim Austausch steuerlich relevanter Informationen – auch künftig keinen hohen Stellenwert haben werden. Zusammengefasst: Für die Entwicklungsländer mag der zusätzliche Wachstumsimpuls der US-Steuerreform kurzfristig eine gute Nachricht bedeuten. Mittelfristig werden die weltwirtschaftlichen Risiken vermutlich eher steigen. Die Umlenkung der globalen Finanzströme und der drohende Eintritt in eine neue Runde des internationalen Steuerwettbewerbs wird die meisten Entwicklungsländer kaum direkt betreffen – dort wo es solche Effekte gibt, werden sie aber negativer Natur sein.

Werden Blockchains die neuen Banken der Armen?

Mon, 05/02/2018 - 09:00
Bonn, 05.02.2018. Dieses Jahr wird die Blockchain-Technologie zehn Jahre alt. Im November 2008 schrieb ein bis heute unbekannter Autor unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto das Whitepaper „Bitcoin: Ein elektronisches Peer­-to-­Peer-­Bezahlsystem“, in dem die Grundlagen der Blockchain- Technologie dargestellt werden. „Bitcoin“ erwies sich mit seiner praktischen Implementierung im Jahr 2009 als erste funktionierende digitale Währung, die ohne eine zentrale Instanz auskommt. Die Währung funktioniert, weil die Blockchain-Technologie ein sehr sicheres digitales Archivieren jeder Überweisung ermöglicht. Dadurch wird Betrug wie das mehrfache Ausgeben desselben Bitcoins effektiv verhindert. Auf den Pionier Bitcoin folgten in den kommenden Jahren zahlreiche weitere Kryptowährungen und andere blockchainbasierte Netzwerke, die die Technologie weiterentwickelten. Ein Peer-to-Peer-Bezahlsystem, indem die Nutzer direkt miteinander interagieren, ohne dass eine zentrale Instanz eine Vermittlerfunktion einnimmt, ist nicht nur ein Durchbruch auf technischer Ebene. Es kann auch den Zugang zum Finanzsystem für einkommensschwache Menschen erleichtern. Dies ist besonders vor dem Hintergrund relevant, dass mangelnder Zugang zu Finanzdienstleistungen ein bedeutendes Entwicklungshemmnis ist. So zielen einige Indikatoren der Sustainable Development Goals (SDGs) auf größere Teilhabe an Finanzdienstleistungen ab. Während Menschen mit niedrigem Einkommen der Zugang zu einer Bank oft verwehrt bleibt, kann prinzipiell jeder, der Zugang zu einem Internetanschluss hat, Kryptowährung kaufen und damit Transaktionen tätigen. Bevor Menschen mit einem eingeschränkten Zugang zum Finanzsystem Kryptowährungen als Zahlungsmittel nutzen können, muss allerdings deren Akzeptanz noch deutlich steigen. Zudem muss die Nutzerfreundlichkeit von Krypto-Banking Programmen noch verbessert werden, damit auch Laien diese sicher bedienen können. Eine Finanzdienstleistung, die für Migrantinnen und Migranten sowie für ihre Familien von entscheidender Bedeutung ist, sind internationale Rücküberweisungen. Global gesehen ist die Summe der Rücküberweisungen in Entwicklungsländer ca. drei Mal so groß wie die Summe der öffentlichen Entwicklungsausgaben. Der großen Bedeutung von Rücküberweisungen tragen auch die SDGs Rechnung und fordern, dass deren Transaktionskosten bis 2030 im Durchschnitt auf 3 Prozent der transferierten Summe sinken. Die Digitalisierung der Branche hat in den letzten zehn Jahren bereits zu einer Reduktion der Kosten von knapp 10 Prozent auf ca. 7 Prozent geführt. Ermöglicht die Blockchain-Technologie weitere dringend benötigte Kostensenkungen in diesem Bereich? Blockchainbasierte Netzwerke wie Ripple, Stellar, IOTA, oder NEO ermöglichen kostenlose oder nahezu kostenlose internationale Transfers von Kryptowährungen. Jedoch muss der Sender einer Rücküberweisung in der Regel zunächst seine lokale Währung in eine Kryptowährung tauschen und diese dann für seine internationale Transaktion nutzen, bevor der Empfänger des Geldes die Kryptowährung wieder in seine lokale Währung tauscht. Statt eines Währungstauschs (z.B. Euro zu Indische Rupie) werden also zwei Währungstausche (z.B. Euro zu Bitcoin zu Indische Rupie) benötigt. Andererseits können durch die Nutzung von Kryptowährungen bestimmte Gebühren und Wartezeiten umgangen werden. Diese entstehen bei konventionellen Anbietern wie Western Union durch die Nutzung von Korrespondenzbanken. Neben diesen Kostenersparnissen können blockchainbasierte Geldtransferunternehmen Synergien nutzen, wenn sie zusätzlich zu ihrem Kerngeschäft auf eigene Rechnung mit Kryptowährungen handeln. Auf dieser Grundlage bieten z.B. die Startups Circle und Cashaa kostenfreie bzw. sehr günstige Geldtransfers in verschiedene Länder an. Ob sich diese Unternehmen langfristig am Markt behaupten können ist nicht klar. Es ist jedoch schon heute absehbar, dass die Blockchain-Technologien durch die Umgehung von Korrespondenzbanken in den nächsten Jahren einen Beitrag zur Senkung der Kosten von Rücküberweisungen leisten können. Blockchain-Technologien haben ein großes Potential, viele Bereiche in Wirtschaft und Verwaltung, effizienter zu strukturieren. Besonders gilt das für Bereiche, in denen Vertrauen zwischen den Markteilnehmern bisher von einer zentralen Instanz hergestellt wird. Internationale Rücküberweisungen sind relativ einfach mit bestehenden Blockchain-Technologien durchzuführen, daher gibt es bereits heute Lösungen, die Kostenvorteile gegenüber den etablierten Geldtransferunternehmen bieten. Bis blockchainbasierte Netzwerke eine vollwertige Bank mit nutzerfreundlichen Zahlungsdienstleistungen sowie (Spar)konten und (Mikro)krediten für finanziell unterversorgte Menschen sein können, wird es aber wohl noch einige Jahre dauern. Staatliche und private Akteure sollten diesen Prozess unterstützen, indem sie die Potentiale der Blockchain-Technologie aktiv nutzen und deren Weiterentwicklung fördern. Ein erster Schritt hierzu kann die Akzeptanz von Kryptowährungen für bestimmte Zahlungen sein. So akzeptiert, neben zahlreichen Unternehmen, auch der Schweizer Kanton Zug seit dem Jahr 2016 Gebührenzahlungen in Bitcoin.

Die Türkei in Syrien – Was bringt die erneute Militäroffensive?

Wed, 31/01/2018 - 11:00
Bonn, 31.01.2018. Kaum, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) im Irak und weitestgehend auch in Syrien militärisch niedergerungen ist, eskaliert die Türkei den alten Konfliktherd um die Kurden in ihrem unmittelbaren Grenzgebiet erneut. Dabei waren es die Kurden, die buchstäblich in letzter Minute den IS nicht nur vor einer weiteren Ausdehnung im Irak gestoppt, sondern unter Einsatz von Menschenleben niedergekämpft haben – zusammen mit einer internationalen Militärkoalition, die zumeist aus der Luft unterstützte. Die tiefsitzende türkische Angst vor einem „terroristischen“ Kurdenstaat an der Südflanke führte zur aktuellen Bodenoffensive – doch darf bezweifelt werden, ob diese Offensive tatsächlich auf lange Sicht türkische Interessen befördert. In den kurdischen Gebieten im Irak und in Syrien waren schon vor der Ausbreitung des IS Inseln relativer Stabilität im Chaos der Stellvertreterkriege seit der Arabellion (2011) beziehungsweise der US-Intervention im Irak (2003) entstanden. Dort, in den kurdischen Enklaven in Nordsyrien (auch „Rojava“ genannt), wird seit einiger Zeit schon, unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, ein ‚Neuer Gesellschaftsvertrag‘ umgesetzt, der – trotz massiver Schwächen in der Umsetzung – optimistisch stimmen kann. Anders als viele Kurden im Irak, zielt diese Bewegung gerade nicht auf nationale Unabhängigkeit, sondern auf Emanzipation und Inklusion im Rahmen geregelter Dezentralisierung zur innergesellschaftlichen Befriedung ab. Ob ein föderales Syrien, basierend auf dem in Rojava ausgehandelten Gesellschaftsvertrag, möglich und erstrebenswert ist? Allein den Syrern muss es vorbehalten sein, darüber zu entscheiden! Stattdessen zerbombt der NATO-Partner Türkei, mit russischer Billigung, nicht nur diese Option auf nachhaltige Stabilität, sondern zerstört auch die momentane relative Stabilität und schafft damit neue Fluchtursachen und Vertriebene. Die aktuelle türkische Militäroffensive birgt nicht nur völkerrechtlichen und sicherheitspolitischen Sprengstoff, sondern sie schadet auch entwicklungspolitischen Überlegungen und dem Wiederaufbau Syriens nach dem Konflikt. Die kurdische Eigeninitiative, einen innergesellschaftlich tragfähigen, weil überkonfessionellen und interethnischen Gesellschaftsvertrag auszuhandeln, welcher der Startpunkt für einen künftigen föderalen syrischen Staat sein könnte, wird systematisch bestraft. Das entwicklungspolitische Credo, eine Gesellschaft müsse befähigt werden, sich selbst zu helfen, wird hier mit Füßen getreten. Die aktuelle türkische Flucht nach vorne läuft den längerfristigen Interessen der Türkei eher diametral entgegen als dass sie einer nachhaltigen Befriedung an der türkischen Südflanke förderlich wäre. Die – wohl kaum auf dauerhafte Präsenz angelegte – Militäroffensive droht die Türkei weiter von ihren westlichen Partnern zu entfernen, mit unabsehbaren Folgen nicht nur für die NATO und Syrien, sondern auch für die Türken selbst: Die Aktion reiht sich ein in eine Abfolge von früheren Versuchen der türkischen Regierung, teilweise realen, zumeist aber sich als Gegenreaktion selbst erfüllenden, Bedrohungsszenarien zu begegnen. Ihnen allen liegt dasselbe überholte Narrativ des kurdischen Terrorismus zugrunde: Verhandelte Erdogan vor noch nicht allzu langer Zeit mit dem türkischen Kurdenführer und jetzt von ihm wieder als ‚Oberterrorist‘ beschimpften Abdullah Öcalan über eine echte kurdische Autonomie, gelten ihm heute selbst zivile kurdische Parteien, wie die HDP, wieder als Terroristen. Gruppierungen wie die in Nordsyrien dominierende PYD werden nur mehr schlicht als verlängerter Arm der PKK gesehen. Diesem wenig überzeugenden Narrativ liegt die Furcht vor der potentiellen Strahlkraft eines vielleicht sogar erfolgreichen kurdischen Modells zugrunde. Mit diesem Perspektivwechsel versperrt sich Erdogan Optionen, die die Türkei von ihrem Weg in den Paria-Staat abbringen und wieder in die auf Regeln und Vereinbarungen basierte Staatengemeinschaft zurückführen könnte: Eine Gemeinschaft, in der Krieg im äußersten Fall der Selbstverteidigung eine völkerrechtlich zulässige und legitime Fortsetzung von Politik sein kann. Der wichtigste Schlüssel dazu liegt jedenfalls „zu Hause“ – oder in den Worten des Staatsgründers Atatürk: "yurtta sulh, cihanda sulh" ("Friede zu Hause, Friede in der Welt“). In den komplexen, internationalisierten Bürgerkriegen in Syrien oder im Irak wird es mittelfristig darum gehen, die Logik von Stellvertreterkriegen zu einer Logik von „Stellvertreterfrieden“ umzukehren. Angesichts der begrenzten Möglichkeiten, die Deutschland (etwa über staatliche Garantien für Handel und Investitionen), der EU (über die Assoziierungsverhandlungen) oder den NATO-Partnern (über die Konditionierung von Waffenlieferungen) zur Verfügung stehen, gilt: Es geht darum, die Türkei in ihre regionalpolitische Verantwortung zu nehmen. Zusammen mit den anderen Hegemonialmächten Iran, Saudi Arabien, Katar und den V.A.E muss ein befriedender Einfluss auf ihre jeweiligen Stellvertreter ausgeübt oder zumindest die Ausbreitung von lokalen Stabilitätskernen nicht behindert werden. Das kurzsichtige Verhalten Erdogans auch zum längerfristigen strategischen Nutzen der Türkei zu beeinflussen und eine weitere Destabilisierung der Region zu verhindern gelingt Deutschland jedenfalls nur gemeinsam mit Partnern.

Reformprogramm: Stabilisiert die ägyptische Wirtschaft das Land?

Mon, 29/01/2018 - 09:00
Bonn, 29.01.2018. Am 25. Januar jährt sich der Aufstand, der den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak stürzte, zum siebten Mal – Anlass, um die wirtschaftliche Situation des Landes zu betrachten. Die Angst des Westens vor dem radikalen Islam führt dazu, dass er großes Interesse an einem stabilen Ägypten hat. Darum gewährte der IWF und bilaterale Geber Kredite in Höhe von 21 Mrd. US Dollar unter der Bedingung, dass Ägypten Reformen durchführt. Lösen diese Reformen die tief verwurzelten Strukturprobleme des Landes und bringen es auf einen neuen, breitenwirksamen Wachstumspfad? Die Reformen zielen darauf ab, makroökonomische Ungleichgewichte zu korrigieren, indem die Staatsausgaben gesenkt werden: durch Subventionskürzungen u.a. bei Gas und Wasser, durch geringere öffentliche Investitionen und durch Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor. Um die Einnahmen zu erhöhen, hat die Regierung eine Mehrwertsteuer eingeführt, sie hat den Wechselkurs freigegeben und Kapitalkontrollen abgebaut, um den parallelen Devisenmarkt auszutrocknen, die Handelsbilanz zu verbessern und die Devisenreserven zu erhöhen. Kurzfristig hatten diese Maßnahmen folgende Folgen: (i) Zusätzlich zu den Krediten flossen Devisen in Form von Investitionen in Staatsanleihen ins Land. Die Devisenreserven wuchsen und der Schwarzmarkt verschwand beinahe, aber das ägyptische Pfund verlor stark an Wert. (ii) Die Handelsbilanz verbesserte sich durch einen Anstieg der Exporte und einen Rückgang der Importe – wenn auch in geringerem Maße als erhofft, so dass ein Handelsbilanzdefizit und eine hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten verbleiben. Ein Gutteil der verarbeiteten Produkte Ägyptens basiert jedoch auf importierten Vorleistungen und Investitionsgütern, sodass sich die Importe unweigerlich erholen werden. (iii) Durch die Wechselkursfreigabe, höhere Einfuhrzölle, die Einführung einer Mehrwertsteuer und die Streichung von Subventionen stiegen die Preise stark an. (iv) Die Wachstumsrate stieg, wenn auch weniger als erwartet. Die Zukunftsaussichten sind angesichts des begrenzten Zustroms von Direktinvestitionen, schwacher Konsumausgaben, Zinserhöhungen und des Rückgangs staatlicher Investitionen schlecht. (v) Das Haushaltsdefizit nahm ab, blieb aber mit zehn Prozent des BIP hoch. Ohne Reformen zur Verringerung von Leckagen werden die Einnahmen der Steuer- und Zollbehörden das Defizit nicht verringern. (vi) Die Regierung nahm erhebliche Kredite auf, was die Inlandsverschuldung auf über 90 Prozent des BIP und die Auslandsverschuldung auf 40 Prozent trieb (letztere hatte nie zuvor höher als 20 Prozent gelegen).
Langfristig hat sich Ägypten einer Entwicklungsstrategie verschrieben, die auf Immobilienentwicklung und Megaprojekten basiert, wie die neue Hauptstadt und der Ausbau des Suezkanals. Bau und Immobilienentwicklung sind aber Symptome eines schwachen Strukturwandels – weg von handelbaren Gütern und Dienstleistungen aus produktiven Sektoren – der nicht in der Lage ist, Ägypten in eine schnell wachsende, dynamische und inklusive Ökonomie zu verwandeln. Stattdessen sollte die ägyptische Regierung versuchen, nachhaltiges Wachstum durch eine effektive Exportstrategie zu generieren. Hierfür fehlen der aktuellen Entwicklungsstrategie vor allem drei Elemente: (i) Politische Entwicklung: erfordert, dass staatliche Stellen bei Wahlen Integrität und Neutralität garantieren, die Unabhängigkeit der Justiz- und Gesetzgebungsorgane gewährleisten und ein Gleichgewicht zwischen zivilen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen und dem Sicherheits-/Militärapparat herstellen. (ii)  Menschliche Entwicklung: dies bedeutet, mehr Ressourcen in Bildung und Gesundheit investieren. (iii) Nachhaltige und umfassende Entwicklung: sie erfordert eine breitere Perspektive, die die vorhandenen natürlichen Ressourcen besser schützt, die schöpferischen Energien der Jugend besser nutzt, Frieden und Versöhnung fördert und einen neuen dauerhaften Gesellschaftsvertrag zwischen Staat und Gesellschaft etabliert. Ägyptens derzeitige Entwicklungsvision basiert auf einer Fassade politischer Reformen. Der politischen Vertretung fehlen die einfachsten legislativen und parlamentarischen Funktionen und die Integrität von Wahlen wird weitgehend angezweifelt. Die Aussöhnung zwischen Zivilgesellschaft und Sicherheitsapparat fehlt völlig auf der Tagesordnung. Eine von Militärunternehmen dominierte Wirtschaft schränkt den freien Wettbewerb ein. Kürzlich wurden die Vermögen dutzender Unternehmen eingefroren, um politische Loyalität zu erzwingen. Diese Maßnahmen sind repressiv und schränken das Vertrauen von Investoren in die Wirtschaft ein. Investitionen in Humankapital werden zugunsten populistischer Megaprojekte vernachlässigt und werden nur bei einem Übergang zu einem partizipativen Modell oder einem vollständigen demokratischen Wandel stattfinden. Bis heute gibt es solchen Wandel nicht. Die nachhaltige Entwicklung, nach der sich die Menschen sehnen, fehlt völlig in der Vision der Führung. Der Entwicklungsvision Ägyptens mangelt es an einem echten Dialog zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft – gegenwärtig wird er nur vorgetäuscht. Im Mittelpunkt dieses Dialogs müssten politische Reformen und ein neuer Gesellschaftsvertrag stehen; ohne sie wird es kein wirtschaftlich prosperierendes oder politisch stabiles Ägypten geben. Omar El Shenety ist Advisory Board Member an der American University in Kairo. Ahmed Abd Rabou ist Visiting Assistant Professor an der Josef Korbel School of International Studies der University of Denver.

Globaler Handel per Mausklick: Die granulare Revolution der Plattformökonomie

Mon, 22/01/2018 - 09:00
Ein Video vom Urlaub zusammenschneiden für 7 Euro, die Bewerbungsmappe auf Englisch übersetzen für 30 Euro oder ein Logo für die neue Firma entwerfen für 6 Euro – das Internet macht es möglich. Auf Plattformen wie Fiverr.com, Proz.com, Upwork.com oder Amazon’s Mechanical Turk (MTurk) werden Jobs weltweit vermittelt. Bearbeitet werden sie in Manila, Bangalore oder auch San Diego. Andere Dienstleistungen per Mausklick finden direkt vor unserer Tür statt: Die Taxifahrt mit Uber, die Unterkunft via Airbnb, das Essen von Deliveroo. Diese physischen Dienste konkurrieren mit etablierten Taxizentralen, Hotelketten und Lieferdiensten. Gemein ist beiden Formen der Plattformökonomie lokal wie global jedoch eins: Sie sind dabei den Handel zu revolutionieren. Das schnelle Wachstum der Plattformökonomie – weltweit wird es auf jährlich 25 Prozent geschätzt – bereitet bestehenden Firmen aller Branchen viel Kopfzerbrechen. Das Prinzip hat der Ökonom Ronald Coase bereits lange vor dem Internetzeitalter verstanden und dafür einen Nobelpreis erhalten: Der Grund, warum Firmen überhaupt existieren sind Transaktionskosten. Nun konnte das Preiskomitee der Schwedischen Reichsbank im Jahr 1991 kaum voraussehen, wie heute Internetplattformen eine Branche nach der anderen umkrempeln. Kunden finden geeignete Dienstleister auf den digitalen Plattformen im Handumdrehen, und Transaktionskosten reduzieren sich auf einen Mausklick. Immer mehr Firmen, vom Übersetzungsbüro bis zur Taxizentrale, braucht der Markt plötzlich nicht mehr. Etwa ein Viertel der Internetwirtschaft besteht bereits heute aus solchen Transaktionsplattformen. Das entspricht einer Marktkapitalisierung von 1,1 Billionen US-Dollar (engl.: trillion) und hat spürbare Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die USA führt den Trend an. Dort erwartet man bis 2020 einen Anstieg des Freelancer-Anteils auf 40 Prozent der Erwerbstätigen. In Entwicklungsländern hingegen stellt sich der Trend aus einer anderen Perspektive dar. Dort, wo informelle Beschäftigung nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, ist der Schritt auf die Online-Plattform ein Schritt in Richtung Formalisierung des Arbeitsverhältnisses. Arbeiter erhalten hier mehr Vertragssicherheit und genießen größere Freiheit bei der Auswahl der Kunden. Die Plattformarbeit kann außerdem der Karriereentwicklung dienen. Die Freelancer auf Upwork.com nähmen über die Zeit immer komplexere Aufträge an, konstatiert eine Studie der LMU München. Unter Umständen profitiert sogar der Staatshaushalt. Das Einkommen auf der Plattform wird meist elektronisch bezahlt und ist daher für Steuerbehörden besser nachvollziehbar. Führend im globalen Markt der Online-Dienstleistungen sind Indien, die Philippinen und die Ukraine. Auch Malaysia setzt auf starkes Wachstum. Gemäß der nationalen Beschäftigungsstrategie des südostasiatischen Staates sollen bis zum Jahr 2020 340.000 sogenannte „Clickworker“ einen Umsatz von 500 Millionen Dollar erwirtschaften. Die Nachfrage dieses globalen Marktes kommt jedoch vorwiegend aus Nordamerika und Europa. Daraus leitet sich eine Verantwortung ab. In Deutschland nimmt zum Beispiel der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte deutsche Unternehmen in die Pflicht, für die Einhaltung der Menschenrechte auch in ihren Lieferketten im Ausland zu sorgen. So wie das Textilbündnis der deutschen Wirtschaft sich für die Textil-Lieferketten einsetzt, könnte ein neues Bündnis für faire Plattformökonomie für bessere Arbeitsbedingungen bei Clickworkern sorgen. Um wirksam zu sein, muss so ein Bündnis allerdings global aufgestellt sein, und auch die Plattformbetreiber aus San Francisco und Bangalore miteinschließen. Denn die wichtigsten Regeln stecken in den Vertragsbedingungen der Plattform selbst. Ein Ethik-Kodex der Plattformbetreiber könnte Plattformarbeitern beispielsweise mehr Sicherheit geben, die Zahlungen für ihre Leistung auch zu erhalten. Die internationale Arbeitsorganisation ILO, sowie nationale Arbeitnehmervertreter wie Verdi und IG-Metall, stellen sich mit zaghaften ersten Schritten jenseits der Arbeitnehmer auf die neue Zielgruppe der Plattform-Freelancer ein – an Plattformbetreiber erheben sie Forderungen für mehr Vertragssicherheit, Mindestlohn, Versicherungsschutz, und Haftungsregeln. Sie haben die Vision von Plattformen, auf denen Auftragnehmer eine kollektive Interessensvertretung erhalten. Gleichzeitig müssen sich nationale Regierungen auf das Zeitalter technologischer Disruptionen auf dem Arbeitsmarkt einstellen. Dänemark, Schweden und vielleicht auch bald Frankreich dienen hier als Vorbild: Statt Jobs zu schützen werden dort die Menschen geschützt. Statt Kündigungsschutz setzen die nordischen Länder auf großzügige Sozialleistungen, Umschulungs- und Vermittlungsangebote. Das gibt nordischen Unternehmen einen Vorsprung, da sie sich personell flexibel auf die sich immer schneller wandelnden Rahmenbedingungen des digitalen Zeitalters anpassen können. Die Politik stellt weltweit fest: Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Während die Wirtschaft sich wandelt, müssen wir auch die Arbeitsmarktpolitik vom industriellen Zeitalter in das digitale Zeitalter überführen. Franz von Weizsäcker ist Lead Disruption Strategist und Head of GIZ Blockchain Lab bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).

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