∎ Georgien, Armenien und Aserbaidschan bilden einen Teil des EU-Kooperationsraums der Östlichen Partnerschaft. Europäische Außenpolitik ermuntert und unterstützt die Partnerstaaten dabei, ihre Regierungsführung (governance) zu verbessern.
∎ Für die Bewertung, wie gut das gelingt, spielt das Thema Korruption und ihre Bekämpfung eine gewichtige Rolle. In keinem anderen Teil Osteuropas und Eurasiens klafften das Ausmaß der Korruption und die Bilanz der Gegenmaßnahmen so weit auseinander wie im Südkaukasus.
∎ Unter den postsowjetischen Staaten hat nur Georgien seine Position in der Korruptionsstatistik seit Mitte der 2000er Jahre nachhaltig verbessert. Auf dem Korruptionswahrnehmungs-Index von Transparency International liegt es weit vor seinen Nachbarn, doch seine Reformbilanz wird in den letzten zwei Jahren von heftigen innenpolitischen Querelen gefährdet.
∎ In Armenien leitete die Samtene Revolution im Frühjahr 2018 den Sturz der Republikanischen Partei ein. Unter deren Herrschaft hatte sich in zwei Jahrzehnten eine Oligarchie etabliert, und die Korruption blühte. Die neue Führung unter Premierminister Nikol Paschinjan erklärte Korruptionsbekämpfung zur Priorität für den politischen Neustart.
∎ Aserbaidschan weist das höchste Ausmaß an Korruption auf. Seine »Beamtenoligarchie« bildete bislang eine machtvolle Verbindung zwischen Staat und Wirtschaft. 2019 sagte Präsident Ilham Alijew Schattenwirtschaft und Korruption den Kampf an und ersetzte einige langjährige Regierungsmitglieder. Experten bezweifeln allerdings, dass damit ein politischer Systemwandel in die Wege geleitet wurde.
Nine years into the (civil) war, Syria is in an extraordinarily poor position to confront the Covid-19 pandemic. Instead of the pandemic leading towards the uniting of local, regional, and international actors involved in Syria around a common purpose, conflict dynamics have hampered an effective response to Covid-19. Yet, the pandemic is unlikely to become a decisive turning point in conflict dynamics or an overall determinant of its future trajectory. Rather, in the mid-term, the relevant actors are likely to continue to follow their strategic interests in Syria, while some will have to adjust their operational priorities, as well as the strategies to pursue them, against the backdrop of the pandemic. Cooperation among external actors in solving the conflict is not set to get any easier. Trends of destabilisation and erosion of state capacity in the war-torn country are also likely to continue. Europeans should prioritise helping fight the pandemic in all areas of Syria and re-engage in diplomacy aimed at conflict settlement and the prevention of military escalation among involved actors.
∎ Although cross-border flight has been high on the international agenda for several years, the more wide-spread phenomenon of internal displacement has received scant political attention, despite the fact that it promotes conflict and hinders development.
∎ The problem is exacerbated when internal displacement continues over an extended period. If a large population group is denied the ability to exercise its basic as well as its civil rights for years, there are high costs and political risks for society as a whole.
∎ Internal displacement can have many causes. If it becomes a protracted phenomenon, this points to fundamental political shortcomings. Hence, the issue is a politically sensitive matter for the governments concerned, and many of them consider offers of international support as being undue interference in their internal affairs.
∎ At the global and regional levels, legislative progress has been made since the early 2000s. However, the degree of implementation is still inadequate and there is no central international actor to address the concerns of IDPs.
∎ The political will of national decision-makers is a prerequisite for the protection and support of those affected. This can be strengthened if governments are made aware of the negative consequences of internal displacement and if their own interests are appealed to.
∎ The German government should pay more attention to the issue of internal displacement and make a special effort to find durable solutions. The most important institutional reform would be to reappoint a Special Representative for IDPs who would report directly to the UN Secretary-General.
Die EU-Kommission hat vergangene Woche eine internationale Geberkonferenz einberufen, um die gemeinsame Finanzierung der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gegen das Coronavirus zu sichern. Die Teilnehmer haben am Montag 7,4 Milliarden Euro zugesagt. Reicht das?
Maike Voss: Es ist ein Anfang. Insgesamt, also von der Entwicklung über die Produktion bis zur Verteilung von Impfstoffen, Medikamenten und anderen Medizinprodukten, wird es weitaus teurer werden. Die virtuelle Geberkonferenz diente dazu, die internationale Kooperation in diesem Bereich zu initiieren. Deswegen war es ein wichtiges Zeichen, dass möglichst viele Länder an einem Tag zur selben Zeit zusammenkamen.
Geld scheint ohnehin nicht das Problem zu sein. Allein in Deutschland beträgt der Umfang der haushaltswirksamen Maßnahmen zum Umgang mit der Coronakrise mehr als 350 Milliarden Euro.
Es geht auch nicht nur ums Geld. Ein Beispiel: Die Gates-Stiftung gehört zu den größten Geldgebern für globale Gesundheit und hat nun 100 Millionen Euro zugesagt. Die könnten natürlich noch viel mehr beisteuern. Die Stiftung achtet aber darauf, dass sie in einer für sie zu rechtfertigenden Relation zu den anderen Gebern steht. Sie will sich nicht in den Vordergrund spielen, mischt aber natürlich stark mit. Und so lassen sich die 525 Millionen Euro aus Deutschland auch als Zeichen lesen, dass man hier viel unterstützen und die Debatte mit anführen möchte.
Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, wollte alle Gesundheitsorganisationen der Welt unter einem Dach vereinen. Am Ende beteiligten sich Staats- und Regierungschefs aus 40 Ländern, Stiftungen und Unternehmen. Die USA und Russland waren nicht dabei…
…und Indien. Die großen Pharmamunternehmen sitzen in den USA, Europa und Indien. Zwei dieser großen Player waren bei der Geberkonferenz nicht dabei. Das ist natürlich verheerend für die gemeinsamen Bemühungen gegen Covid-19. Beim Fernbleiben der USA spielt sicherlich die Abkehr vom Multilateralismus eine Rolle. Indien nahm kurz vor der Geberkonferenz an einem Treffen der blockfreien Staaten (Non-Aligned Movement) teil. Gerade zu Beginn der Krise wurde die Europäische Kommission dafür kritisiert, die EU-Mitgliedsländer nicht zu einer gemeinsamen Politik bewegen zu können. Bei der Geberkonferenz wurde ihr nun eine Führungsrolle zugesprochen.
Was bedeutet das für die Eindämmung der Pandemie?
Ich denke, dass die Geberkonferenz auch bei den Ländern, die sich nicht beteiligt haben, Eindruck hinterlässt. Denn die teilnehmenden Länder signalisieren: Wir arbeiten zusammen, damit wir schneller einen Impfstoff als ein globales, öffentliches Gut entwickeln, von dem alle gleichberechtigt profitieren. Ihre Absicht ist es nicht, diesen ausschließlich untereinander zu verteilen, sondern ihn weltweit zur Verfügung zu stellen. Schließlich sind wir vor dem Virus nur sicher, wenn eine große Anzahl von Menschen geimpft ist. Und so würden auch jene Länder profitieren, die sich gerade nicht beteiligen.
Wo liegen die größten Hürden bei der Erforschung und Entwicklung eines Impfstoffes?
Zunächst geht es um die Frage, wie man es schafft, den Preis so nah wie möglich an den Produktionskosten auszurichten, damit der Impfstoff erschwinglich bleibt. Die Vergabe von Patenten kann eine schnelle und umfangreiche Produktion erschweren und verzögert daher den Zugang zu einem Impfstoff. Die Freigabe von geistigen Eigentumsrechten, Informationen und Daten in einem internationalen Technologiepool sowie Technologietransfers können hier Abhilfe schaffen. Gleichzeitig müssen die Entwicklungs- und Produktionskosten natürlich vergütet werden. Der Preis des Herstellers und die Kaufkraft des Käufers dürfen aber nicht über den Zugang zu einem Gesundheitsgut entscheiden. Darüber hinaus ist die Frage der Produktionskapazität noch offen. Ziel ist es, den Impfstoff in großer Menge möglichst vor Ort, so nah wie möglich an den Menschen, herzustellen. Wir wissen momentan nur, dass Produktionsstandorte weltweit ungleich verteilt sind – eher im globalen Norden. Hier braucht es entwicklungspolitische Lösungen, zumal weil auch die Verteilung wegen mangelnder Infrastruktur wie beispielsweise sicheren Kühl- und Lieferketten schwierig wird.
Wie lässt sich eine faire Verteilung des Impfstoffes sicherstellen, wenn dieser irgendwann entwickelt ist?
Jeder Euro bzw. Dollar, der ins System fließt, muss an Bedingungen für den gerechten Zugang geknüpft sein. Es braucht einen Überprüfungsmechanismus, der idealerweise bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angesiedelt ist. Die WHO ist die Organisation, die dazu legitimiert ist und viel Erfahrung hat. Dafür muss sie aber mit den dafür notwendigen Mitteln ausgestattet werden. Bei der Kontrolle muss auch die Zivilgesellschaft, zum Beispiel Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, einbezogen werden. Diese Stimmen haben bei der Geberkonferenz gefehlt. In vielen Entwicklungsländern sind es NGOs, die die Gesundheitsversorgung am Laufen halten. Für all das brauchen wir viel Transparenz. Und die Pharmaindustrie ist nicht der Sektor, der sonst mit freiwilliger Transparenz glänzt. Deswegen bedarf es jetzt Anpassungen nationaler Regularien – und das wird in Anbetracht der Dringlichkeit und Abhängigkeiten nicht einfach.
Wie müsste priorisiert werden, um den Impfstoff weltweit gerecht zu verteilen?
Es ist wichtig, dass Staaten zusammen mit der WHO jetzt schon Kriterien zur gerechten Verteilung entwickeln, denen ethische Überlegungen zugrunde liegen. So sollten national Gesundheitsfachkräfte, im öffentlichen Sektor tätige Personen und vulnerable Gruppen priorisiert werden. Neben epidemiologischen Kennzahlen spielen für eine internationale Verteilung soziale und wirtschaftliche Aspekte eine Rolle, darunter die Durchsetzung und Akzeptanz von Gesundheitsschutzmaßnahmen, die Bevölkerungsdichte, die Größe des informellen Sektors und der Zugang zu Wasser. Auch die Funktionsfähigkeit von Gesundheitssystemen wird entscheidend sein – zur Verteilung der Güter, aber auch um die Regelversorgung aufrechtzuerhalten. Gesundheitsfachkräfte werden hier entscheidend sein. Wir haben nun etwa ein Jahr Zeit, um die nötige Infrastruktur aufzubauen. Denn so lange wird es mindestens dauern, bis es einen Impfstoff gibt.
Das Interview führte Çetin Demirci von der Online-Redaktion.
Dieser Text ist auch bei euractiv.de erschienen.
Die regelbasierte internationale Ordnung ist in der Krise und mit ihr die nukleare Ordnung, die im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), im umfassenden Testverbotsvertrag (CTBT) und in den bilateralen Rüstungskontrollverträgen zwischen den USA und Russland zur Begrenzung strategischer Waffensysteme verankert ist. Während die nukleare und konventionelle Rüstungskontrolle erodiert, beschleunigt sich der qualitative Rüstungswettlauf. Neue Waffensysteme und Szenarien nuklearer Kriegsführung stellen die strategische Stabilität in Frage, die im New-START-Vertrag definiert wurde. Seine Verlängerung ist dringlich, um eine weitere Destabilisierung zu verhindern und Zeit für Neuverhandlungen zu gewinnen. Ein Folgeabkommen muss neue technologische und politische Entwicklungen berücksichtigen, um das strategische Gleichgewicht zu sichern und die Glaubwürdigkeit des Abrüstungsgebots des NVV zu erhalten. Der Sitz im Sicherheitsrat bietet Deutschland die Chance, dazu die Initiative zu ergreifen.
Südkorea und die USA haben gemeinsame Militärübungen im März aufgrund der Covid‑19-Pandemie abgesagt. Pjöngjang dagegen, das Infizierungen im eigenen Land abstreitet, führte zwischen Ende Februar und Mitte April 2020 fünf Tests ballistischer Raketen durch und hielt sieben Militärübungen ab. Das nordkoreanische Regime demonstriert damit erneut seine Fähigkeiten und seine Entschlossenheit, nukleare Trägersysteme weiterzuentwickeln. Sollen die jüngsten Waffentests mit Blick auf etwaige Verhandlungen Druck auf Washington ausüben oder will Pjöngjang damit seinen Status als nuklear bewaffnete Militärmacht vorführen? Im Herbst 2020 stehen für Donald Trump die Präsidentschaftswahlen an, für das Regime Kim Jong Uns die Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der Arbeiterpartei. Für beide wäre ein außenpolitischer Erfolg wichtig; die derzeitige Entwicklung, die von Raketentests und dem Fehlen von Verhandlungen gekennzeichnet ist, lässt jedoch wenig Raum für positive Szenarien.
China drängt darauf, die Gremien der International Telecommunication Union (ITU) zu nutzen, um Protokolle und Standards für das Internet der Zukunft zu entwickeln. Viel Aufmerksamkeit erfährt dabei der chinesische Vorschlag, eines der grundlegenden Protokolle zur Datenübertragung im Internet – das »Internet Protocol« (IP) – durch »NewIP« zu ersetzen. Vor wenigen Wochen griff die Financial Times den Vorgang auf, was eine internationale Debatte auslöste. Warum die Aufregung?
Daniel Voelsen: China ist bekannt dafür, das eigene Internet sehr genau zu kontrollieren. Mit hohem technischem und personellem Aufwand versucht der Staat dort zu kontrollieren, welche Informationen ausgetauscht werden. So soll es gelingen, das wirtschaftliche Potential des weltweiten Internets zu nutzen, ohne die eigene politische Macht zu gefährden. Schon länger formuliert China dabei den Anspruch, auch die globale Entwicklung des Internets zu prägen. NewIP wird insofern als ein weiterer Beleg für den globalen Gestaltungsanspruch Chinas in diesem Bereich gedeutet.
Nadine Godehardt: Dieses Vorgehen ist nicht untypisch für das China unter Xi Jinping. In vielerlei Hinsicht nutzt die chinesische Regierung den Rückzug der USA aus den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen, um ihre Vorstellungen, Regeln und Ideen prominent zu platzieren. Ihr Ziel ist es, das internationale System mehr an China anzupassen, während sie auf diplomatischer und medialer Ebene breites Engagement und Offenheit signalisiert. Das Engagement der chinesischen Akteure innerhalb der ITU, die eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist, ist tatsächlich nur ein weiteres Beispiel dafür.
Woher rührt das große politische Interesse an – auf den ersten Blick technischen – Standards?
Daniel Voelsen: Digitale Technologien basieren fundamental auf Standards und Protokollen. Ein modernes Handy braucht etwa WLAN und LTE für drahtlose Verbindungen, breit geteilte Standards für Bild-Dateien oder Protokolle für den Versand von E-Mails. Wer diese Standards und Protokolle prägt, hat wirtschaftliche Vorteile und kann auch politisch Einfluss nehmen. Weil es in nahezu allen Fällen um globale Standards geht, ist auch dieser Wettstreit um Einfluss global.
Nadine Godehardt: Die Durchsetzung und Verbreitung von technischen und regulativen Standards spielt für die chinesische Regierung mittlerweile eine zentrale Rolle. Denn Standards repräsentieren im chinesischen Sinne »Konnektivitätsressourcen«, die es Peking ermöglichen, andere Akteure indirekt oder direkt zu beeinflussen. Die Kontrolle über Infrastrukturen und zentrale Knotenpunkte wie beispielweise durch den Vorstoß mit NewIP ist daher ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Strategie, die zukünftige Struktur des internationalen Systems aktiv mitzugestalten.
Welche Ziele verfolgt China mit dem Vorstoß in der ITU?
Daniel Voelsen: Über die technischen Details von NewIP ist bisher wenig bekannt. Bis jetzt ist das noch eine recht vage Idee, aus der nach dem Willen der Chinesen in den nächsten Jahren ja erst noch ein technisches Protokoll entstehen soll. Aber schon die bisher verfügbaren Informationen lassen recht deutlich die Ziele Pekings erkennen: Mit NewIP sollen bereits auf Ebene der grundlegenden Protokolle des Internets neue Möglichkeiten geschaffen werden, Datenflüsse im Internet zentral zu steuern. Bisher muss der chinesische Staat hierfür einen großen Aufwand betreiben, weil das Internet ursprünglich eine solche Kontrolle nicht vorsah. Auch die Wahl der ITU ist nicht zufällig: Hierin kommt der Anspruch Chinas zum Ausdruck, die Entwicklung von Standards und Protokollen für das Internet staatlich zu steuern, also nicht wie bislang weithin privaten Akteuren zu überlassen.
Nadine Godehardt: Für die chinesische Regierung bietet sich so die Möglichkeit, zwei zentrale Ziele zu verbinden. Wenn sich diese noch sehr vage Idee durchsetzt, dann unterstützt sie erstens die Aufrechterhaltung digitaler Souveränität auf dem Territorium Chinas, das heißt die Zentralregierung kann das chinesische Internet weiterhin und mit weitaus geringerem Aufwand als bisher in ihrem Sinne kontrollieren. Zweitens würde ein neues, von chinesischen Akteuren mitentwickeltes Internetprotokoll aber auch die internationale Offenheit, Verantwortung und Kooperationsbereitschaft Chinas unterstreichen. Es ist Teil von Pekings Staatsdoktrin, »Win-win-Situationen« in diesem Sinne zu schaffen.
Wie sollten Deutschland und Europa auf Chinas Vorschlag reagieren?
Daniel Voelsen: Die aktuelle Diskussion um NewIP scheint mir etwas überhitzt. Nach allen bekannten Informationen ist NewIP noch weit davon entfernt, eine echte Alternative darzustellen. Sehr wohl aber sollten wir ernst nehmen, dass China mit Blick auf das Internet einen globalen Gestaltungsanspruch hat. Hinzu kommt, dass das chinesische Modell eines Internets, das wirtschaftliche Freiheit mit engmaschiger politischer Kontrolle verbindet, für viele Staaten der Welt attraktiv sein dürfte. Um dem etwas entgegenzusetzen, ist es zuerst einmal notwendig, die eigene Position klar zu formulieren. Wir müssen erklären können, wie sich ein digital durchsetzungsfähiger Rechtsstaat von dem Herrschaftsanspruch der chinesischen Regierung unterscheidet. Anders als in der Vergangenheit wird es zudem notwendig sein, für dieses Modell einer liberalen digitalen Gesellschaft proaktiv zu werben. Dem für viele Staaten verlockenden Angebot Chinas müssen wir politisch, wirtschaftlich und letztlich dann auch technisch ein besseres Angebot gegenüberstellen.
Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion.
On reaching the Horn of Africa, the corona virus will have encountered countries already facing a multitude of challenges. Prolonged armed conflict, drought and insecurity have turned more than eight million people into refugees in their own countries, and a further 3.5 million have fled to neighbouring countries where they live in overcrowded refugee camps. All the countries in this region are in a fragile state of political transformation or have been severely weakened by war and government failures. They possess neither the capacity to contain the Covid pandemic nor to mitigate the resulting unemployment, poverty and hunger. In order to guard against jeopardising the process of democratisation in Sudan and Ethiopia, special emphasis should be placed on social security systems and gaining the trust of the population. This requires an emergency aid package from abroad that will ensure the economic survival of all countries in the region. However, long-term support should be conditional on guaranteeing that most of the investment goes into developing state capacities for critical infrastructure and social security.
Die Berliner Libyen-Konferenz vom Januar 2020 sollte die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen (VN) in dem eskalierenden Konflikt unterstützen. Unter den Beschlüssen erzeugte das Bekenntnis der teilnehmenden Staaten zum bestehenden VN-Waffenembargo besondere Aufmerksamkeit. Da dieses schon kurz nach der Konferenz wieder gebrochen wurde, geriet der Ansatz schnell in die Kritik. Tatsächlich gibt es bei Um- und Durchsetzung solcher Embargos der VN etliche Herausforderungen, die im Falle Libyens besonders ausgeprägt sind. Ein genauer Blick auf alle bestehenden VN-Waffenembargos in Konfliktkontexten zeigt aber auch Ansatzpunkte auf, wie diese am häufigsten verhängte Form von VN-Sanktionen besser genutzt werden kann. Gewiss wird kein noch so gut überwachtes Waffenembargo allein einen Friedensprozess retten. Als Teil eines Gesamtpakets von Maßnahmen zur Konfliktlösung kann das Instrument aber wirkungsvoller eingesetzt werden.
Die Parlamentswahlen in Südkorea am 15. April waren die weltweit erste landesweite demokratische Abstimmung seit dem Ausbruch der Corona-Krise. Dass sie überhaupt durchgeführt werden konnten, steht in direktem Zusammenhang mit der Strategie, die Südkoreas Regierung bei der Eindämmung der Corona-Pandemie verfolgt. Klarer Sieger war denn auch der amtierende Präsident Moon Jae-in, der insbesondere für sein erfolgreiches Krisenmanagement belohnt wurde. Doch ist die Wahl auch ein Sieg für die noch immer vergleichsweise junge Demokratie in Südkorea. Da Regierung und Bevölkerung aus den Erfahrungen früherer Epidemien gelernt haben, mussten sich die Bürger nicht zwischen der Ausübung ihrer demokratischen Rechte und dem Schutz ihrer Gesundheit entscheiden.
Wenn sich am 6. Mai die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder mit den Kollegen aus den Westbalkanländern per Video zusammenfinden, soll ein Hilfspaket der Europäischen Union in Höhe von 3,3 Milliarden Euro im Mittelpunkt stehen. Der geplante Umfang der finanziellen Unterstützung für die Staaten Südosteuropas stelle unter Beweis, so die Kommission, dass die EU angesichts der Krise entschieden vorgehe. Neben den Soforthilfen für medizinische und soziale Zwecke werde im Herbst ein »robuster Wirtschafts- und Investitionsplan« vorgestellt, der mit Maßnahmen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Sozialpolitik insbesondere auf die gesellschaftliche Entwicklung ziele. Mit dem Beistandspaket gehe man weit über das hinaus, was jeder andere Partner der Region zur Verfügung gestellt habe, denn der Westbalkan sei »eine geostrategische Priorität« der Union. Offenbar möchte die – laut Präsidentin Ursula von der Leyen »geopolitische« – Kommission in Südosteuropa jetzt eindeutige Zeichen setzen. Denn, so der deutsche Chefdiplomat Heiko Maas: »Ohne den Westbalkan ist das europäische Projekt unvollendet«. Er sei umgeben von EU-Staaten. Man dürfe daher dort keine Unsicherheit und Instabilität zulassen.
Freund und Bruder Xi JipingAllerdings scheint das Durchsetzungsvermögen der EU im Westbalkan und insbesondere im größten und politisch bedeutendsten Staat der Region, Serbien, seit dem Seuchenausbruch angeschlagen zu sein. In den Nachrichtenmedien der Region wurde anfangs vor allem über die Ankunft medizinischer Hilfstransporte aus China, der Türkei oder Russland berichtet. Die Solidarität der EU sei ein Märchen, polterte Serbiens starker Mann, Präsident Aleksandar Vučić. Unmittelbarer Anlass für seinen Missmut war die Brüsseler Entscheidung, die Westbalkanländer nicht von einem am 19. März 2020 verhängten Exportverbot für medizinische Schutzausrüstung in Drittländer auszunehmen. Kurz vor der Kommissionsmitteilung zum Westbalkan-Gipfel wurden diese Güter dann doch für die Region freigegeben.
Dass Vučić sich zu dem tollkühnen Versuch hinreißen ließ, vor laufenden Kameras dem chinesischen Volk auf Chinesisch zu danken, ferner die chinesische Flagge küsste und den chinesischen Führer als »Freund und Bruder XI Jiping« hofierte, ist nur zum Teil mit hemmungsloser Anbiederung zu deuten. Vielmehr hat sich im Westbalkan die Einsicht ausgebreitet, dass die angestrebte EU-Mitgliedschaft nicht das Allheilmittel für die hartnäckigen Probleme der Region sein kann.
Die starke Verflechtung der Region mit der EU, vor allem über deutsche und italienische Unternehmen, hat nicht nur Vorteile. Als Folge der Krise in der Union nimmt die Nachfrage nach Produkten und Dienstleitungen aus der Region ab (über 70 Prozent des Außenhandels entfällt auf die EU), Investitionen aus der EU fallen aus, die Überweisungen der Migranten in die alte Heimat sinken. Die Weltbank rechnet mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im Westbalkan um bis zu 5,7 Prozent in diesem Jahr. Selbst bei bester Wirtschaftslage in der EU aber vermag der Westbalkan nicht genug Investitionen aufzubringen, um ein Wachstum von über sechs Prozent jährlich zu erreichen. So viel wäre notwendig, um in 30 Jahren zum EU-Durchschnitt aufzuschließen. Man blickt in der Region deswegen in der Hoffnung auf größere Investitionen zunehmend nach Asien, vor allem nach China.
Eine neue Grundhaltung ist nötigDas angekündigte EU-Hilfspaket wird wenig an den grundlegenden Problemen der Region ändern können, wenn die EU den Westbalkan nicht anders als bisher als festen Bestandteil der EU behandelt – aus den genannten »geopolitischen« Gründen. Dazu würde zunächst gehören, dass die geplanten Hilfen keine einmalige Leistung sind, die überwiegend auf Krediten und nicht auf Zuwendungen fußt. Anders als die »neuen« Mitgliedsländer der Union haben die Westbalkanländer bisher keine solidarischen Aufbaubeihilfen zum Ausgleich ihres Handelsbilanzdefizits mit der EU von über 100 Milliarden Euro im vergangenen Jahrzehnt erhalten. Um das zu ändern, müsste der Region schon vor der Mitgliedschaft Zugang zu den Struktur- und Kohäsionsfonds der EU oder einer vergleichbaren Zuwendungsquelle eröffnet werden, damit umfassender und dauerhafter Wachstum einsetzt.
Selbst wenn die EU mit diesem Weg eine grundsätzlich andere Haltung einnimmt, steht nicht fest, ob es dafür nicht zwölf Jahre zu spät ist: Ein vergleichbarer Vorstoß hätte nach 2008/2009 stattfinden sollen, als die große Schulden- und Finanzkrise auf den Westbalkan überschwappte und die Region noch schlimmer als die EU selbst traf. In der Zwischenzeit haben im Westbalkan zwei vermutlich unumkehrbare Entwicklungen stattgefunden. Zum einen haben die Menschen die Hoffnung aufgegeben, dass sie Wohlstand noch erleben werden. Deswegen wandern sie in Massen aus: Im Jahr 2018 hat alle zwei Minuten ein Bürger der Westbalkanstaaten eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in der EU bekommen – insgesamt 230.000 Menschen.
Zum anderen haben nach der Finanzkrise 2008 überall im Westbalkan rechtspopulistische und autoritäre Kräfte wieder die Oberhand gewonnen (Nordmakedonien ist derzeit die Ausnahme). Das demokratische Potenzial der Gesellschaften ist weiter zurückgegangen – unter anderem wegen der Vergreisung der Bevölkerung und massenhafter Auswanderung, der wirtschaftlichen Schwächen und der nicht beigelegten ethnopolitischen Konflikte. Darauf verweisen alle Untersuchungen von internationalen Demokratie- und Menschenrechtsorganisationen. Zudem ist fraglich, ob Vučić und die anderen Alleinherrscher bereit sind, friedlich die Macht wieder abzugeben.
Nach dem Gipfel nächste Woche wird folglich ein Dilemma ungelöst bleiben: Soll man, geopolitisch motiviert, die Staaten letztlich in die EU durchwinken, wie es mit den ostmitteleuropäischen Staaten seinerzeit der Fall war? Oder darf die weitere Annäherung der Westbalkanstaaten an die EU erst nach dem Einlenken ihrer Regierungen in rechtsstaatliche Bahnen stattfinden? Nach dem Abklingen der Pandemie sollen Parlaments- und andere Wahlen in Serbien, Montenegro, Nordmakedonien sowie Bosnien und Herzegowina stattfinden. Eine gründliche Überprüfung der demokratischen Qualität dieser Wahlen müsste die Grundlage sein, auf der die EU entscheiden sollte, mit welchen Regierungen sie den Erweiterungsprozess weiterführen und mit welchen sie ihn vorerst einfrieren möchte.
When EU leaders and their counterparts from the Western Balkans meet on 6 May for a video conference, the focus will be on a €3.3 billion aid package from the European Union. The planned level of financial support for the countries of south-east Europe is proof, the Commission has said, that the EU is taking decisive action in the face of the crisis. In addition to emergency aid to address the health crises and the resulting humanitarian needs, a substantial “economic and investment plan" will be presented in the autumn, with measures in the areas of health, education and social policy aimed in particular at social development. According to the Commission, the assistance package goes far beyond what any other partner has provided to the region, as the Western Balkans is "a geostrategic priority" for the Union. Apparently, the "geopolitical Commission” (President Ursula von der Leyen) now wants to send a clear signal in south-east Europe. Because, according to the German Foreign Minister Heiko Maas, "without the Western Balkans, the European project is unfinished", it is surrounded by EU states, therefore no uncertainty and instability should be allowed there.
Friend and brother Xi JipingHowever, the EU's ability to assert itself in the Western Balkans and especially in the largest and politically most important state in the region, Serbia, seems to have weakened since the outbreak of the pandemic. The region's news media initially reported mainly on the arrival of medical aid shipments from China, Turkey or Russia. EU solidarity is a fairy tale, rumbled Serbia's strong man, President Aleksandar Vučić. The immediate cause for his displeasure was the Brussels decision not to exempt the Western Balkan countries from an export ban on personal medical protection equipment to third countries, which was imposed on 19 March 2020. Shortly before the Commission's Communication on the Western Balkans Summit, the export of these goods was released for the region.
The fact that Vučić allowed himself be carried away in a ham-fisted attempt to thank the Chinese people in Chinese in front of running cameras, kissing the Chinese flag and ingratiatingly calling the Chinese leader "friend and brother XI Jiping", can only partly be interpreted as an immoderate attempt to curry favour. In point of fact, the perception has spread in the Western Balkans that the aspired EU membership cannot be the panacea for the region's persistent problems.
The region's strong integration with the EU, especially through German and Italian companies, has not only advantages. As a result of the crisis in the Union, demand for products and services from the region is declining (the EU accounts for over 70 percent of external trade), investments from the EU are mostly on hold, and migrants' remittances to their homelands are falling. The World Bank expects economic output in the Western Balkans to decline by up to 5.7 percent this year. Even in the best economic situation in the EU, however, the Western Balkans will not be able to raise enough investment to achieve an annual growth of over six percent, the level necessary to catch up with the EU average in 30 years. For this reason, the region is increasingly looking to Asia, especially China, in the hope of attracting larger investments.
A change of direction is necessaryThe announced EU aid package will be able to do little to change the fundamental problems of the region if the EU does not treat the Western Balkans as an integral part of the EU – for the “geopolitical" reasons mentioned above. This would entail, first of all, that the planned aid is not a one-off effort based mainly on loans rather than grants. In contrast to the "new" member states of the Union, the Western Balkan countries have so far not received robust, solidarity-based development aid to offset their trade deficit with the EU of over 100 billion euros, accumulated over the past decade. In order to change this, the region needs to be given access to the EU's structural and cohesion funds or a comparable source of zero-priced capital before membership, so that comprehensive and sustainable growth can begin.
Even if the EU takes a fundamentally different stance with this approach, it is unclear whether it is not 12 years too late: a similar push should have taken place after 2008/2009, when the international debt and financial crisis spilled over to the Western Balkans and hit the region even harder than the EU itself. In the meantime, two probably irreversible developments have taken place in the Western Balkans. Firstly, people have given up on the hope that they will experience prosperity. This is why they are emigrating en masse – in 2018, every two minutes a citizen of the Western Balkan countries received a residence and work permit in the EU, a total of 230,000 people.
Secondly, after the 2008 financial crisis, right-wing populist and authoritarian forces have regained the upper hand everywhere in the Western Balkans (Northern Macedonia is currently the exception). The democratic potential of these societies has further declined – among other things because of the ageing population and mass emigration, economic weaknesses and unresolved ethno-political conflicts. All studies by international democracy and human rights organisations point to this. Moreover, it is questionable whether Vučić and the other autocrats are prepared to peacefully relinquish power.
Consequently, after next week's summit, one dilemma will remain unresolved: should the EU, geopolitically motivated, ultimately wave the states through to membership, as was the case with the eastern Central European states? Or should the Western Balkan states only be allowed to continue their rapprochement with the EU after their governments have started delivering on the rule of law? Once the pandemic has subsided, parliamentary and other elections are to be held in Serbia, Montenegro, Northern Macedonia and Bosnia and Herzegovina. A thorough review of the democratic quality of these elections should be the basis on which the EU decides with which governments it wishes to continue the enlargement process and with which it wishes to freeze it for the time being.
In the countries of South Asia, the rampant coronavirus pandemic could affect more than 1.9 billion people – almost a quarter of the world’s population. Given the weaknesses of national health care systems, the fight against the virus seems to be lost before it has even begun. The economic damage will increase the levels of poverty and inequality, and it is likely to exacerbate rather than mitigate a number of existing conflicts. On the domestic front, it is feared that authoritarian tendencies will increase during the management of the crisis. In the regional context, China could further expand its influence at the expense of India.
Am Horn von Afrika trifft das Corona-Virus auf Staaten, die ohnehin mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert sind: Anhaltende bewaffnete Konflikte, Dürre und Unsicherheit haben mehr als acht Millionen Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht, weitere 3,5 Millionen sind in die Nachbarländer geflohen, wo sie in überfüllten Flüchtlingslagern leben. Alle Staaten der Region befinden sich in einem fragilen Zustand politischer Transformation oder sind durch Krieg und Regierungsversagen enorm geschwächt. Ihre Kapazitäten reichen weder für die Eindämmung der Covid-Pandemie aus noch für die Abfederung der Folgen, wie Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger. Um die Demokratisierung im Sudan und in Äthiopien nicht zu gefährden, ist es notwendig, den Fokus auf soziale Sicherungssysteme zu richten und das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Dazu ist ein Soforthilfepaket aus dem Ausland erforderlich, das den Staaten das wirtschaftliche Überleben sichert. Langfristige Unterstützung jedoch sollte an die Bedingung geknüpft werden, dass ein Großteil der Investitionen in den Aufbau staatlicher Kapazitäten fließt.
Deutsche und europäische Entscheidungsträger ringen seit Jahren um Kompromisse in der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Dabei wird häufig vergessen, dass die meisten Menschen, die sich aufgrund gewaltsamer Konflikte, Naturkatastrophen oder großangelegter Infrastrukturprojekte gezwungen sehen, ihren Heimatort zu verlassen, keine internationale Grenze überqueren. Diese so genannten Binnenvertriebenen sind häufig ähnlich hilfsbedürftig wie grenzüberschreitende Flüchtlinge, haben aber keinen Zugang zu internationalem Schutz. Insbesondere die Zahl konfliktbedingter Binnenvertriebener steigt stetig an. Laut dem in dieser Woche erschienenen Jahresbericht des Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) erreichte sie Ende 2019 einen neuen Höchstwert von 45,7 Millionen. Hinzu kommen mindestens 5,1 Millionen katastrophenbedingte Binnenvertriebene. Humanitäre Hilfe allein ist keine adäquate Antwort auf dieses Problem: In Ländern wie Afghanistan, Irak oder der Ukraine leiden viele Menschen auch Jahre nach der ursprünglichen Vertreibung noch unter gravierenden Benachteiligungen, etwa beim Zugang zu Gesundheit, Bildung und Einkommensmöglichkeiten. Doch bisher fehlt es an langfristigen Lösungsansätzen.
Vergessene KrisenEs gibt eine Reihe von Gründen, weshalb Binnenvertriebene auf internationaler Ebene wenig Beachtung finden. Binnenvertreibung tritt ganz überwiegend in ärmeren Weltregionen auf; anders als bei grenzüberschreitender Flucht sind wohlhabende Länder wie Deutschland auch den Folgen von Binnenvertreibung nicht direkt ausgesetzt. Entsprechend gering ist die politische Aufmerksamkeit. Das jährlich vom Norwegischen Flüchtlingsrat publizierte Ranking »vergessener Krisen« belegt, dass große Vertreibungssituationen, die sich vorwiegend innerhalb der Grenzen des betroffenen Landes abspielen, regelmäßig auch medial vernachlässigt werden. Dieselbe Erhebung zeigt überdies, dass die entsprechenden internationalen Appelle zur Finanzierung humanitärer Einsätze – etwa für die Demokratische Republik Kongo, Mali oder Kamerun – kaum Gehör finden. Zudem leugnen viele Regierungen, dass Binnenvertreibung auf ihrem Territorium vorkommt, da sie internationale Sanktionen oder Reputationsverluste fürchten. Gerade dieser letzte Aspekt erschwert das Engagement internationaler Akteure immens: Eine Unterstützung von Binnenvertriebenen ist ohne Einverständnis der jeweiligen Regierung unmöglich – und einem Problem, das totgeschwiegen wird, kann man nicht begegnen. Trotz seiner gravierenden Folgen.
Gesamtgesellschaftliche Kosten und konfliktförderndes PotentialJüngere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die durch Binnenvertreibung verursachten wirtschaftlichen Kosten immens sind. In Ländern wie Somalia oder der Zentralafrikanischen Republik machen etwa die geringere wirtschaftliche Produktivität ebenso wie Kosten für Unterbringung, Gesundheitsversorgung, Bildung und Sicherheit einen substantiellen Anteil des Bruttoinlandsprodukts aus. Hinzu kommen langfristige Auswirkungen: Da zum Beispiel die Schulbildung von Kindern und Jugendlichen aufgrund der Vertreibung unterbrochen oder verkürzt wird, werden sich Einkommen und damit Steuereinnahmen in der Zukunft verringern. Bereits erzielte Entwicklungserfolge geraten auf diese Weise in Gefahr. Arme Länder, in denen die Folgen von Vertreibung nicht durch persönliche Rücklagen oder staatliche Sicherungssysteme abgefedert werden können, leiden besonders. Hinzu kommt, dass Binnenvertreibung nicht nur eine häufige Folge bewaffneter Konflikte ist, sondern auch zu deren geografischer Ausweitung oder Verlagerung beitragen und Länder langfristig destabilisieren kann. Die Suche der internationalen Gemeinschaft nach dauerhaften Lösungen sollte daher hohe Priorität haben.
Drei Bausteine für dauerhafte LösungenHier kann die Entwicklungszusammenarbeit mit drei sich gegenseitig ergänzenden Bausteinen einen entscheidenden Beitrag leisten. Erstens muss der politische Wille nationaler Entscheidungsträger, Binnenvertreibung im eigenen Land zu mindern, gestärkt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine entwicklungspolitische Argumentation, die an das Eigeninteresse der Regierungen appelliert, erfolgversprechender als eine – obgleich in vielen Fällen sehr berechtigte – menschenrechtlich begründete Kritik. Zweitens müssen die Institutionen der betroffenen Länder in die Lage versetzt werden, selbstständig dauerhafte Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Der hierfür notwendige Kapazitätsaufbau ist ebenfalls eine Aufgabe für die Entwicklungszusammenarbeit. Und drittens muss die Datenlage verbessert werden. Neben verlässlichen Fallzahlen mangelt es insbesondere an detaillierten sozioökonomischen Daten zu den Lebenssituationen und Bedürfnissen von Binnenvertriebenen, die für deren gezielte Unterstützung unerlässlich sind.
Dem IDMC zufolge zeichnen sich in einigen Ländern positive Entwicklungen ab – so bemüht sich die afghanische Regierung darum, Binnenvertriebenen Zugang zu Land und Grundeigentum zu verschaffen. Äthiopien hat Ende 2019 eine nationale Durable Solutions Initiative zur Koordinierung von Lösungsansätzen ins Leben gerufen, und der nationale Entwicklungsplan Somalias aus dem Jahr 2017 erkennt die Rechte von Binnenvertriebenen an und unterstützt deren lokale Integration. Weitere afrikanische Regierungen haben durch die Ratifikation der Kampala-Konvention zum Schutz und zur Unterstützung von Binnenvertriebenen der Afrikanischen Union ihre Bereitschaft zu mehr Engagement in diesem Bereich signalisiert.
Dies ist ein Anfang, doch weiteres Engagement ist nötig. Auch deshalb, weil die Herausforderungen im Zuge der Corona-Pandemie zunehmen: Zum einen zählen Binnenvertriebene aufgrund beengter Wohnverhältnisse und mangelnder Gesundheitsversorgung zu den besonders stark gefährdeten Gruppen. Zum zweiten drohen die wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen der Pandemie weitere Fluchtbewegungen auszulösen. Und schließlich dürften die im Zuge der Krise durchgesetzten Grenzschließungen weitere Menschen an einer grenzüberschreitenden Flucht hindern und damit das Phänomen Binnenvertreibung verstärken. Deutschland und die EU sollten das Thema daher weit oben auf ihre Agenda setzen und die notwendigen Ressourcen für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen.
Border closures, lockdowns, competition for medical equipment, export bans – at the beginning of the crisis, states in Europe and around the world were primarily concerned with implementing national measures and interests to contain Covid-19. This discernible lack of solidarity and commitment to international cooperation among key actors exacerbates the crisis of multilateralism and increases the uncertainty of global networking. This highlights the need, especially now, to create productive multilateral framework conditions that will be valid beyond the Covid-19 pandemic and permanently transform the global order. Without global governance, there will be no sustainable successes in health policy and beyond.
What makes the Covid-19 crisis so unique?With regard to health crises, especially infectious diseases with global dimensions, a policy is needed that simultaneously overcomes the acute crisis, maintains regular health care services, promotes resilient and needs-based health systems, and creates conditions for cushioning the social and economic damage caused by the crises – in local, national, regional, and global contexts. An inner-European perspective is therefore not sufficient to overcome the Covid-19 crisis. Globally coordinated cross-policy initiatives are needed, and Germany should actively seek to shape these on the international stage (the "Health in all Policies" approach). This will involve short-, medium-, and long-term planning approaches.
Three time horizons for international cooperationIn the short term, the top priority is to successfully slow down and control the pandemic. In this context, German and European policy-makers should make financial, material, and human resources available for countries and regions that are particularly affected. This involves access to health services for all people and a social safety net. Efforts in this direction should be promoted in equal partnerships – and on an equal footing – with international organizations such as the World Health Organization (WHO), regional organizations such as the African Union and the Association of Southeast Asian Nations, as well as with development banks and civil society actors.
In the medium term, the crisis and the systemic competition between the United States and China will increase the level of pressure on the European Union (EU) and Germany to act autonomously in a proactive and strategic way. For the EU, it is a matter of creating new productive, multilateral framework conditions for global health (and beyond), in which central elements of European values are embedded. Specifically, the aim should be to establish an international and independent mechanism for monitoring the functioning of comprehensive health systems. Furthermore, it should be ensured that research and development activities in the field of vaccines and therapeutics are globally coordinated, and that the WHO is strengthened financially and in terms of personnel.
For global health, this means in the long term establishing the promotion of robust, needs-based health systems as a guiding principle, and underpinning them with financial and political resources. Germany, in particular, is called upon here, as it is foreseeable that the country will emerge from this crisis better than others. German global health policy focuses on principles such as social security, sustainable development, and international solidarity, which are comparable with the values of the EU. With its Global Health Strategy, the EU, too, is pursuing the goal of ensuring the human right to health, also by interlinking it with other policy areas. In its latest strategic agenda, as well as in its plans to develop EU connectivity partnerships with Asia, the EU is committed to helping shape the global order and bringing its interests and values onto the international stage. This must now be demonstrated.
Showing foresight and shaping policy internationallyWith a view to short-, medium-, and long-term initiatives, Germany should play a shaping role in several political forums. Until the end of 2020, the Federal Government is a non-permanent member of the United Nations (UN) Security Council. Germany could make public health, the health of the health workforce, and the role of non-state actors in health care provision in conflict areas an issue. At the same time, Covid-19 is having an impact on UN missions and the deployment of troops. Mandates could therefore be extended to include a health component. Moreover, Germany has a seat on the UN Human Rights Council until 2022, and this could be used to promote the right to health. The forthcoming German EU Council Presidency is already being described as a "Corona Presidency" and can lay the foundations for anchoring values such as partnership, sustainability, and social security in strategies and international initiatives beyond this health crisis. The G20 and G7 have been discussing global health issues for several years. Attention must be taken here to make better use of the levers between health, development, and finance policy. All efforts in international forums should take into account the future of the WHO and multilateral partnerships such as the Gavi, the Vaccine Alliance and the Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria. In the long term, synergies need to be exploited and public health systems strengthened.
The time horizon of internationally coordinated measures must not be limited to acute crisis management, but must also include recovery, impact assessment, and prevention in order to establish health policy as a global policy in the long term. The field of global health – in all of its complexity – reveals the possibility of developing concrete global solutions for this crisis and beyond, and these can also help shape the framework conditions of the future global order.
This text was also published on fairobserver.com.
In den Staaten Südasiens trifft die grassierende Coronavirus-Pandemie auf über 1,9 Milliarden Menschen – das sind fast ein Viertel der Weltbevölkerung. Angesichts der Schwäche der nationalen Gesundheitssysteme scheint der Kampf gegen das Virus verloren, bevor er überhaupt begonnen hat. Die wirtschaftlichen Schäden werden Armut und Ungleichheit vergrößern und vermutlich eine Reihe bestehender Konflikte eher zusätzlich verschärfen als abmildern. Innenpolitisch ist zu befürchten, dass autoritäre Tendenzen im Zuge der Krisenbewältigung noch zunehmen. Im regionalen Kontext könnte China seinen Einfluss weiter zulasten Indiens ausbauen.
Grenzschließungen, Lockdown, Konkurrenz um medizinisches Equipment, Exportstopps – Staaten in Europa und weltweit waren zu Beginn der Krise vor allem damit beschäftigt, nationale Maßnahmen und Interessen zur Eindämmung von Covid-19 durchzusetzen. Dieser erkennbare Mangel an Solidarität und der Bereitschaft zur internationalen Kooperation von Schlüsselakteuren verschärft die Krise des Multilateralismus und erhöht die Unsicherheit globaler Vernetzung. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, besonders jetzt produktive, multilaterale Rahmenbedingungen zu schaffen, die über die Covid-19-Pandemie hinaus Gültigkeit haben und die globale Ordnung dauerhaft transformieren. Ohne eine globale Gestaltung wird es keine nachhaltigen Erfolge in der Gesundheitspolitik und darüber hinaus geben.
Was macht die Covid-19-Krise so besonders?Mit Blick auf Gesundheitskrisen, vor allem Infektionskrankheiten mit globaler Ausdehnung, ist eine Politik gefragt, die zeitgleich die akute Krise bewältigt, eine reguläre Gesundheitsversorgung aufrechterhält, widerstandsfähige sowie bedarfsgerechte Gesundheitssysteme befördert und Bedingungen dafür schafft, gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisenschäden abzufedern – dies sowohl in lokalen, nationalen als auch in regionalen wie globalen Kontexten. Zur Bewältigung der Covid-19 Krise reicht ein innereuropäischer Blick daher nicht aus. Es werden global abgestimmte, politikfeldübergreifende Vorstöße benötigt, die Deutschland auf dem internationalen Parkett aktiv mitgestalten sollte (»Health in all Policies«-Ansatz). Dabei geht es um kurz-, mittel- und langfristige Planungsansätze.
Drei Zeithorizonte für internationale ZusammenarbeitKurzfristig liegt die oberste Priorität in der erfolgreichen Verlangsamung und Kontrolle der Pandemie. Die deutsche und europäische Politik sollte in diesem Zusammenhang finanzielle, materielle und personelle Ressourcen für besonders betroffene Länder und Regionen bereitstellen. Dabei geht es um den Zugang zu Gesundheitsleistungen für alle Menschen und ein soziales Sicherungsnetz. Impulse in diese Richtung sollten in Zusammenarbeit – und auf Augenhöhe – mit internationalen Organisationen wie der WHO, regionalen Organisationen wie der Afrikanischen Union oder ASEAN, mit Entwicklungsbanken und zivilgesellschaftlichen Akteuren vorangetrieben werden.
Mittelfristig verstärken die Krise und die systemische Konkurrenz zwischen den USA und China den Druck auf die EU und Deutschland, proaktiv und strategisch autonom zu agieren. Es geht für die EU darum, neue produktive, multilaterale Rahmenbedingungen für globale Gesundheit (und darüber hinaus) zu schaffen, in die zentrale Elemente der europäischen Wertevorstellungen eingebettet sind. Konkret sollte es dabei darum gehen, einen internationalen und unabhängigen Mechanismus zu etablieren, mit dem die Funktionsfähigkeit von Gesundheitssystemen überprüft werden kann. Ferner sollte dafür gesorgt werden, dass die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit bei Impfstoffen und Therapeutika global koordiniert sowie die WHO finanziell und personell gestärkt wird.
Für globale Gesundheit heißt das langfristig, die Förderung widerstandsfähiger, bedarfsgerechter Gesundheitssystemen als Leitbild zu etablieren und mit finanziellen und politischen Ressourcen zu untermauern. Hier ist gerade Deutschland gefordert, da abzusehen ist, dass das Land besser als andere Staaten aus dieser Krise hervorgehen wird. In der deutschen globalen Gesundheitspolitik stehen Prinzipien wie soziale Sicherung, nachhaltige Entwicklung und internationale Solidarität im Vordergrund, die vergleichbar sind mit den Werten der EU. Denn auch die EU verfolgt mit ihrer Strategie für globale Gesundheit das Ziel, das Menschenrecht auf Gesundheit auch mittels der Verflechtung mit anderen Politikfeldern sicherzustellen. Laut ihrer neuesten strategischen Agenda sowie in den Plänen für den Ausbau von EU-Konnektivitätspartnerschaften mit Asien ist sie gewillt, die globale Ordnung mitzugestalten und ihre Interessen und Werte international einzubringen; dies gilt es jetzt unter Beweis zu stellen.
Weitsicht beweisen und international gestaltenMit Blick auf kurz-, mittel- und langfristige Vorstöße sollte Deutschland eine gestaltende Rolle in gleich mehreren politischen Foren einnehmen. Bis Ende 2020 ist die Bundesregierung nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN). Die Gesundheit von Bevölkerungen und des Gesundheitspersonals sowie die Rolle von nicht-staatlichen Akteuren bei der Gesundheitsversorgung in Konfliktgebieten könnte Deutschland zum Thema machen. Gleichzeitig wirkt sich Covid-19 auf VN-Missionen und die Einsatzfähigkeit von Truppen aus. Mandatserweiterungen um eine Gesundheitskomponente wären daher mitzudenken. Zudem hat Deutschland bis 2022 einen Sitz im VN-Menschenrechtsrat, der für die Förderung des Rechts auf Gesundheit genutzt werden kann. Die kommende deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird schon jetzt als »Corona-Präsidentschaft« beschrieben und kann den Grundstein dafür legen, Werte wie Partnerschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und soziale Sicherung über diese Gesundheitskrise hinaus in Strategien und internationalen Initiativen zu verankern. Die G20 und G7 beraten seit mehreren Jahren über globale Gesundheitsfragen. Hier muss darauf geachtet werden, Hebel zwischen Gesundheits-, Entwicklungs- und Finanzpolitik besser zu nutzen. Bei allen Bemühungen in internationalen Foren sollte die Zukunft der WHO und multilateraler Partnerschaften wie die Impfallianz Gavi und der Globale Fonds zur Bekämpfung von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria mitbedacht werden. So werden langfristig Synergien genutzt und öffentliche Gesundheitssysteme gestärkt.
Der Zeithorizont international koordinierter Maßnahmen darf sich nicht nur auf ein akutes Krisenmanagement beschränken, sondern muss die Nachsorge, Folgenabschätzung und Prävention miteinbeziehen, um Gesundheitspolitik als Weltpolitik langfristig zu etablieren. Das Feld der globalen Gesundheit – in all seiner Komplexität – offenbart die Möglichkeit, konkrete globale Lösungen für diese Krise und darüber hinaus zu entwickeln, die gleichsam auch die Rahmenbedingungen der zukünftigen globalen Ordnung mitgestalten können.
Dieser Text ist auch bei Euractiv.de erschienen.
Nach langjährigen Debatten und vertagten Entscheidungen hat das Verteidigungsministerium nun einen Vorschlag unterbreitet, wie die Bundeswehr ihre in die Jahre gekommenen Tornado-Kampflugzeuge ersetzen soll. Was nun vorliegt, ist ein Kompromiss, der operative Anforderungen mit politischen Interessen kombiniert. Doch was bedeutet diese Lösung für die Einsatzfähigkeit der Luftwaffe?
Die Bundeswehr hat den Tornado bereits seit 1981 in ihrem Bestand. Er gehört damit zu den frühen Exemplaren der sogenannten vierten Generation von Kampfflugzeugen. Die Technik der Tornados wurde zwar vielfach modernisiert, ist aber mittlerweile nicht mehr mit den Anforderungen an komplexe Luftoperationen zu vereinbaren. Zudem wurde die Produktion der Tornados bereits 1992 eingestellt, so dass Ersatzteile zunehmend knapper und damit teurer wurden. Spätestens 2030 will die Bundeswehr die 85 Tornados aus dem Dienst nehmen, als Ersatz werden nun 45 Maschinen der amerikanischen F-18-Serie in den Ausführungen Super Hornet und Growler sowie bis zu 93 neue Eurofighter angeschafft.
Entscheidend ist, dass die Nachfolgemodelle in der Lage sein müssen, die Aufgaben der Luftwaffe nahtlos zu erfüllen, die heute durch den Tornado wahrgenommen werden. Dazu gehören das Niederhalten der gegnerischen Luftverteidigung, die Luftaufklärung, konventionelle Luftangriffe sowie der Beitrag zur sogenannten Nuklearen Teilhabe der Nato. Hierbei geht es um die Fähigkeit deutscher Flugzeuge, im Kriegsfall amerikanische Atomwaffen einzusetzen.
Fähigkeitsgewinne für die LuftwaffeInsbesondere das Modell Growler ist ein Gewinn für Bundeswehr und Nato. Es erweitert das Portfolio der Luftwaffe signifikant im Bereich des elektronischen Kampfes, einer Fähigkeit, die in dieser Form bisher nicht vorhanden war: Mit Aktionen im elektromagnetischen Spektrum kann etwa die Steuerungselektronik gegnerischer Systeme zerstört werden, ohne dabei konventionelle Waffen einzusetzen. Durch die Wahl dieser offensiven Mittel, die keinen klassischen Waffeneinsatz mehr erfordern, wird das Risiko von Kollateralschäden minimiert. Überdies beherrscht das Modell Growler nicht nur den elektronischen Kampf, sondern kombiniert diese Fähigkeit in einer technisch ausgereiften Plattform mit der Möglichkeit, gegnerische Luftverteidigung zu bekämpfen. Heutige Konflikte sind aufgrund der verbreiteten modernen Luftverteidigungssysteme nicht mehr ohne diese Schlüsselfähigkeiten zu führen, die für das Einrichten einer Flugverbotszone bis zur komplexen Luftoperation gegen einen gleichwertigen Opponenten benötigt werden. Zudem gibt es in der Nato nur wenige Staaten, die über diese Fähigkeiten verfügen. Im Sinne einer notwendigen Ergänzung ist die getroffene Entscheidung daher bündnispolitisch sinnvoll.
Nukleare Teilhabe gefährdetProblematisch ist hingegen die Entscheidung, die nukleare Teilhabe durch die Super Hornet abzudecken. Zum einen muss die Maschine von den USA zertifiziert werden, bevor sie diese Aufgabe wahrnehmen kann. In einem Zulassungsverfahren wird die amerikanische nukleare Freifallbombe B61-12 durch US-Behörden an das Flugzeug angepasst und die sichere Integration beider Systeme technisch auf Herz und Nieren geprüft – eine Art Atombomber-TÜV. Da der Tornado bis spätestens 2030 aus der Nutzung gehen soll, ist es wichtig, diese Zertifizierung so schnell wie möglich zu erhalten. Auf das Verfahren und den Zeitrahmen hat Deutschland aber keinen Einfluss. Oben auf der Liste der Zertifizierer steht die moderne F-35, die damit zur ersten Wahl der konventionell-nuklearen Kampfflugzeuge (Dual-Use-Aircrafts) wird. Zum anderen stellt sich auch nach erfolgter Zulassung die Frage, ob es im Ernstfall operativ möglich und sinnvoll ist, die Super Hornet als Atomwaffenträger einzusetzen. In einem Konflikt mit einem militärisch hochwertigen Gegner wären modernste Luftverteidigungssysteme zu überwinden. Mit einem Jet wie der Super Hornet ohne Tarnkappen-Eigenschaften – der sogenannten Stealth-Technologie – ist das schwer vorstellbar. Die anderen vier an der »Nuklearen Teilhabe« beteiligten Staaten entschieden sich vor diesem Hintergrund für die F-35.
Ein problematischer SonderwegSowohl der Eurofighter als auch die F-18-Modelle sind zwar modernere Kampfflugzeuge als der Tornado, aber beide nicht auf dem letzten Stand der Technik. In sieben anderen europäischen Nato-Staaten hat stattdessen mit der F-35 ein Jet der fünften Generation Einzug gehalten oder wird es in Kürze tun. Über kurz oder lang wird dieses Flugzeug Taktgeber für die Nato-Luftstreitkräfte sein und Einsatzverfahren sowie Taktik maßgeblich bestimmen. Innerhalb der Nato werden nur noch Bundeswehr und US-Marine die F-18-Modelle der vierten Generation nutzen. Synergieeffekte bei Ausbildung, Wartung und Einsatz sind damit praktisch ausgeschlossen. Ein Sonderweg, der die Gefahr birgt, früher als gedacht wieder buchstäblich zum alten Eisen zu gehören. Warum aber möchte das Verteidigungsministerium diesen Weg einschlagen?
Die Entscheidung gegen die modernere F-35 ist nicht operativ, sondern politisch begründet. Gegen eine Beschaffung spricht vor allem, dass damit das deutsch-französische Kampfflugzeugprojekt Future Combat Air System (FCAS) gefährdet sein könnte, dessen Serienreife für 2040 angestrebt wird. Denn Deutschland wäre mit der F-35 auf eigene technische Weiterentwicklungen nicht mehr in dem Maße angewiesen. Darüber hinaus ist die Vorstellung, viele Milliarden aus Steuermitteln – die F-35 ist deutlich teurer als die F-18-Modelle – an Donald Trumps Amerika zu bezahlen, nicht mehrheitsfähig.
Für die Bundeswehr wäre es trotz der Nachteile der angestrebten Lösung positiv, nach jahrelangen Debatten endlich Klarheit über die Zukunft ihrer Kampfflugzeugflotte zu haben. So könnten notwendige Struktur- und Personalplanungen für die Einführung der Jets jetzt angestoßen werden. Auch würde die Beschaffung einen veritablen Fähigkeitsgewinn für die Luftwaffe bedeuten, der auch für die Nato von Bedeutung ist. Damit wäre der Kompromiss zwischen politischen Erwägungen und operativen Anforderungen zwar nicht die Lösung, die alle Wünsche erfüllt, und ein problematischer Sonderweg. Er ist unter den gegebenen Umständen aber ganz gewiss besser als sein Ruf und sollte nun konsequent verfolgt werden.