Publikationen des German Institute of Development and Sustainability (IDOS)
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Mon, 19/03/2018 - 08:00
Die neue Bundesregierung hat sich mit ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland zu stärken. Die Dringlichkeit der Aufgabe liegt auf der Hand. Wahlergebnisse und die Art der politischen Auseinandersetzung belegen zunehmende Risse im sozialen Gefüge. Doch das Problem besteht weit über Deutschland hinaus. Es erklärt etwa den Aufstieg populistischer Politiker, deren Agenden für Konfrontation und Abschottung stehen: Von Chavez bis Trump, von Putin bis Orban.
Für viele Gesellschaften sind die Folgen der inneren Zerrissenheit noch viel einschneidender: Seit 2016 sahen sich mehr Länder mit gewaltsamen Konflikten konfrontiert denn je seit dem Ende des Kalten Krieges, warnen Vereinte Nationen und Weltbank in einer kürzlich erschienenen gemeinsamen Studie. Die Verbindung Deutschlands mit dieser Entwicklung steht seit 2015 allen vor Augen. Ohne die Implosion der alten Ordnung im Nahen Osten und Nordafrika wäre es nicht zu jener humanitären Katastrophe gekommen, die dann schließlich auch Europa erreichte.
Was also ist zu tun? Der Bericht von UN und Weltbank macht deutlich: Wer nachhaltigen Frieden erreichen will, muss Ausgrenzung überwinden, benachteiligten Gruppen gleiche Chancen zur politischen Teilhabe eröffnen und neue Wege bei der Überwindung von Armut und der Schaffung von Wohlstand gehen. Mehr Wachstum alleine schafft keinen Frieden, mehr Arbeitsplätze sind keine Garantie, dass sich gesellschaftliche Spaltung nicht vertieft. Es ist immerhin die Weltbank, die argumentiert, dass im Zweifel auch Umverteilung erforderlich sein kann, um den sich vertiefenden sozialen Gräben entgegenzuwirken.
Unter der Überschrift der „Reduzierung von Fluchtursachen“ hat auch die Bundesregierung seit 2015 viel investiert. Mehrere Milliarden Euro wurden jährlich aufgewendet, um humanitäre Hilfe für Flüchtlinge in Erstaufnahmeländern zu leisten, um Krisenländer und ihre Nachbarschaft wirtschaftlich und mit Infrastrukturmaßnahmen zu stabilisieren – und um damit, so die Hoffnung, die Zahl der Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, zu begrenzen.
Vieles davon ist fraglos sinnvoll und aus humanitärer Sicht geboten. Anderes hat Kritik auf sich gezogen, weil etwa Menschenrechtsorganisationen eher Abschottung als nachhaltige Hilfe am Werk sahen. Vor allem aber ist es nicht gelungen, endlich in gleichem Maße in die tatsächliche Vorbeugung von Krisen und die Schaffung nachhaltiger Friedensordnung zu investieren wie in die Krisenbewältigung. Die gemeinsame UN-Weltbank-Studie hat erneut dargelegt, dass Vorbeugung um ein Vielfaches weniger kostet als alleine die Bewältigung der wirtschaftlichen Schäden gewaltsamer Konflikte und humanitärer Katastrophen, von den menschlichen Folgen ganz abgesehen.
Wer sich der Minderung von Fluchtursachen widmen will, muss sich damit auseinandersetzen, warum Menschen sich gezwungen sehen, in großer Zahl gegen ihren Willen ihre Heimat zu verlassen. In aller Regel steht dahinter ein Staat, der mehr oder weniger große Teile seiner Bevölkerung aufgegeben hat. Untersuchungen des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), die seit dieser Woche unter dem Titel „Constellations of State Fragility“ online abrufbar sind, zeigen, wo und in welchem Maße Staaten weltweit seit Mitte der 2000er Jahre Kernaufgaben gegenüber ihren Bevölkerungen vernachlässigt und damit Risiken für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geschaffen haben. Anhand der Daten lässt sich unter anderem nachvollziehen, dass Staaten, die auf Repression statt Legitimierung gegenüber ihrer Bevölkerung setzen, mit zunehmender Dauer zu tickenden Zeitbomben werden können. Besonders der Nahe Osten und Nordafrika stechen hier hervor. Die Region verzeichnete vor 2011 die größte Ansammlung an Staaten mit Legitimitätsdefiziten. Die tragischen Folgen sind bekannt.
Zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt und damit zur Verhütung gewaltsamer Konflikte auch in anderen Ländern beizutragen, ist also für jede Bundesregierung ebenso ein Gebot der Vernunft wie der Menschlichkeit. Die letzte Große Koalition hat sich dazu noch im Sommer 2017 mit einem Grundsatzdokument zur Friedensförderung in bemerkenswerter Deutlichkeit bekannt. „In einer eng vernetzten Welt spüren wir Auswirkungen von staatlicher Fragilität, von Krisen und Gewalt auch in Deutschland“, schrieb die Bundeskanzlerin in ihrem Vorwort. Nun kommt es darauf an, von einer Fokussierung auf die Krisenbewältigung überzugehen zu einer Politik, die sich für die Überwindung von politischer und wirtschaftlicher Ausgrenzung weltweit, vor allem aber in fragilen Staaten, einsetzt.
Eine solche Politik macht im Übrigen nicht halt an den klassischen Grenzen der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Sie betrifft ebenso Handels-, Finanz- und Umweltpolitik sowie weitere Politikbereiche. Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen weist dazu den Weg. Die neue Bundesregierung hat mehr Gründe denn je, die Verpflichtungen, die sie 2015 gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft eingegangen ist, ernst zu nehmen. Letztlich wird dies auch dem sozialen Zusammenhalt in Deutschland dienen.
Um eine genauere Analyse fragiler Staatlichkeit zu ermöglichen, hat das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) ein neues Daten-Tool entwickelt: Constellations of State Fragility unterscheidet sechs Typen fragiler Staatlichkeit anhand von zehn Indikatoren in drei Dimensionen, die für 171 Länder weltweit ermittelt wurden.
Mon, 12/03/2018 - 09:00
Bonn, 12.03.2018. Am 4. Februar dieses Jahres fanden in Costa Rica Wahlen statt, die die Parteiendemokratie des zentralamerikanischen Landes erschüttert haben. Ein charismatischer Fernsehprediger erzielte vor allem mit homophoben Thesen einen Erdrutschsieg und kommt überraschend in die für den 1. April vorgesehene Stichwahl um die Präsidentschaft. Hier spiegelt sich ein verbreiteter Trend in Lateinamerika wider: der rapide Aufstieg konservativer evangelikaler Gruppen in Gesellschaft und Politik.
Das Ende des Zweiparteiensystems in Costa Rica
Seit 70 Jahren verlaufen Regierungswechsel in Costa Rica durchweg friedlich auf Basis einer funktionsfähigen Parteiendemokratie. Von 1970 bis 2014 wurden sieben Präsidenten von dem sozialdemokratischen Partido Liberación Nacional (PLN) und fünf von dem konservativen Partido Unidad Social Cristiana (PUSC) gestellt. 2014 setzte sich erstmals der Kandidat einer anderen Partei durch, des linksliberalen Partido Acción Ciudadana (PAC). Das überkommene Zweiparteiensystem war zu Ende. Die Wahl im Februar 2018 führte zu Ergebnissen, die kurz zuvor nicht voraussehbar waren. Die evangelikale Bewegung des Partido Renovación Nacional (PREN) kam noch im November 2017 auf Zustimmungswerte von unter 5 Prozent und erhielt am 4. Februar fast 25 Prozent der Stimmen. Der PAC Kandidat erzielte knapp unter 22 Prozent.
Im Hintergrund hatte sich schon länger Unmut bei traditionellen Bevölkerungsteilen aufgebaut. Dieser kristallisierte sich insbesondere zu Themen heraus, die die Evangelikalen in weiten Teilen Lateinamerikas seit Jahren instrumentalisieren: Gleichstellungspolitik (als „Genderideologie“ verunglimpft), eine pluralistische Sexualerziehung, und vor allem die gleichgeschlechtliche Ehe. Am 9. Januar verpflichtete ein Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof IDH seine Mitgliedsstaaten dazu, gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Ehen zu garantieren. Die costa-ricanische Verfassung verpflichtet die Regierung zur Umsetzung von Urteilen des IDH. Der Kandidat des PREN kündigte dennoch an, das Urteil im Falle eines Wahlsiegs zu missachten. Dies führte innerhalb von nur vier Wochen zu seinem kometenhaften Aufstieg, der zu einer Zustimmung von fast 25 Prozent bei den Februarwahlen führte.
Der Aufstieg rechtskonservativer evangelikaler Bewegungen in Lateinamerika
Im überwiegend katholischen Lateinamerika verzeichnen evangelikale, vor allem pfingstkirchliche Bewegungen in den letzten drei bis vier Jahrzehnten Zulauf. Während sich 1970 noch etwa 92 Prozent der Menschen dem katholischen Glauben zuordneten, waren es 2014 nur noch 69 Prozent. In einigen Ländern rechnen sich große Teile der Bevölkerung heute dem protestantischen Glauben zu, so wie in Guatemala 40 Prozent, in Honduras 36 Prozent, in Nicaragua 26 Prozent und in Costa Rica zwischen 15 Prozent und 25 Prozent.
Während diese Bewegungen lange Zeit eher unauffällig agierten, greifen sie zunehmend nach politischem Einfluss und Macht. So wurde 2015 ein evangelikaler Fernsehkomiker Präsident von Guatemala. Seit 2016 ist ein protestantischer Priester Bürgermeister von Rio de Janeiro. In Kolumbien hat die pfingstkirchliche Bewegung massiv gegen den Friedensvertrag zwischen der Regierung und der Rebellenorganisation FARC gearbeitet und maßgeblich zu seiner Ablehnung in der ersten Abstimmung im Oktober 2016 beigetragen.
Der Aufstieg evangelikaler Gruppen begann in Guatemala bereits in den 1930ern und erfolgte in verschiedenen Ländern unterschiedlich rasch. Ihre Missionsarbeit zielt vor allem auf die besonders armen Bevölkerungsschichten, teilweise auf indigene Gruppen und Nachkommen versklavter Afrikaner, zum Beispiel an der zentralamerikanischen Karibikküste. Früh wurden diese Zielgruppen durch den Einsatz von Massenkommunikationsmitteln wie Radio und Fernsehen („Televangelistas“) erreicht, heute durch professionelle Netzwerke multimedialer Diffusionskanäle (RedeRecord, UnoRed). So wurden die zunächst verstreut lebenden Zielgruppen früh erreicht. Durch die Landflucht der letzten Jahrzehnte siedeln diese heute vor allem in Marginalvierteln der Großstädte, wo evangelikale Kirchen oft das einzig sichere Stück öffentlichen Raumes darstellen.
Die „drive-through“-Gebiete Costa Ricas
Was in den USA das „flyover country“ ist, das sind in Costa Rica die „drive through“-Gebiete, Regionen an beiden Küsten, die die Stadtbevölkerung nur bei Wochenend- und Urlaubsfahrten zu den Stränden erlebt. Die dort lebende Bevölkerung ist von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen und von der wirtschaftlichen Dynamik im zentralen Hochland abgekoppelt. Evangelikale Kirchen sind oft erste Anlaufstellen bei Naturkatastrophen und persönlichen Notlagen. Daher ist ihr Zulauf hier besonders stark. Ihr politischer Arm PREN erhielt bei den Februarwahlen in der Pazifikprovinz 35 Prozent und an der Karibikküste 42 Prozent der Stimmen. Da sich die hier lebende Bevölkerung seit Jahrzehnten vernachlässigt fühlt, ist unwahrscheinlich, dass sie sich bei der Stichwahl am 1. April grundlegend anders entscheiden wird. Deren Ausgang ist Mittel März absolut offen.
In diesem Jahr stehen noch Wahlen in Brasilien, Kolumbien, Mexiko, Venezuela und Paraguay an. Auch in diesen Ländern spielen die Evangelikalen eine zunehmende Rolle.
Diese Publikation ist am 13.03.2018 auch bei Euractiv.de erschienen.
Mon, 05/03/2018 - 10:17
Bonn, 05.03.2018. Bisherige Bemühungen zur Gleichstellung der Geschlechter haben viel dazu beigetragen, Aufmerksamkeit zu schaffen und Veränderungen zu fördern, doch es liegt noch ein langer Weg vor uns. Frauen sind nun erwerbstätig, aber die #MeToo-Kampagne hat gezeigt, dass der Arbeitsplatz ein Nährboden für Ungleichheit und Gewalt gegen Frauen sein kann. Der diesjährige Internationale Frauentag am 8. März hat das Motto „Press for Progress“. Es ist teilweise inspiriert vom Global Gender Gap Report 2017 des World Economic Forum (WEF), der darauf verweist, dass wir unter gegenwärtigen Bedingungen erst in 217 Jahren Geschlechterparität bei Einkommen erreichen werden. Der Internationale Frauentag setzt sich dafür ein, „in Geschlechterparität zu denken“. Aber was ist Geschlechterparität? Welche Rolle spielt sie bei der Förderung der Geschlechtergleichstellung?
Geschlechterparität ist ein statistisches Maß, das mit einem numerischen Wert das Verhältnis zwischen Frauen und Männern oder Mädchen und Jungen für Indikatoren wie Einkommen oder Bildung angibt. Wenn in einem Land die gleiche Anzahl von Mädchen und Jungen die Grundschule abgeschlossen hat, beträgt die Geschlechterparität bei diesem Indikator eins. Je größer der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen ist, desto niedriger ist der Geschlechterparitätswert. Geschlechterparität ist ein nützliches Instrument, um die Ungleichheit der Geschlechter in bestimmten Bereichen zu bewerten, Ziele zu setzen und Veränderungen und Fortschritte zu messen.
Geschlechterparität bedeutet jedoch nicht Gleichstellung der Geschlechter, und diese Unterscheidung ist wichtig, um Mittel nicht mit Zielen zu verwechseln. Einer der Teilindizes im WEF-Bericht betrifft die wirtschaftliche Partizipation in 144 Ländern. Dazu gehört bezahlte Arbeit, formelle und informelle. Zwangsläufig schließt der Teilindex unbezahlte Arbeit von Frauen aus, die gewöhnlich wirtschaftliche Aktivitäten in ländlichen Gebieten unterstützt. Unbezahlte Arbeit ist jedoch ein wichtiger wirtschaftlicher Beitrag, auch wenn sie nicht explizit monetär vergütet wird. Zudem hat sie Auswirkungen auf das Ausmaß, in dem Frauen an wirtschaftlichen Aktivitäten teilnehmen können. Sind sie hauptsächlich für unbezahlte Arbeit verantwortlich, bleibt ihnen weniger Zeit und Energie für wirtschaftliche Aktivitäten als ihren männlichen Gegenübern.
Geschlechtergleichstellung zu erreichen, bedeutet, einen tatsächlichen Wandel in der Lebenswirklichkeit von Frauen zu bewirken, insbesondere in Arbeitskontexten. Dies beinhaltet wesentliche Veränderungen nicht nur des Anteils von Männern und Frauen in Bezug auf bestimmte Indikatoren, sondern auch tiefgreifender gesellschaftlicher Normen und Identitätsgefühle – unabhängig vom Geschlecht geschätzt und respektiert zu werden. Um die Gleichstellung der Geschlechter zu verwirklichen, müssen die Bemühungen über das Erreichen von Statistikwerten hinausgehen. In großen Teilen der Welt sind noch Fortschritte nötig beim Zugang von Frauen zu grundlegenden Menschenrechten wie Bildung, sicheren Arbeitsplätzen und Eigentum. Hier sind unterstützende Politiken der Regierungen gefragt; aber es muss auch dafür gesorgt werden, dass geschlechtssensible Politiken umgesetzt werden und effektiv dazu beitragen, die Lebenswirklichkeit von Frauen positiv zu verändern. Im Südwesten Äthiopiens beispielsweise ist die Praxis, Land an Söhne zu vererben, tief verwurzelt – trotz einer Regierungspolitik, die das Recht der Frauen auf Land formell anerkennt. In vielen Fällen besitzen Frauen nach einer Scheidung oder dem Tod des Ehemannes ein Stück Land, nur um später von männlichen Verwandten enteignet zu werden. Dies geschieht trotz der gesetzlichen Anerkennung der Frauenrechte. Es braucht mehr als eine politische Maßnahme, um die Gleichstellung der Geschlechter zu verwirklichen.
„Ich glaube, dass ermächtigte Frauen die Gesellschaft verändern. Die Daten sagen es uns“, schreibt Melinda Gates im Jahresbrief 2018 der Bill & Melinda Gates Foundation. Dann fragt sie: „Warum bekommen berufstätige Frauen in nordischen Ländern so viel Unterstützung?“ Dies betont die Situation in anderen Teilen der Welt, wo Frauen trotz geltender Gesetze nicht die nötige Unterstützung erhalten. Im äthiopischen Beispiel sieht das Gesetz vor, dass die Namen der Ehefrauen in die Registrierung von Land aufgenommen werden müssen – ein lobenswerter Schritt in die richtige Richtung. Wie wirksam Gesetze sind, hängt jedoch von tief verwurzelten Denk- und Handlungsstrukturen ab, die die täglich gelebte Realität der Menschen bestimmen. Die Gleichstellung der Geschlechter hat mehrere Komplexitätsebenen und wir kratzen gerade erst an der Oberfläche. Was bedeutet diese Komplexität für politische Entscheidungsträger, Forscher, Entwicklungspraktiker, Sozialarbeiter und alle, die daran interessiert sind, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern? Indikatoren für Geschlechterparität sind nützlich, um Problembereiche zu ermitteln, die Aufmerksamkeit erfordern. Aber wenn es um echten Wandel geht, ist es wichtig, über die Zahlen hinauszuschauen und, mit den Worten des UN-Generalsekretärs António Guterres, die „Tatsachen vor Ort“ zu betrachten.
Mon, 26/02/2018 - 08:00
Bonn, 26.02.2018. Zum siebten Geburtstag des „Arabischen Frühlings“ sind die Hoffnungen auf mehr soziale Gerechtigkeit, Mitbestimmung und Transparenz in der Politik und bessere öffentliche Dienstleistungen in Nordafrika noch nicht erfüllt. Doch Deutschland und die EU dürfen die Region nicht aufgeben. Denn was im Jahr 2011 dort begonnen hat, ist mit Europas eigener demokratischer Transformation vergleichbar, die mehrere Generationen gedauert hat bis sie nach 1945 endlich verankert wurde. Und es kommen auch positive Meldungen aus Nordafrika: In Tunesien prägt die Zivilgesellschaft aktiv den Wandel hin zu mehr Gerechtigkeit, Transparenz und Beteiligung. In Marokko bietet die Dezentralisierungsreform trotz schleppender Umsetzung Perspektiven für eine bürgerorientierte Politik. Beide Länder haben neue, demokratischere Verfassungen. Und in beiden Ländern hat sich seit 2011 eine neue Protestkultur entwickelt und sorgt durchaus für eine neue Qualität öffentlicher Debatten. Auch in Libyen und Ägypten versuchen mutige Menschen, den Regimen eine verantwortungsvollere Politik abzuringe
Was können Deutschland und die EU bewirken, um den Wandel in der arabischen Welt konstruktiv zu unterstützen? Zunächst sah es 2011 so aus, als würden statt autoritären Herrschern nun Demokratiebewegungen unterstützt. Doch aktuell scheinen Flüchtlingsdeals, Terrorbekämpfung und die vom Internationalen Währungsfonds erzwungene Sparpolitik wieder wichtiger zu sein als langfristige Entwicklung. Vertrauen in einen demokratischen Prozess kann so nicht gestärkt werden. Sieben Jahre nach dem Beginn der Aufstände gegen autoritäre Regime – und gegen die sie unterstützende Politik des Westens – sollten Deutschland und die EU ihre Strategie in Nordafrika überdenken. Drei Maßnahmen könnten helfen:
Erstens sollte Nordafrika nicht auf seine Rolle im Umgang mit Migration reduziert werden, auch wenn es hierfür eine wichtige Bedeutung hat. Ebenso lassen sich Entwicklungsprobleme nicht auf „Fluchtursachen“ reduzieren – eine sichere Wasserversorgung, bessere Bildung und Gesundheit verbessern die Entwicklungschancen auch dann, wenn sie nicht unmittelbar Migration entgegenwirken. Deshalb kann Flüchtlings- und Migrationspolitik auch Projekte der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) einschließen. Keinesfalls sollte letztere jedoch auf die „Fluchtursachen“ beschränkt werden. Letztlich wird auch die beste EZ Flucht und Migration nie umfassend verhindern und kann deshalb nur glaubwürdig bleiben, wenn sie ihre Daseinsberechtigung jenseits dieses stark politisierten Themas bewahrt. Zudem prägt die Politik auch unser Bild von den Menschen aus der Region, die nicht auf potentielle Migranten reduziert werden dürfen. Die EU und Deutschland sollten den häufig rücksichtslosen Umgang lokaler Sicherheitskräfte mit Migranten und Flüchtlingen stärker kritisieren: Polizeiliche Übergriffe und das Verschleppen von Migranten von Europa an den Rand der Wüste Marokkos und Algeriens dürfen nicht toleriert werden.
Zweitens sollte die deutsche und europäische Nordafrikapolitik den Wandel innerhalb des afrikanischen Kontinents anerkennen. Die Länder im Norden des Kontinents bleiben kulturell, sprachlich und religiös eng mit der arabischen Welt verbunden, wenden sich in den vergangenen Jahren jedoch immer stärker dem südlichen Afrika zu. So stärkt die Rückkehr Marokkos in die Afrikanische Union (AU) den wirtschaftlichen und politischen Einfluss des Landes auf dem Kontinent. Auch die Zivilgesellschaft orientiert sich zunehmend an Erfahrungen von NGOs in Subsahara-Afrika, etwa bei der Korruptionsbekämpfung. Deshalb sollten Deutschland und die EU viel stärker auch die Süd-Süd-Kooperation fördern, zum Beispiel über eine engere Verzahnung von EU -Assoziierungsabkommen mit nordafrikanischen Ländern und der EU-Partnerschaft mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks.
Drittens sollte die Nordafrikapolitik bei dem Ruf nach mehr Investitionen der Privatwirtschaft – wie etwa im Marschall-Plan mit Afrika – nicht vergessen, dass nur verzahnte fundamentale politische und ökonomische Reformen Entwicklungsperspektiven schaffen können. Jeder wirtschaftliche Gewinn, der an etablierte Eliten fließt und nicht der breiten Bevölkerung zugutekommt, wird das politische System langfristig destabilisieren und nicht zur “Fluchtursachenbekämpfung“ beitragen. Stattdessen sollten die Prinzipien demokratischer Regierungsführung – etwa politische Teilhabe, Transparenz und Rechenschaftspflicht –stärker in die Konditionierung von EZ-Mitteln einfließen. Maßnahmen wie ein besserer Zugang zum europäischen Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen von nordafrikanischen Ländern sind weiterhin dringend notwendig.
Chancen, diese Punkte voran zu bringen, gibt es reichlich im Kontext des „Marshall-Plans mit Afrika“, bei den Bestrebungen von Frankreichs Präsident Macron für eine neue Afrikapolitik Europas und wenn Deutschland 2020 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Nicht zuletzt ist Deutschlands Ansehen in der Region aufgrund seiner Unterstützung von Flüchtlingen aus der Region und der langjährigen Entwicklungszusammenarbeit positiv. Deutschland hat jetzt die Chance, ein „Player“ in Nordafrika zu sein. Denn zu den nächsten Geburtstagen von Nordafrikas Aufständen braucht die Bevölkerung mehr als „viel Glück“.
Diese Aktuelle Kolumne wurde auf euractiv zweitveröffentlicht.
Mon, 19/02/2018 - 08:00
Bonn, 19.02.2018. Auch in Zeiten größter politischer Verunsicherung und einer sich quälend lange hinziehenden Regierungsbildung bleibt eine Sache klar: Das Bekenntnis der (Vielleicht-)Koalitionäre von SPD und den Unionsparteien zur Fluchtursachenbekämpfung. Wie es im vorletzte Woche ausgehandelten Koalitionsvertrag heißt, sollen durch die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit vor allem in Afrika „Zukunftsperspektiven vor Ort“ geschafften werden. Damit sind in erster Linie Arbeitsplätze gemeint, die die Menschen davon abhalten sollen, die gefährliche Reise durch die Sahara und über das Mittelmeer in Richtung Europa überhaupt anzutreten. Diese Zielvorgabe der sich abzeichnenden neuen Bundesregierung zeigt aber einmal mehr, dass das Thema „Fluchtursachen“ nicht mit der notwendigen Komplexität angegangen wird.
In der öffentlichen und politischen Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht und Migration erfreuen sich mono-kausale Erklärungsmuster größter Beliebtheit. Zwar gibt es eine Hauptursache für Flucht im eigentlichen völkerrechtlichen Sinne: Die stetige Zunahme der weltweiten Flüchtlingszahlen – derzeit gelten etwa 65 Millionen Menschen als Flüchtlinge und Binnenvertriebene – hat vor allem mit bewaffneten Konflikten zu tun. Die Intensität bewaffneter Konflikte hat in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen. Dies liegt nicht nur am Krieg in Syrien, sondern auch an anderen Konflikten wie dem im Südsudan oder in der Demokratischen Republik Kongo.
Die Fluchtursachen-Debatte dreht sich allerdings bei weitem nicht nur um Kriegsflüchtlinge, sondern umfasst auch die aus europäischer Sicht „irreguläre“ Migration zwischen Afrika und Europa. Ein Großteil der Migranten stammt hier nicht aus von Kriegen betroffenen Ländern; ihre Migration kann als Reaktion auf vielfältige – und sich wechselseitig verstärkende – Bedingungen gesehen werden. Wie der in diesem Fall sehr zutreffende englische Begriff „mixed migration“ schon andeutet, vermischen sich hierbei Fluchtgründe wie Konflikte, Repression, schwache staatliche Institutionen oder Terror mit klassischen Migrationsmotiven wie der Suche nach besseren wirtschaftlichen Perspektiven.
Die Beliebtheit einfacher bzw. eindimensionaler Erklärungen für komplexe Migrationsgründe zeigte sich auch Ende letzten Jahres als das Wissenschaftsjournal „Science“ eine Studie veröffentlichte, die einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen der globalen Erwärmung und den Asylzahlen in Europa belegt. Während die Wissenschaft in weiten Teilen entsetzt auf diese starke Vereinfachung des Zusammenhangs zwischen Klimawandel und (Flucht-)Migration reagierte, berichteten zahlreiche Medien unkritisch und übernahmen eins zu eins durchaus fragwürdige Prognosen über zukünftige Flüchtlingszahlen in Europa.
Wie der Koalitionsvertrag zeigt, gibt es aber noch ein anderes, sehr beliebtes Erklärungsmuster für Migration, welches ebenso wie die Science-Studie komplexe Zusammenhänge zugunsten einer einfachen Ursache-Folgen-Logik unterschlägt: Armut. In der Migrationsforschung weiß man schon lange, dass Armut vielmehr Migration verhindert, als dass sie diese bedingen würde. Die ärmsten Länder der Welt wie etwa Niger, der Tschad oder Burkina Faso haben kaum internationale Migranten. Erst wenn Löhne und Beschäftigung ansteigen, steigen auch die Auswanderungsraten. Wenn sich die wirtschaftliche Lage in den verschiedenen afrikanischen Ländern in den nächsten Jahren (weiter) verbessern sollte, so hieße das zwar nicht, dass sich noch viel mehr Menschen auf den gefährlichen Weg Richtung Europa machen würden. Es hieße aber durchaus, dass der Wunsch vieler Menschen, auf sicheren und regulären Wegen international zu migrieren größer werden könnte. Die Logik, wonach man mit der Förderung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, Migration unterbinden könne, geht in dieser Form nicht auf, sondern könnte sich vielmehr ins Gegenteil verkehren.
Daher müssen wir in der Auseinandersetzung mit weltweiter Flucht und Migration sowohl einfache Erklärungsmuster als auch vermeintlich naheliegende politische Lösungen überdenken. So kann die Verzweiflungsmigration tausender junger Menschen aus Afrika in Richtung Mittelmeer und Europa nicht wahlweise „nur“ mit europäischen Rüstungsexporten, dem westlichen Lebensstil, Korruption, dem Versagen lokaler Eliten, unfairen Welthandelsstrukturen oder Umweltwandel erklärt werden. Wir müssen vielmehr anerkennen, dass all diese – und viele weitere – Faktoren diese Migration verursachen. Wir müssen mehr Komplexität wagen. Dabei könnte uns ausgerechnet die Große Koalition helfen. Denn sie möchte auch eine Kommission „Fluchtursachen“ im Bundestag einrichten, um diesem Themenkomplex tiefer auf den Grund zu gehen. Das sollten wir durchaus als Chance begreifen.
Mon, 12/02/2018 - 08:00
Bonn, 12.02.2018. Das erste erfolgreich durchgesetzte Projekt des seit einem Jahr im Amt stehenden US-Präsidenten Donald Trump ist gleich eines, das weltweite Auswirkungen haben wird. Es ist die größte US-amerikanische Steuerreform seit 1986. Sie wird vor allem für ihre inländischen Verteilungswirkungen kritisiert, weil sie große Entlastungen für besserverdienende Haushalte und Unternehmen, aber mittelfristig wenige bis keine Entlastungen für Geringverdiener und die Mittelschicht bringt. Gleichzeitig hat die Reform aber auch globale Auswirkungen. Finanziert werden soll sie nämlich größtenteils über die Rückführung von Auslandsvermögen, für welche die Reform die entsprechenden Anreize setzt.
Der sogenannten „Tax Cuts and Jobs Act“ verringert erstens die US-amerikanische Unternehmenssteuer von 35 Prozent auf 21 Prozent der erzielten Gewinne. Damit wird dieser Steuersatz, der zuvor im internationalen Vergleich zu den höchsten zählte, auf einen Schlag unter den weltweiten Durchschnitt von etwa 23 Prozent gesenkt.
Zweitens wechseln die USA vom Welteinkommensprinzip mit Anrechnungsmethode zu einem Territorialprinzip. Das bedeutet, dass die Auslandsgewinne amerikanischer Unternehmen in Zukunft nicht mehr mit dem amerikanischen, sondern nur noch mit dem ausländischen Steuersatz besteuert werden, auch wenn dieser niedriger ist (eine Minimalbesteuerung soll allerdings extremem Missbrauch vorbeugen).
Drittens werden als Ausnahmeregelung alle bisher geparkten ausländischen Gewinne mit einem besonders niedrigen Satz von 15,5 bzw. 8 Prozent besteuert. Schätzungen sprechen von über 2,5 Billionen US-Dollar, die bisher im Ausland geparkt wurden, jetzt aber wenigstens teilweise in die USA zurückfließen werden. Firmen wie Apple haben solche Rückflüsse bereits angekündigt.
Dies hat vielfältige Auswirkungen auf alle anderen Länder. Die USA sind mit einem Stock von insgesamt ca. 6 Billionen US-Dollar die mit Abstand größten Eigner von ausländischem Direktkapital in der Welt, auch in vielen Entwicklungsländern. Was also haben diese von der Steuerreform zu erwarten?
Wir sehen vor allem drei Effekte. Erstens könnten Entwicklungsländer vom erhofften Wachstumsschub profitieren. Gerade hat der IWF seine Vorhersagen zum Wachstum der US-amerikanischen wie auch der globalen Wirtschaft im Jahr 2018 nach oben korrigiert – ausdrücklich unter Bezug auf die Steuerreform. Viele Experten befürchten allerdings, dass sich der Wachstumsimpuls als relativ kurzfristig erweisen könnte, weil mehrere Aspekte der Reform dämpfend auf die heimische Nachfrage wirken. Dies sind steigende Haushaltsdefizite (die Rede ist von zusätzlich 0,5 bis 1,5 Billionen US-Dollar über die kommenden zehn Jahre), der mittelfristig regressive Verteilungscharakter der Reform sowie Kostensteigerungen einer zunehmend nationalisierten US-Wirtschaft.
Zweitens wird sich mit der Steuerreform zwar das Investitionsverhalten vieler großer Unternehmen ändern. Hiervon sind aber die anderen Industrienationen sowie Niedrigsteuerländer wie Irland und Luxemburg stärker betroffen als die meisten Entwicklungsländer. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass es in einigen Ländern mit engen Verbindungen zur US-Wirtschaft in der verarbeitenden Industrie zu niedrigeren Zuwächsen oder sogar Abflüssen bei den Direktinvestitionen kommt.
Drittens muss sich die Welt nun auf eine neue Runde im globalen Steuerwettbewerb einstellen. Ein race to the bottom bei den Unternehmenssteuern wäre für viele Entwicklungsländer keine gute Nachricht, sind sie doch oft besonders abhängig von diesen Steuern – wobei der Löwenanteil zudem häufig von einer kleinen Zahl multinationaler Konzerne getragen wird. Andererseits dürfte es auch heute schon kaum Investitionen im verarbeitenden Gewerbe in Entwicklungsländern geben, die nicht über mehrere Jahre steuerbefreit sind. In anderen, kapitalintensiven Sektoren (wie zum Beispiel Naturressourcen, Energie, Telekommunikation etc.) spielt der Steuerwettbewerb zwischen Ländern hingegen eine weniger große Rolle.
Wichtiger für Entwicklungsländer dürfte daher die Frage sein, wie sich die US-Regierung im Hinblick auf internationale Steuervermeidung und -hinterziehung aufstellen wird, unter der diese Länder besonders leiden. Trumps Reform richtet sich zwar gegen einige Praktiken der Steuervermeidung in den USA, aber das unilaterale Vorgehen der US-Regierung lässt befürchten, dass international abgestimmte Vorgehensweisen – etwa beim Austausch steuerlich relevanter Informationen – auch künftig keinen hohen Stellenwert haben werden.
Zusammengefasst: Für die Entwicklungsländer mag der zusätzliche Wachstumsimpuls der US-Steuerreform kurzfristig eine gute Nachricht bedeuten. Mittelfristig werden die weltwirtschaftlichen Risiken vermutlich eher steigen. Die Umlenkung der globalen Finanzströme und der drohende Eintritt in eine neue Runde des internationalen Steuerwettbewerbs wird die meisten Entwicklungsländer kaum direkt betreffen – dort wo es solche Effekte gibt, werden sie aber negativer Natur sein.
Mon, 05/02/2018 - 09:00
Bonn, 05.02.2018. Dieses Jahr wird die Blockchain-Technologie zehn Jahre alt. Im November 2008 schrieb ein bis heute unbekannter Autor unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto das Whitepaper „Bitcoin: Ein elektronisches Peer-to-Peer-Bezahlsystem“, in dem die Grundlagen der Blockchain- Technologie dargestellt werden. „Bitcoin“ erwies sich mit seiner praktischen Implementierung im Jahr 2009 als erste funktionierende digitale Währung, die ohne eine zentrale Instanz auskommt. Die Währung funktioniert, weil die Blockchain-Technologie ein sehr sicheres digitales Archivieren jeder Überweisung ermöglicht. Dadurch wird Betrug wie das mehrfache Ausgeben desselben Bitcoins effektiv verhindert. Auf den Pionier Bitcoin folgten in den kommenden Jahren zahlreiche weitere Kryptowährungen und andere blockchainbasierte Netzwerke, die die Technologie weiterentwickelten.
Ein Peer-to-Peer-Bezahlsystem, indem die Nutzer direkt miteinander interagieren, ohne dass eine zentrale Instanz eine Vermittlerfunktion einnimmt, ist nicht nur ein Durchbruch auf technischer Ebene. Es kann auch den Zugang zum Finanzsystem für einkommensschwache Menschen erleichtern. Dies ist besonders vor dem Hintergrund relevant, dass mangelnder Zugang zu Finanzdienstleistungen ein bedeutendes Entwicklungshemmnis ist. So zielen einige Indikatoren der Sustainable Development Goals (SDGs) auf größere Teilhabe an Finanzdienstleistungen ab. Während Menschen mit niedrigem Einkommen der Zugang zu einer Bank oft verwehrt bleibt, kann prinzipiell jeder, der Zugang zu einem Internetanschluss hat, Kryptowährung kaufen und damit Transaktionen tätigen. Bevor Menschen mit einem eingeschränkten Zugang zum Finanzsystem Kryptowährungen als Zahlungsmittel nutzen können, muss allerdings deren Akzeptanz noch deutlich steigen. Zudem muss die Nutzerfreundlichkeit von Krypto-Banking Programmen noch verbessert werden, damit auch Laien diese sicher bedienen können.
Eine Finanzdienstleistung, die für Migrantinnen und Migranten sowie für ihre Familien von entscheidender Bedeutung ist, sind internationale Rücküberweisungen. Global gesehen ist die Summe der Rücküberweisungen in Entwicklungsländer ca. drei Mal so groß wie die Summe der öffentlichen Entwicklungsausgaben. Der großen Bedeutung von Rücküberweisungen tragen auch die SDGs Rechnung und fordern, dass deren Transaktionskosten bis 2030 im Durchschnitt auf 3 Prozent der transferierten Summe sinken. Die Digitalisierung der Branche hat in den letzten zehn Jahren bereits zu einer Reduktion der Kosten von knapp 10 Prozent auf ca. 7 Prozent geführt.
Ermöglicht die Blockchain-Technologie weitere dringend benötigte Kostensenkungen in diesem Bereich? Blockchainbasierte Netzwerke wie Ripple, Stellar, IOTA, oder NEO ermöglichen kostenlose oder nahezu kostenlose internationale Transfers von Kryptowährungen. Jedoch muss der Sender einer Rücküberweisung in der Regel zunächst seine lokale Währung in eine Kryptowährung tauschen und diese dann für seine internationale Transaktion nutzen, bevor der Empfänger des Geldes die Kryptowährung wieder in seine lokale Währung tauscht. Statt eines Währungstauschs (z.B. Euro zu Indische Rupie) werden also zwei Währungstausche (z.B. Euro zu Bitcoin zu Indische Rupie) benötigt.
Andererseits können durch die Nutzung von Kryptowährungen bestimmte Gebühren und Wartezeiten umgangen werden. Diese entstehen bei konventionellen Anbietern wie Western Union durch die Nutzung von Korrespondenzbanken. Neben diesen Kostenersparnissen können blockchainbasierte Geldtransferunternehmen Synergien nutzen, wenn sie zusätzlich zu ihrem Kerngeschäft auf eigene Rechnung mit Kryptowährungen handeln. Auf dieser Grundlage bieten z.B. die Startups Circle und Cashaa kostenfreie bzw. sehr günstige Geldtransfers in verschiedene Länder an. Ob sich diese Unternehmen langfristig am Markt behaupten können ist nicht klar. Es ist jedoch schon heute absehbar, dass die Blockchain-Technologien durch die Umgehung von Korrespondenzbanken in den nächsten Jahren einen Beitrag zur Senkung der Kosten von Rücküberweisungen leisten können.
Blockchain-Technologien haben ein großes Potential, viele Bereiche in Wirtschaft und Verwaltung, effizienter zu strukturieren. Besonders gilt das für Bereiche, in denen Vertrauen zwischen den Markteilnehmern bisher von einer zentralen Instanz hergestellt wird. Internationale Rücküberweisungen sind relativ einfach mit bestehenden Blockchain-Technologien durchzuführen, daher gibt es bereits heute Lösungen, die Kostenvorteile gegenüber den etablierten Geldtransferunternehmen bieten. Bis blockchainbasierte Netzwerke eine vollwertige Bank mit nutzerfreundlichen Zahlungsdienstleistungen sowie (Spar)konten und (Mikro)krediten für finanziell unterversorgte Menschen sein können, wird es aber wohl noch einige Jahre dauern. Staatliche und private Akteure sollten diesen Prozess unterstützen, indem sie die Potentiale der Blockchain-Technologie aktiv nutzen und deren Weiterentwicklung fördern. Ein erster Schritt hierzu kann die Akzeptanz von Kryptowährungen für bestimmte Zahlungen sein. So akzeptiert, neben zahlreichen Unternehmen, auch der Schweizer Kanton Zug seit dem Jahr 2016 Gebührenzahlungen in Bitcoin.
Wed, 31/01/2018 - 11:00
Bonn, 31.01.2018. Kaum, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) im Irak und weitestgehend auch in Syrien militärisch niedergerungen ist, eskaliert die Türkei den alten Konfliktherd um die Kurden in ihrem unmittelbaren Grenzgebiet erneut. Dabei waren es die Kurden, die buchstäblich in letzter Minute den IS nicht nur vor einer weiteren Ausdehnung im Irak gestoppt, sondern unter Einsatz von Menschenleben niedergekämpft haben – zusammen mit einer internationalen Militärkoalition, die zumeist aus der Luft unterstützte. Die tiefsitzende türkische Angst vor einem „terroristischen“ Kurdenstaat an der Südflanke führte zur aktuellen Bodenoffensive – doch darf bezweifelt werden, ob diese Offensive tatsächlich auf lange Sicht türkische Interessen befördert.
In den kurdischen Gebieten im Irak und in Syrien waren schon vor der Ausbreitung des IS Inseln relativer Stabilität im Chaos der Stellvertreterkriege seit der Arabellion (2011) beziehungsweise der US-Intervention im Irak (2003) entstanden. Dort, in den kurdischen Enklaven in Nordsyrien (auch „Rojava“ genannt), wird seit einiger Zeit schon, unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, ein ‚Neuer Gesellschaftsvertrag‘ umgesetzt, der – trotz massiver Schwächen in der Umsetzung – optimistisch stimmen kann. Anders als viele Kurden im Irak, zielt diese Bewegung gerade nicht auf nationale Unabhängigkeit, sondern auf Emanzipation und Inklusion im Rahmen geregelter Dezentralisierung zur innergesellschaftlichen Befriedung ab. Ob ein föderales Syrien, basierend auf dem in Rojava ausgehandelten Gesellschaftsvertrag, möglich und erstrebenswert ist? Allein den Syrern muss es vorbehalten sein, darüber zu entscheiden! Stattdessen zerbombt der NATO-Partner Türkei, mit russischer Billigung, nicht nur diese Option auf nachhaltige Stabilität, sondern zerstört auch die momentane relative Stabilität und schafft damit neue Fluchtursachen und Vertriebene.
Die aktuelle türkische Militäroffensive birgt nicht nur völkerrechtlichen und sicherheitspolitischen Sprengstoff, sondern sie schadet auch entwicklungspolitischen Überlegungen und dem Wiederaufbau Syriens nach dem Konflikt. Die kurdische Eigeninitiative, einen innergesellschaftlich tragfähigen, weil überkonfessionellen und interethnischen Gesellschaftsvertrag auszuhandeln, welcher der Startpunkt für einen künftigen föderalen syrischen Staat sein könnte, wird systematisch bestraft. Das entwicklungspolitische Credo, eine Gesellschaft müsse befähigt werden, sich selbst zu helfen, wird hier mit Füßen getreten.
Die aktuelle türkische Flucht nach vorne läuft den längerfristigen Interessen der Türkei eher diametral entgegen als dass sie einer nachhaltigen Befriedung an der türkischen Südflanke förderlich wäre. Die – wohl kaum auf dauerhafte Präsenz angelegte – Militäroffensive droht die Türkei weiter von ihren westlichen Partnern zu entfernen, mit unabsehbaren Folgen nicht nur für die NATO und Syrien, sondern auch für die Türken selbst: Die Aktion reiht sich ein in eine Abfolge von früheren Versuchen der türkischen Regierung, teilweise realen, zumeist aber sich als Gegenreaktion selbst erfüllenden, Bedrohungsszenarien zu begegnen. Ihnen allen liegt dasselbe überholte Narrativ des kurdischen Terrorismus zugrunde: Verhandelte Erdogan vor noch nicht allzu langer Zeit mit dem türkischen Kurdenführer und jetzt von ihm wieder als ‚Oberterrorist‘ beschimpften Abdullah Öcalan über eine echte kurdische Autonomie, gelten ihm heute selbst zivile kurdische Parteien, wie die HDP, wieder als Terroristen. Gruppierungen wie die in Nordsyrien dominierende PYD werden nur mehr schlicht als verlängerter Arm der PKK gesehen. Diesem wenig überzeugenden Narrativ liegt die Furcht vor der potentiellen Strahlkraft eines vielleicht sogar erfolgreichen kurdischen Modells zugrunde.
Mit diesem Perspektivwechsel versperrt sich Erdogan Optionen, die die Türkei von ihrem Weg in den Paria-Staat abbringen und wieder in die auf Regeln und Vereinbarungen basierte Staatengemeinschaft zurückführen könnte: Eine Gemeinschaft, in der Krieg im äußersten Fall der Selbstverteidigung eine völkerrechtlich zulässige und legitime Fortsetzung von Politik sein kann. Der wichtigste Schlüssel dazu liegt jedenfalls „zu Hause“ – oder in den Worten des Staatsgründers Atatürk: "yurtta sulh, cihanda sulh" ("Friede zu Hause, Friede in der Welt“).
In den komplexen, internationalisierten Bürgerkriegen in Syrien oder im Irak wird es mittelfristig darum gehen, die Logik von Stellvertreterkriegen zu einer Logik von „Stellvertreterfrieden“ umzukehren. Angesichts der begrenzten Möglichkeiten, die Deutschland (etwa über staatliche Garantien für Handel und Investitionen), der EU (über die Assoziierungsverhandlungen) oder den NATO-Partnern (über die Konditionierung von Waffenlieferungen) zur Verfügung stehen, gilt: Es geht darum, die Türkei in ihre regionalpolitische Verantwortung zu nehmen. Zusammen mit den anderen Hegemonialmächten Iran, Saudi Arabien, Katar und den V.A.E muss ein befriedender Einfluss auf ihre jeweiligen Stellvertreter ausgeübt oder zumindest die Ausbreitung von lokalen Stabilitätskernen nicht behindert werden. Das kurzsichtige Verhalten Erdogans auch zum längerfristigen strategischen Nutzen der Türkei zu beeinflussen und eine weitere Destabilisierung der Region zu verhindern gelingt Deutschland jedenfalls nur gemeinsam mit Partnern.
Mon, 29/01/2018 - 09:00
Bonn, 29.01.2018. Am 25. Januar jährt sich der Aufstand, der den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak stürzte, zum siebten Mal – Anlass, um die wirtschaftliche Situation des Landes zu betrachten. Die Angst des Westens vor dem radikalen Islam führt dazu, dass er großes Interesse an einem stabilen Ägypten hat. Darum gewährte der IWF und bilaterale Geber Kredite in Höhe von 21 Mrd. US Dollar unter der Bedingung, dass Ägypten Reformen durchführt. Lösen diese Reformen die tief verwurzelten Strukturprobleme des Landes und bringen es auf einen neuen, breitenwirksamen Wachstumspfad?
Die Reformen zielen darauf ab, makroökonomische Ungleichgewichte zu korrigieren, indem die Staatsausgaben gesenkt werden: durch Subventionskürzungen u.a. bei Gas und Wasser, durch geringere öffentliche Investitionen und durch Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor. Um die Einnahmen zu erhöhen, hat die Regierung eine Mehrwertsteuer eingeführt, sie hat den Wechselkurs freigegeben und Kapitalkontrollen abgebaut, um den parallelen Devisenmarkt auszutrocknen, die Handelsbilanz zu verbessern und die Devisenreserven zu erhöhen.
Kurzfristig hatten diese Maßnahmen folgende Folgen: (i) Zusätzlich zu den Krediten flossen Devisen in Form von Investitionen in Staatsanleihen ins Land. Die Devisenreserven wuchsen und der Schwarzmarkt verschwand beinahe, aber das ägyptische Pfund verlor stark an Wert. (ii) Die Handelsbilanz verbesserte sich durch einen Anstieg der Exporte und einen Rückgang der Importe – wenn auch in geringerem Maße als erhofft, so dass ein Handelsbilanzdefizit und eine hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten verbleiben. Ein Gutteil der verarbeiteten Produkte Ägyptens basiert jedoch auf importierten Vorleistungen und Investitionsgütern, sodass sich die Importe unweigerlich erholen werden. (iii) Durch die Wechselkursfreigabe, höhere Einfuhrzölle, die Einführung einer Mehrwertsteuer und die Streichung von Subventionen stiegen die Preise stark an. (iv) Die Wachstumsrate stieg, wenn auch weniger als erwartet. Die Zukunftsaussichten sind angesichts des begrenzten Zustroms von Direktinvestitionen, schwacher Konsumausgaben, Zinserhöhungen und des Rückgangs staatlicher Investitionen schlecht. (v) Das Haushaltsdefizit nahm ab, blieb aber mit zehn Prozent des BIP hoch. Ohne Reformen zur Verringerung von Leckagen werden die Einnahmen der Steuer- und Zollbehörden das Defizit nicht verringern. (vi) Die Regierung nahm erhebliche Kredite auf, was die Inlandsverschuldung auf über 90 Prozent des BIP und die Auslandsverschuldung auf 40 Prozent trieb (letztere hatte nie zuvor höher als 20 Prozent gelegen).
Langfristig hat sich Ägypten einer Entwicklungsstrategie verschrieben, die auf Immobilienentwicklung und Megaprojekten basiert, wie die neue Hauptstadt und der Ausbau des Suezkanals. Bau und Immobilienentwicklung sind aber Symptome eines schwachen Strukturwandels – weg von handelbaren Gütern und Dienstleistungen aus produktiven Sektoren – der nicht in der Lage ist, Ägypten in eine schnell wachsende, dynamische und inklusive Ökonomie zu verwandeln. Stattdessen sollte die ägyptische Regierung versuchen, nachhaltiges Wachstum durch eine effektive Exportstrategie zu generieren.
Hierfür fehlen der aktuellen Entwicklungsstrategie vor allem drei Elemente: (i) Politische Entwicklung: erfordert, dass staatliche Stellen bei Wahlen Integrität und Neutralität garantieren, die Unabhängigkeit der Justiz- und Gesetzgebungsorgane gewährleisten und ein Gleichgewicht zwischen zivilen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen und dem Sicherheits-/Militärapparat herstellen. (ii) Menschliche Entwicklung: dies bedeutet, mehr Ressourcen in Bildung und Gesundheit investieren. (iii) Nachhaltige und umfassende Entwicklung: sie erfordert eine breitere Perspektive, die die vorhandenen natürlichen Ressourcen besser schützt, die schöpferischen Energien der Jugend besser nutzt, Frieden und Versöhnung fördert und einen neuen dauerhaften Gesellschaftsvertrag zwischen Staat und Gesellschaft etabliert. Ägyptens derzeitige Entwicklungsvision basiert auf einer Fassade politischer Reformen. Der politischen Vertretung fehlen die einfachsten legislativen und parlamentarischen Funktionen und die Integrität von Wahlen wird weitgehend angezweifelt. Die Aussöhnung zwischen Zivilgesellschaft und Sicherheitsapparat fehlt völlig auf der Tagesordnung. Eine von Militärunternehmen dominierte Wirtschaft schränkt den freien Wettbewerb ein. Kürzlich wurden die Vermögen dutzender Unternehmen eingefroren, um politische Loyalität zu erzwingen. Diese Maßnahmen sind repressiv und schränken das Vertrauen von Investoren in die Wirtschaft ein. Investitionen in Humankapital werden zugunsten populistischer Megaprojekte vernachlässigt und werden nur bei einem Übergang zu einem partizipativen Modell oder einem vollständigen demokratischen Wandel stattfinden. Bis heute gibt es solchen Wandel nicht. Die nachhaltige Entwicklung, nach der sich die Menschen sehnen, fehlt völlig in der Vision der Führung. Der Entwicklungsvision Ägyptens mangelt es an einem echten Dialog zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft – gegenwärtig wird er nur vorgetäuscht. Im Mittelpunkt dieses Dialogs müssten politische Reformen und ein neuer Gesellschaftsvertrag stehen; ohne sie wird es kein wirtschaftlich prosperierendes oder politisch stabiles Ägypten geben.
Omar El Shenety ist Advisory Board Member an der American University in Kairo. Ahmed Abd Rabou ist Visiting Assistant Professor an der Josef Korbel School of International Studies der University of Denver.
Mon, 22/01/2018 - 09:00
Ein Video vom Urlaub zusammenschneiden für 7 Euro, die Bewerbungsmappe auf Englisch übersetzen für 30 Euro oder ein Logo für die neue Firma entwerfen für 6 Euro – das Internet macht es möglich. Auf Plattformen wie Fiverr.com, Proz.com, Upwork.com oder Amazon’s Mechanical Turk (MTurk) werden Jobs weltweit vermittelt. Bearbeitet werden sie in Manila, Bangalore oder auch San Diego. Andere Dienstleistungen per Mausklick finden direkt vor unserer Tür statt: Die Taxifahrt mit Uber, die Unterkunft via Airbnb, das Essen von Deliveroo. Diese physischen Dienste konkurrieren mit etablierten Taxizentralen, Hotelketten und Lieferdiensten. Gemein ist beiden Formen der Plattformökonomie lokal wie global jedoch eins: Sie sind dabei den Handel zu revolutionieren.
Das schnelle Wachstum der Plattformökonomie – weltweit wird es auf jährlich 25 Prozent geschätzt – bereitet bestehenden Firmen aller Branchen viel Kopfzerbrechen. Das Prinzip hat der Ökonom Ronald Coase bereits lange vor dem Internetzeitalter verstanden und dafür einen Nobelpreis erhalten: Der Grund, warum Firmen überhaupt existieren sind Transaktionskosten. Nun konnte das Preiskomitee der Schwedischen Reichsbank im Jahr 1991 kaum voraussehen, wie heute Internetplattformen eine Branche nach der anderen umkrempeln. Kunden finden geeignete Dienstleister auf den digitalen Plattformen im Handumdrehen, und Transaktionskosten reduzieren sich auf einen Mausklick. Immer mehr Firmen, vom Übersetzungsbüro bis zur Taxizentrale, braucht der Markt plötzlich nicht mehr.
Etwa ein Viertel der Internetwirtschaft besteht bereits heute aus solchen Transaktionsplattformen. Das entspricht einer Marktkapitalisierung von 1,1 Billionen US-Dollar (engl.: trillion) und hat spürbare Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die USA führt den Trend an. Dort erwartet man bis 2020 einen Anstieg des Freelancer-Anteils auf 40 Prozent der Erwerbstätigen.
In Entwicklungsländern hingegen stellt sich der Trend aus einer anderen Perspektive dar. Dort, wo informelle Beschäftigung nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, ist der Schritt auf die Online-Plattform ein Schritt in Richtung Formalisierung des Arbeitsverhältnisses. Arbeiter erhalten hier mehr Vertragssicherheit und genießen größere Freiheit bei der Auswahl der Kunden. Die Plattformarbeit kann außerdem der Karriereentwicklung dienen. Die Freelancer auf Upwork.com nähmen über die Zeit immer komplexere Aufträge an, konstatiert eine Studie der LMU München. Unter Umständen profitiert sogar der Staatshaushalt. Das Einkommen auf der Plattform wird meist elektronisch bezahlt und ist daher für Steuerbehörden besser nachvollziehbar.
Führend im globalen Markt der Online-Dienstleistungen sind Indien, die Philippinen und die Ukraine. Auch Malaysia setzt auf starkes Wachstum. Gemäß der nationalen Beschäftigungsstrategie des südostasiatischen Staates sollen bis zum Jahr 2020 340.000 sogenannte „Clickworker“ einen Umsatz von 500 Millionen Dollar erwirtschaften.
Die Nachfrage dieses globalen Marktes kommt jedoch vorwiegend aus Nordamerika und Europa. Daraus leitet sich eine Verantwortung ab. In Deutschland nimmt zum Beispiel der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte deutsche Unternehmen in die Pflicht, für die Einhaltung der Menschenrechte auch in ihren Lieferketten im Ausland zu sorgen.
So wie das Textilbündnis der deutschen Wirtschaft sich für die Textil-Lieferketten einsetzt, könnte ein neues Bündnis für faire Plattformökonomie für bessere Arbeitsbedingungen bei Clickworkern sorgen. Um wirksam zu sein, muss so ein Bündnis allerdings global aufgestellt sein, und auch die Plattformbetreiber aus San Francisco und Bangalore miteinschließen. Denn die wichtigsten Regeln stecken in den Vertragsbedingungen der Plattform selbst. Ein Ethik-Kodex der Plattformbetreiber könnte Plattformarbeitern beispielsweise mehr Sicherheit geben, die Zahlungen für ihre Leistung auch zu erhalten.
Die internationale Arbeitsorganisation ILO, sowie nationale Arbeitnehmervertreter wie Verdi und IG-Metall, stellen sich mit zaghaften ersten Schritten jenseits der Arbeitnehmer auf die neue Zielgruppe der Plattform-Freelancer ein – an Plattformbetreiber erheben sie Forderungen für mehr Vertragssicherheit, Mindestlohn, Versicherungsschutz, und Haftungsregeln. Sie haben die Vision von Plattformen, auf denen Auftragnehmer eine kollektive Interessensvertretung erhalten.
Gleichzeitig müssen sich nationale Regierungen auf das Zeitalter technologischer Disruptionen auf dem Arbeitsmarkt einstellen. Dänemark, Schweden und vielleicht auch bald Frankreich dienen hier als Vorbild: Statt Jobs zu schützen werden dort die Menschen geschützt. Statt Kündigungsschutz setzen die nordischen Länder auf großzügige Sozialleistungen, Umschulungs- und Vermittlungsangebote. Das gibt nordischen Unternehmen einen Vorsprung, da sie sich personell flexibel auf die sich immer schneller wandelnden Rahmenbedingungen des digitalen Zeitalters anpassen können. Die Politik stellt weltweit fest: Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Während die Wirtschaft sich wandelt, müssen wir auch die Arbeitsmarktpolitik vom industriellen Zeitalter in das digitale Zeitalter überführen.
Franz von Weizsäcker ist Lead Disruption Strategist und Head of GIZ Blockchain Lab bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).
Mon, 15/01/2018 - 09:02
Bonn, 15.01.2018. Wir leben in angespannten Zeiten. Die Welt(wirtschaft) und politischen Problemlagen sind immer stärker global vernetzt. Jedoch prägt die neue Internationale der Nationalisten – Trump, Orban, Putin, Erdogan, Le Pen, bis zur ÖVP/ FPÖ-Regierungen in Österreich –, die Debatten internationaler Politik: Die Trump-Regierung stellt das Pariser Klimaabkommen zur Disposition, attackiert die Vereinten Nationen, baut und plant physische und rechtliche Mauern gegen Muslime, Lateinamerikaner, andere Unliebsame, aber auch gegen Waren, wenn es nur den eigenen Interessen dient. Putin hat mit der Krim-Annexion sein taktisches Verhältnis zum Völkerrecht unterstrichen. Sein Vordenker Alexander Dugin und Trump-ex-Flüsterer Steve Bannon schwadronieren im Gleichklang über die Zerstörung des Multilateralismus und das Ende liberaler, vielfältiger Demokratien. Erdogan sperrt unbequeme In- und Ausländer ins Gefängnis und verspottet die Menschenrechte. Le Pen, Orban, die neue österreichische Regierung und Gesinnungsgenossen der AfD verweigern Mitmenschlichkeit gegenüber 65 Millionen Flüchtlingen – sollen sie doch in Afrika von einem Armutsland zum anderen ziehen. Lange kann das nicht gut gehen. Aggressiver Nationalismus führt in einer global vernetzten Welt unweigerlich zur Verschärfung von Konflikten.
Man fühlt sich an die erste große Globalisierungswelle im Übergang zum 20. Jahrhundert erinnert, die Philip Blom in „Der taumelnde Kontinent: Europa 1900-1914“ virtuos beschreibt. Die Dynamiken ähnelten den aktuellen Trends: Urbanisierungsschübe, technologische Durchbrüche, beschleunigter Welthandel, Durchbrüche in der Wissenschaft, wie die Entwicklung der modernen Physik oder die erfolgreiche Bekämpfung der großen Menschheitsseuchen durch Louis Pasteur und Robert Koch. Nichts blieb mehr wie es einmal war. Die Umbrüche in der Welt spiegelten sich auch in der Entstehung der modernen Kunst: Kandinskys Übergänge zur Abstraktion (ab 1910) und Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ (1915) irritierten alt hergebrachte Perspektiven. Die beschleunigte Modernisierung löste tiefgreifenden ökonomischen, kulturellen und sozialen Strukturwandel aus, überforderte Regierungen und resultierte in gestressten, orientierungslosen Gesellschaften. Identitätskrisen und Verteilungskonflikte mündeten in aggressiven Nationalismen und den beiden großen Weltbürgerkriegen des 20. Jahrhunderts.
Die derzeitigen „Our Country First-Bewegungen“ sind vor diesem Hintergrund ernstzunehmende Warnsignale. Wenn beschleunigter Strukturwandel und damit einhergehende soziale und kulturelle Verunsicherungen nicht in attraktive Zukunftsentwürfe und politische Gestaltung eingebettet werden, gewinnen Wut- und Angstnationalisten an Terrain. Zwar war die Wahl von Macron im Frühjahr 2017 ein deutliches Zeichen für Demokratie, Europa und internationale Zusammenarbeit. Auch die Bundesregierung hat 2017, im Rahmen der deutschen G20- Präsidentschaft mit einigem Erfolg das Schlimmste verhindert. Trumps Anti-Klimapolitik fand keine offenen Verbündeten, multilaterale Bekenntnisse wurden von den G20 formuliert, nationalistische Töne eingehegt. Jedoch schaffen die Nationalisten an vielen Stellen neue Fakten. Ihr Diskurs spaltet die Weltgemeinschaft.
Es ist daher an der Zeit, nicht nur das Schlimmste zu verhindern. Dem Aufstand der Nationalisten sollten starke, hör- und sichtbare Allianzen für eine globale Kooperationskultur und eine nachhaltige Gestaltung der Globalisierung entgegengestellt werden, um die Deutungshoheit über die Zukunft zurückzugewinnen.
Wenn ich einen Wunsch frei hätte für 2018, so wäre es dieser: Transnationale Netzwerke für globale Nachhaltigkeit, wie das globale SDSN (Sustainable Development Solutions Network), das Städtenetzwerk ICLEI oder das Wissenschaftskonsortium Future Earth beginnen mit der Vorbereitung einer Weltzukunftskonferenz 2020. Ihnen schließen sich gleichgesinnte Regierungen aus reichen und armen Ländern, Kulturschaffende sowie Unternehmens- und Investorennetzwerke an, die an einer zukunftsorientierten Gestaltung von Weltwirtschaft und -gesellschaft interessiert sind.
Sie beraten über drei konkrete Leuchtturmprojekte, die Weltzukunftskonferenz beschließt: (1) konkrete Fahrpläne zur Reduzierung der Ungleichheiten in den Gesellschaften; die Verbesserung des Gini-Index wird zu einem zentralen Entwicklungsparameter; (2) die wirksame Bekämpfung der gemeinwohlzerstörenden Steuervermeidung; ein internationaler Mindeststeuersatz wird eingeführt; (3) wirksamen Klimaschutz als Grundlage ökonomischer Modernisierungs- und Wohlfahrtsprojekte; in den beteiligten Gesellschaften werden bis 2035 die letzten Kohlekraftwerke geschlossen, ab diesem Zeitpunkt keine fossil betriebenen Fahrzeuge mehr verkauft und die Emissionen pro Dekade halbiert, um 2050 bei Null zu landen; die Einnahmen aus der Besteuerung von Treibhausgasemissionen werden in Transformationsprojekte für nachhaltige Mobilität, Energie und Städte sowie in nationale und internationale Vorhaben zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts investiert. – Fantasterei? Womöglich. Doch „das Schlimmste zu verhüten“ wird nicht ausreichen, um die Erosion von Demokratie und globaler Kooperationskultur aufzuhalten.
Diese Kolumne wurde am 15.01.2018 auch bei euractiv.de veröffentlicht.
Fri, 22/12/2017 - 09:00
Berlin, 31.12.2029
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
an der Schwelle zu den dreißiger Jahren möchte ich einen Blick zurück auf das Jahr 2015 werfen. Damals hatte eine meiner Vorgängerinnen zusammen mit den Staats- und Regierungschefs aller Länder der Erde einen Aktionsplan „für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand“ beschlossen, der auch „den universellen Frieden in größerer Freiheit festigen“ sollte: Die 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung. Im selben Jahr hatte man sich auch verständigt, den Anstieg der Erderwärmung unter 2° zu halten. Im Jahr 2015 verzeichneten wir aber auch einen bis dahin einmaligen Zustrom von Flüchtlingen.
Vielen mag dies wie eine verblasste Erzählung aus anderer Zeit erscheinen. Immer öfter aber fragen mich junge Menschen, warum damals nicht entschlossener gehandelt wurde. Warum wir erst durch schwere Krisen gehen mussten. Ich bin froh, dass wir im September beim Nachhaltigkeitsgipfel am neuen Sitz der Vereinten Nationen in Hongkong eine wohl optimistische Bilanz ziehen werden.
Im Jahre 2019 endete der erste Überprüfungsgipfel zur 2030 Agenda in einem Fiasko. Die USA hatten sich nach ihrem Ausstieg aus dem Klimaabkommen auch der 2030 Agenda weitgehend verweigert. Die Europäische Union war nach dem Schock der Europawahlen diplomatisch gelähmt. Gleichzeitig fanden sich die Länder Afrikas nicht bereit, den Gipfel mit Leerformeln zu retten. Dieser Rückschlag blieb nicht ohne Auswirkungen auf andere Bereiche. Die Umsetzung des Klimaabkommens und das Welthandelssystem gerieten ins Trudeln.
Auch bei uns verflog der Zauber des Anfangs bei der Umsetzung der 2030 Agenda. Wahlen in kurzen Abständen führten dazu, dass die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie nicht fortgeschrieben wurde und die Energiewende vor den Braunkohlerevieren zum Stehen kam. Die politischen Parteien erschöpften sich in wahltaktischen Manövern und waren nicht in der Lage, die 2030 Agenda als Innovationsmotor zu verstehen. Stattdessen stieg der Problemdruck.
Anfang der zwanziger Jahre lösten Extremwetterereignisse weltweit gewaltige Fluchtbewegungen aus. Zeitgleich mit dem Rückgang des Welthandels wurden die Folgen der Digitalisierung der Arbeitswelt spürbar. Mit den Digitalen Ludditen entstand eine militante globale Bewegung von Maschinenstürmern. Ungleichheiten und Spannungen nahmen zu.
Die Verzweiflung führte aber nicht nur zu Resignation und Gewalt. Immer mehr Menschen nahmen die Umgestaltung ihrer Welt in die eigenen Hände: Zuhause, in ihren Dörfern und Städten, in ihren Unternehmen und Verbänden. Diese Bewegung hat gerade in vielen Teilen Afrikas, der Heimat meiner Eltern, zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensverhältnisse geführt. In Deutschland konnte durch Absprachen zwischen Einzelhandel und Verbrauchern die Nahrungsmittelverschwendung halbiert werden. Unsere Ernährung wurde nicht nur gesünder und kostengünstiger, sie belastet heute auch weniger die Böden und Gewässer in anderen Teilen der Welt. Auch die Integration der zweiten Flüchtlingswelle und die damit einhergegangene Wiederbelebung alter Industriegebiete und ländlicher Räume ist in erster Linie ein Erfolg von Ihnen, den Bürgerinnen und Bürgern.
In Europa merkte diese Bewegung aber bald, dass Vergleichbares in Bereichen wie Verkehr oder Energie nur gelingen würde, wenn sich die Regierungen aus der Gefangenschaft von Konzernen befreiten und eine kreative ökologische und soziale Marktwirtschaft erlaubten. In kurzer Zeit löste diese Bürgerbewegung eine Veränderung der Parteienlandschaft aus, bei der Einheit, Erneuerung und nachhaltige Entwicklung Europas zusammen gedacht wurden. Aus vielen Wahlen gingen breite Koalitionen des Aufbruchs hervor.
Auch international hellte sich das Klima auf, nachdem in den USA ein Bündnis fairer und grüner Städte eine unabhängige Bewerberin ins Präsidentenamt getragen hatte. Im Jahr davor hatte ihr Vorgänger noch den Austritt der USA aus den Vereinten Nationen vollzogen, nachdem dort auf Initiative der damals neugewählten chinesischen Regierung die Schutzverantwortung für Menschen und Erde beschlossen worden war. Wo Regierungen versagen, kümmert sich heute der umgestaltete VN-Sicherheitsrat nicht nur um gefährdete Bevölkerungsgruppen, sondern auch um bedrohte Tropenwälder. Ein Beschluss zur Schließung der letzten Kohlekraftwerke der Welt ist in Vorbereitung.
Heute können wir mit Zuversicht in das neue Jahrzehnt schauen. Wenn wir Kurs halten, wird gutes Leben für alle möglich, in größerer Freiheit und im Einklang mit den Schätzen und der Schönheit unserer Erde. Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz auf diesem Wege und wünsche Ihnen ein gesundes und glückliches Jahr 2030.
Eine Version dieses Textes ist in der Frankfurter Rundschau erschienen.
Mon, 18/12/2017 - 09:00
Bonn, 18.12.2017. Während Deutschlands politische Klasse nachsitzen und noch das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 umsetzen muss, richten sich die Blicke in Europa schon nach vorne: Die Vorbereitungen zum nächsten EU-Budget beginnen. Mit dem sogenannten Mehrjährigen Finanzrahmen legt die EU die finanziellen und politischen Schwerpunkte bis Ende der 20er Jahre fest. Im März 2019 wird Großbritannien die EU nach aktuellem Stand der Dinge verlassen. Die Bürger wählen 2019 ein neues Europäisches Parlament. Danach wird eine neue Europäische Kommission gebildet. Und: 2019 wird die EU auf dem UN-Gipfel zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung erstmals einen Bericht über ihre Fortschritte und Maßnahmen zur Erreichung der 17 Ziele der Agenda vorlegen. Es ist also höchste Zeit, die Dinge in Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen und die zur Grundlage der europäischen Politik nach innen und außen zu machen.
Die EU befindet sich derzeit in einer problematischen Lage. Soziale Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten nehmen zu. Ihre Regierungen sind in der Flüchtlingspolitik zerstritten. Populistische Bewegungen und Parteien zweifeln am Mehrwert der EU für die europäischen Bürger. Die Agenda 2030 kann einen normativen Ausgangspunkt bieten, um die Politik der EU nach innen und nach außen sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltiger zu gestalten. Beispielsweise hat die EU sich im Rahmen der Agenda 2030 verpflichtet, Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern zu reduzieren.
Bis dahin ist es allerdings ein langer Weg. Die diesjährigen Wahlkämpfe in mehreren EU-Mitgliedstaaten haben verdeutlicht, dass die Agenda 2030 allenfalls als entwicklungs- und umweltpolitische Angelegenheit verstanden wird. Als übergreifendes Narrativ für die Gestaltung der Zukunft fehlt sie in der öffentlichen Diskussion gänzlich.
Wie kann die EU die Agenda 2030 in ihrer Politik verankern?
Auch auf höchster politischer Ebene in Brüssel gibt es bislang wenig Unterstützung für die Agenda. Laut einer Erklärung des EU-Ministerrats ist dieser zwar „entschlossen, eine führende Rolle“ bei der Umsetzung der Agenda 2030 zu übernehmen. Die Ratsschlussfolgerungen vom Juni 2017 fordern die Kommission auch auf, eine Strategie mit Zeitplanung, Zielen und konkreten Maßnahmen zur Umsetzung der Agenda zu erarbeiten. In der politischen Praxis ist davon noch wenig sichtbar. Auch ist unklar, wieviel politisches Kapital die Kommission in die Erarbeitung dieser Strategie investiert. Aktuell gibt es keinen politischen Prozess, in dem die Umsetzung der Agenda 2030 eindeutig verankert wäre. Eine Reihe von laufenden Prozessen könnten jedoch als Anker dienen, um eine Transformation hin zu nachhaltiger Entwicklung in der EU voranzutreiben:
Diskussionen zur Zukunft der EU, die Kommissionspräsident Juncker im März 2017 angestoßen und in seiner Rede zur Lage der Union im September bekräftigt hat, konzentrieren sich bisher auf institutionelle Reformen, die Wirtschafts- und Währungsunion sowie sicherheitspolitische Maßnahmen. Die Agenda 2030 könnte helfen, eine übergeordnete strategische Vision für die Zukunft der EU zu entwerfen.
Mit dem neuen Mehrjährigen Finanzrahmen wird sich entscheiden, ob die Ausgaben in der Agrarpolitik, bei den Kohäsionsfonds, in der Forschung oder der Außen- und Entwicklungspolitik zusätzliche, zukunftsorientierte Beiträge zu nachhaltiger Entwicklung leisten oder alten Pfadabhängigkeiten folgen.
Die gerade neu geschaffene Ratsarbeitsgruppe zur Agenda 2030 sollte sich zur Aufgabe machen, die Agenda in dem Diskussionsprozess zur Zukunft der EU sowie in den Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen prominent zu verankern. Die Anfang Dezember erstmals zusammengekommene Multi-Stakeholder Plattform on the Implementation of the SDGs in the EU unter Vorsitz von Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans müsste diese Prozesse kritisch begleiten.
Agenda 2030 beim Wahlkampf zum Europäischen Parlament
Die Verbindung des europäischen Gedankens mit dem der nachhaltigen Entwicklung sollte auch zu einem wichtigen Thema im Europawahlkampf werden. Die Kandidaten werden vor dem Hintergrund des Brexit und wachsender populistischer Bewegungen noch stärker unter Druck stehen, den Bürgern den Mehrwert der EU auch für ihre ganz persönliche Zukunft zu vermitteln. Die Ziele der Agenda 2030 könnten für diese Debatten einen vorwärtsgewandten, normativen Rahmen bieten. Die unterschiedlichen Parteien könnten dabei zeigen, wie sie mit ihren jeweiligen Konzepten und Strategien zur Erreichung der gemeinsamen Ziele der Agenda beitragen wollen. Dabei kann und sollte über Interessens- und Zielkonflikte, aber auch über Synergien und win-win-Potentiale gestritten werden.
Die Umsetzung der Agenda 2030 in den EU-Mitgliedstaaten kann nur mit einer überzeugenden europäischen Strategie gelingen. Damit dies beim 2019er UN-Gipfel zur Überprüfung der Umsetzung der Agenda 2030 glaubhaft präsentiert werden kann, müssen die EU und die Mitgliedstaaten jetzt ihre Hausaufgaben machen.
Mon, 11/12/2017 - 09:00
Buenos Aires, 11.12. 2017. In dieser Woche treffen sich die 164 Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) zu ihrer elften Ministerkonferenz im argentinischen Buenos Aires. Auf der offiziellen Agenda stehen Verhandlungen über den Abbau von Subventionen in Landwirtschaft und Fischerei, öffentliche Lagerhaltung von Nahrungsmitteln, Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen sowie neue Regeln für digitalen Handel. Beobachter erwarten, dass die WTO-Mitglieder in einigen dieser Bereiche Fortschritte erzielen können. Allerdings brodelt unter der Oberfläche ein Konflikt, der ungeachtet der Ergebnisse des Treffens in Buenos Aires die WTO und mit ihr das multilaterale Handelssystem zu zerreißen droht.
Gerade die USA, ohne deren Unterstützung der Aufbau des multilateralen Handelssystems nach dem Zweiten Weltkrieg und die Gründung der WTO vor 22 Jahren nicht möglich gewesen wäre, arbeiten unter Präsident Trump daran, die WTO zu diskreditieren und arbeitsunfähig zu machen. Während der US-Präsident auf dem G20-Gipfel in Hamburg im Juli dieses Jahres noch zusammen mit den anderen Staats- und Regierungschefs der G20 die „entscheidende Rolle des regelbasierten internationalen Handelssystems“ anerkannte, deuten die jüngsten Initiativen der USA daraufhin, dass dieses Bekenntnis zum multilateralen Handelssystem nur von geringer Haltbarkeit war.
Auch ohne die aktuellen Attacken der USA glich die WTO in den letzten Jahren eher einem schwer taumelnden Boxer, der nach einigen Tiefschlägen nach und nach in den Kampf zurückfand. Die mit viel Pathos nach den Terroranschlägen von New York im Jahr 2001 in Doha ins Leben gerufene multilaterale Verhandlungsrunde geriet schon nach kurzer Zeit ins Stocken. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sie reichen von einer (zu) komplexen Verhandlungsagenda, über den Zwang zur Einstimmigkeit bis hin zu den nicht zuletzt mit China verbundenen fundamentalen Gewichtsverschiebungen im Welthandelssystem. Auch die zunehmende Globalisierungsskepsis in vielen Gesellschaften mag eine Rolle spielen. In der Folge verhandeln viele Länder in der WTO nur noch mit halber Kraft und versuchen stattdessen ihre Interessen im Rahmen von bilateralen oder regionalen Handelsabkommen durchzusetzen. Auch wenn der große Durchbruch in der Doha-Runde ausblieb, konnte die WTO auf ihren vorangegangenen Ministerkonferenzen in Bali (2013) und Nairobi (2015) einige Fortschritte bei Themen wie Handelserleichterung durch effizientere Zollabwicklung und dem Abbau landwirtschaftlicher Exportsubventionen verzeichnen. Diese Verhandlungserfolge waren wichtig, um die Relevanz der WTO und damit ihre Rolle als von allen Seiten anerkannter Schlichter von Handelsstreitigkeiten zu sichern.
Gerade diese zentrale Rolle als Streitschlichter wird von den USA attackiert. Im Appellate Body, der zentralen Berufungsinstanz im Streitbeilegungssystem der WTO, sind aktuell zwei von sieben Richterposten unbesetzt. Ende Dezember wird ein weiterer frei. Der Appellate Body wäre somit nur noch bedingt handlungsfähig, wenn diese Posten nicht bald besetzt werden. Mit ihrer Blockade der Nachbesetzung der Richterposten streuen die USA Sand ins Getriebe des mit aktuell mehr als 200 Fällen bereits überforderten Streitbeilegungssystems der WTO.
Insbesondere dieses multilaterale System der Streitbeilegung ist den handelspolitischen Falken in der derzeitigen US-Administration ein Dorn im Auge. Deren Kritik tritt aktuell mit Blick auf zwei laufende Verfahren gegen Washington und Brüssel über den Status Chinas als Marktwirtschaft offen zu Tage. Eigentlich hätte China 15 Jahre nach dem Beitritt zur WTO (2001) automatisch den Status als Marktwirtschaft erlangen müssen. Neben internationalem Prestige, geht es Peking hierbei auch darum, dass dieser Status es anderen Ländern erschweren würde, Anti-Dumping-Maßnahmen gegen chinesische Produkte zu verhängen und somit deren Import einzuschränken.
Die USA, aber auch die Europäische Union, erkennen China nach wie vor nicht als Marktwirtschaft an und verweisen auf die vielfältigen Marktverzerrungen zugunsten chinesischer Exporteure. Während allerdings die EU einen zu erwartenden Schiedsspruch zugunsten Pekings akzeptieren dürfte, kann man dies von den USA unter Führung von Präsident Trump nicht erwarten. Nicht auszuschließen ist, dass er einen solchen Schiedsspruch zum Anlass nehmen würde um die WTO-Mitgliedschaft der USA aufzukündigen. Nach dem Austritt der USA aus dem Pariser Klimaabkommen würden sich die USA vollends aus dem multilateralen System verabschieden.
Es ist nicht zu erwarten, dass diese fundamentalen Fragen über die Zukunft des Multilateralismus auf der mit einer komplexen, technischen Agenda befassten elften Ministerkonferenz in Buenos Aires im Kreis von 164 Nationen gelöst werden können. Die nächste Gelegenheit um diese systemischen Fragen auf der höchsten Ebene im Kreis der Staats- und Regierungschefs der wirtschaftlich wichtigsten Länder zu diskutieren bietet sich hingegen keine zwölf Monate später auf dem G20-Gipfel Ende November 2018, ebenfalls in Buenos Aires. Allerdings nur, wenn der wirtschaftsliberale argentinische Präsident Macri sich nicht scheut, angesichts des zu erwartenden Gegenwinds aus Washington, die Zukunft der WTO auf die Agenda zu setzen. Schließlich steht die Zukunft des Multilateralismus generell auf dem Spiel.
Mon, 04/12/2017 - 09:00
Die Mittelschichten in Ländern mittleren Einkommens wachsen und mit ihnen auch der Konsum. An sich eine gute Nachricht, denn der Lebensstandard vieler Menschen verbessert sich und sie kurbeln mit ihrem Konsum die lokale Wirtschaft an. Das Problem: Die natürlichen Ressourcen unseres Planeten sind endlich. Luftverschmutzung, Stau und Engpässe in der Energieversorgung begleiten jetzt schon insbesondere den städtischen Alltag, zum Beispiel in Manila oder Lima.
Am 23. November diskutierten am Deutsches Institut für Entwicklungspolitik internationale Experten aus Forschung und Praxis beim Workshop „Transforming Carbon Consumption Patterns of the New Middle Classes“, welche Rolle Konsumtrends bei diesen konkreten Problemen spielen und wie nachhaltiger Konsum gefördert werden kann. Schnell wurde klar, dass es weder die eine Mittelschicht gibt, noch genug Wissen darüber, wer eigentlich was, wie und warum konsumiert.
„Black box“ neue Mittelschichten
Wer sind diese neuen Mittelschichten? Dies ist nicht nur eine Frage der Definition, sondern auch eine Frage nach individuellen Zielen und Wünschen, Vorbildern und Verhalten. Eine Definition der Mittelschichten allein anhand ihres durchschnittlichen Einkommens ist zwar möglich, aber nicht unbedingt aussagekräftig. Das Einkommen der Haushalte fluktuiert und das letztlich verfügbare Budget hängt stark von individuellen Faktoren wie der Größe des finanziell zu unterstützenden Familienkreises ab. Der Konsum, ausgedrückt in der Art und Zusammensetzung der Ausgaben, gibt genauere Anhaltspunkte. Diejenigen Gruppen, die einen bescheidenen Wohlstand erreicht haben, können sich typischerweise Gebrauchsgegenstände wie ein Moped oder eine Klimaanlage leisten. Sie leben primär in Städten, zum Beispiel als Start-Up Mitarbeiterin in Mumbai, aber auch in manchen ländlichen Gebieten, wie Kakaoproduzenten in Ghana.
Um das Konsumverhalten im Sinne nachhaltiger Entwicklung beeinflussen zu können, ist es notwendig, die Kaufmotivation zu verstehen. Spielen Nachhaltigkeit oder Energieeffizienz überhaupt eine Rolle oder geht es eher um das Signal, zu einer sozialen Gruppe zu gehören? Und welche anderen Faktoren spielen eine Rolle?
Einerseits gibt es in der Soziologie die These, dass sich das Konsumverhalten und die Lebensstile der Mittelschichten global angleichen. Das Verständnis, was zu einem guten Lebensstandard gehört, globalisiert sich. Eine gute Ausbildung, ein Auto, ein Smartphone und der Besuch einer Café-Kette gehören dazu. Andererseits funktionieren lokale Märkte durchaus unterschiedlich, da die Verfügbarkeit von Produkten und soziale Normen variieren. Es ist nicht klar, welche Vorbilder auf verschiedene Gruppen wirken und dadurch indirekt das Kaufverhalten beeinflussen, zum Beispiel lokale YouTube Stars oder Blogger.
Einigkeit bestand unter den Workshop-Teilnehmern in zwei Punkten: Erstens, ist der Einstieg in das Thema nachhaltiger Konsum leichter über konkrete Probleme vor der eigenen Haustür zu schaffen, wie zum Beispiel Verkehrsstau oder Müll. Bike-Sharing in chinesischen Städten entwickelt sich aktuell sehr erfolgreich, weil Smog und Stau für die Mittelschicht greifbar ist. Abstrakte globale Herausforderungen wie der Klimawandel sind für den einzelnen Konsumenten irrelevant bzw. werden als nicht beeinflussbar angesehen. Zweitens, ist eine verbraucherorientierte Politik auch in Ländern mittleren Einkommens notwendig – nicht, um Konsum zu unterbinden, sondern um die Konsumentenmacht für die Lösung bestehender Herausforderungen in urbanen Zentren zu nutzen.
Neue Verbraucherpolitik für neue Mittelschichten?
Verbraucherpolitik und nachhaltiger Konsum sind auch in Deutschland keine einfachen politischen Themen. In der Entwicklungszusammenarbeit sind umso mehr moralische Fallstricke zu erwarten, denn nachhaltiger Konsum wird schnell als Aufforderung zum Verzicht verstanden. Beim Recht auf Entwicklung versteht kein Partnerland Spaß. Drei Elemente einer Verbraucherpolitik für neue Mittelschichten wurden beim DIE- Workshop diskutiert:
- Anknüpfung an lokale politische Prioritäten und Motivationen: Ein effizientes Transportsystem ist für den Bürgermeister oder Stadtplaner wichtig. Der Verbraucher nutzt eher aus Zeit- statt aus Umweltschutzgründen die neue Schnellbuslinie statt das eigene Auto.
- Optimale Kombination und Sequenz regulatorischer, ökonomischer und informatorischer Instrumente mit verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen: Ein Beispiel wäre ein psychologischer „Anstupser“ auf der Stromrechnung, dass alle Nachbarn im Vergleich weniger Strom verbrauchen, gefolgt von einer Anhebung des Strompreises nach 6-12 Monaten.
- Institutionelle Verankerung: dezentral und sektoral kann die Steuerung von Nachfrage und Verbrauch zunächst einfacher sein, zum Beispiel durch Energieversorger, die für Energieeffizienz werben.
Mit diesen Ansätzen beschäftigt sich das DIE Projekt Transformation CO2-intensiver Konsummuster in Ländern mittleren Einkommens (SMMICC)
Mon, 27/11/2017 - 09:00
Bonn, 27.11.2017. Die internationale Finanzarchitektur ist im Umbruch. Die großen US-Finanzinstitute sind weiterhin führend, aber China holt auf und wird in absehbarer Zeit eine gewichtige Rolle auf den Welt-Finanzmärkten spielen, schon allein wegen seiner dauerhaften Überschüsse in der Kapitalbilanz, die international investiert werden. Europa spielt angesichts des Brexits und der nationalen Widerstände gegen einen europäischen Kapitalmarkt und eine Bankenunion demgegenüber eine abnehmende Rolle.
Was China auszeichnet ist seine langfristige Orientierung, auch auf den Finanzmärkten. Während die westlichen kommerziellen Finanzinstitute einen eher kurzfristigen Zeithorizont haben und sich zu einem wesentlichen Teil mit spekulativen Geschäften auf den Sekundärmärkten beschäftigen, sind die überwiegend staatlichen chinesischen Banken viel stärker in der Finanzierung von langfristigen Investitionen engagiert. Das hat zwar einen stark planwirtschaftlichen Akzent, sowohl bei der Finanzierung von Staatsbetrieben in China als auch von Infrastrukturinvestitionen international (Belt and Road). Es trägt aber zur Kapitalbildung vor allem im Bereich der Infrastruktur bei und fördert damit wirtschaftliche Entwicklung in China und international.
Nun gibt es für diese langfristigen Zwecke auch bilaterale und multilaterale Entwicklungsbanken. In Europa gibt es vier Schwergewichte: Die Europäische Investitionsbank (EIB), die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und die französische Agençe Francaise de Développement (AFD). Daneben gibt es in Europa noch ein gutes Dutzend weiterer kleinerer Entwicklungsbanken. Die Banken haben vielfältige Mandate: Die EBRD wurde für den Aufbau der Privatwirtschaft in Osteuropa und den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion gegründet, die KfW fördert Unternehmen in Deutschland und Infrastruktur in Entwicklungsländern, die EIB finanziert Investitionen in der EU (Juncker Plan), in den Nachbarländern der EU und inzwischen auch weltweit (External Investment Plan).
Bereits 2010 hatte eine Kommission unter Leitung des ehemaligen IWF-Chefs, Michel Camdessus, empfohlen, aus den europäischen Entwicklungsbanken eine European Bank for Cooperation and Development zu formen. Dazu ist es nie gekommen. Die großen Vier haben vielmehr ihr internationales Geschäft weiter ausgebaut und ihre Mandate erweitert. Alle sind in Afrika engagiert, machen Klimapolitik, orientieren sich an den globalen Nachhaltigkeitszielen und haben europäische Interessen im Blick. Auf EU-Ebene kooperieren sie im Rahmen von Plattformen, die aus dem EU-Budget bezuschusst werden, weil sie den europäischen Zielen außerhalb der EU dienen sollen (EU Platform For Blending In External Cooperation).
Jetzt ist die EIB mit dem Vorschlag vorgeprescht, eine neue europäische Entwicklungsbank als Tochtergesellschaft der EIB zu gründen, und zwar mit einem Fokus auf Afrika und den Balkan. Die anderen europäischen Entwicklungsbanken sind eingeladen, sich am Kapital der neuen Bank zu beteiligen. Diese ‚kleine‘ Lösung hat sicherlich den Charme, dass sie leichter umsetzbar ist als die von der Camdessus-Kommission empfohlene Neuordnung der europäischen Entwicklungsfinanzierung in einer großen Institution. Dennoch greift dieser pragmatische Ansatz angesichts der eingangs erwähnten globalen Entwicklungen aus den folgenden Gründen zu kurz:
Bei Entwicklungsbanken gibt es Größenvorteile. Nur Banken mit einer angemessenen Kapital- und Personalausstattung sind in der Lage, Risiken zu streuen, indem sie riskante und weniger riskante Investitionen gleichermaßen finanzieren. Sie haben die Aufgabe, schwierige Projekte zu entwickeln und langfristig zu finanzieren. Sie sollen Plattformen mit einem breiten Portfolio von Investitionsprojekten entwickeln, an denen sich die Privatwirtschaft und vor allem große institutionelle Investoren beteiligen können. All dies können die meisten Entwicklungsbanken mangels Masse nicht anbieten. Auch die neue, von China gegründete Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) beschränkt sich vorerst überwiegend auf die Ko-Finanzierung von Projekten, die andere entwickelt haben.
Die Unterscheidung zwischen Investitionen in Entwicklungs- und Industrieländern hat sich überlebt. Mit den globalen Nachhaltigkeitszielen, der internationalen Klimapolitik und der Notwendigkeit, massiv in nachhaltige Infrastruktur in globalem Maßstab zu investieren, ist die Unterscheidung zwischen Banken, die entweder Investitionen in Entwicklungs- oder in Industrieländern finanzieren nicht mehr zeitgemäß. Die Standards für Nachhaltigkeit, etwa bei Investitionen im Energiesektor, nähern sich weltweit an. Die Konvergenz von Industrie- und Entwicklungsländern nimmt zu, ebenso wie die Investitionen von Schwellenländern wie China und Indien in Industrieländern. Gerade die Notwendigkeit der Diversifizierung von Risiken in den Bankbilanzen spricht dafür, dass Entwicklungsländer-Risiken nicht in einer Bank konzentriert werden, wie dies bei der EIB-Initiative vorgesehen ist.
Wenn Europa in der Finanzarchitektur der Zukunft eine Rolle spielen will, braucht es eine Institution, die mit der Weltbank und den aufsteigenden asiatischen Akteuren in einer Liga spielt. Man sollte diese Chance jetzt nicht verstreichen lassen.
Thu, 23/11/2017 - 10:00
Bonn, 23.11.2017. Die von vornherein als "Arbeits-COP" (Conference of the Parties) deklarierte 23. UN-Klimakonferenz, die vom 6.-18. November unter Präsidentschaft der Fidschi-Inseln am UN-Standort Bonn tagte, musste im wesentlichen drei Vorgaben erfüllen, um als Erfolg gelten zu dürfen. Auf politischer Ebene musste sie, erstens, bestätigen, dass das Pariser Abkommen von 2015 und seine Ziele trotz eines Ausstiegs der USA nicht in Frage stehen. Auf programmatischer Ebene sollte sie, zweitens, die Verzahnung der klimapolitischen Zielvorgaben mit der multilateralen Entwicklungsagenda voranbringen. Drittens hatte sie auf technischer Ebene die Grundlagen eines verbindlichen Regelwerks zur eigentlichen Umsetzung des Pariser Abkommens zu schaffen.
Dies wurde im Großen und Ganzen erfüllt. Die Ergebnisse ermöglichen, dass im Vorlauf zur COP24 im polnischen Kattowitz geordnet weitergearbeitet werden kann. Das ist wichtig und war keineswegs garantiert. Überschwang kann aber angesichts der durch den fortschreitenden Klimawandel gebotenen Dringlichkeit, der Handlungsschwäche des einstigen Klima-Vorreiters Europäische Union und der zähen Bonner Verhandlungsrunde nicht aufkommen.
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen und Klimaaktivisten erhofften sich mehr, vor allem da erstmalig ein besonders betroffener kleiner Inselstaat die Präsidentschaft innehatte. Die Hoffnungen galten insbesondere Fragen eines beschleunigten weltweiten Kohleausstiegs, der Klimafinanzierung, der Anpassung an den Klimawandel und des Umgangs mit klimabedingten Schäden und Verlusten. Der zurückhaltende Beitrag der Bundeskanzlerin, offenkundig der verfahrenen Situation der nunmehr geplatzten Berliner Sondierungsgespräche geschuldet, dämpfte die Erwartungen zusätzlich. Die technisch-fachlichen Unterhändler, die in Bonn in zahlreichen Arbeitsgruppen und Sitzungen um das Kleingedruckte der zwischenstaatlichen Klimapolitik rangen, zeigten sich hiervon weitgehend ungerührt und machten schlichtweg ihren Job.
Als Ergebnis sind Fortschritte zu verzeichnen, die durchaus im Licht der Fidschi-Präsidentschaft zu betrachten sind. So etwa die von vielen technischen Detailfragen abhängige Entscheidung, wonach der unter dem Kyoto-Protokoll von 1997 geschaffene Anpassungsfonds auch unter dem Pariser Abkommen gültig sein soll. Diese zentrale Forderung vieler Entwicklungsländer hätte leicht vertagt werden können.
Das Thema Schäden und Verluste hätte in Bonn eher beiläufig im Bericht des 2013 eingerichteten Warschauer Mechanismus (WIM) behandelt werden sollen. Eine umfassende inhaltliche Bewertung des WIM steht erst für 2019 auf der Agenda. Angesichts der jüngsten Häufung schwerer Sturm- und Flutereignisse drängten die Gruppen der ärmsten Entwicklungsländer und der kleinen Inselstaaten jedoch darauf, Schäden und Verluste als regelmäßigen Tagesordnungspunkt der zweimal jährlich tagenden COP-Nebenorgane zu verankern. Mit diesem Anliegen konnten sie sich zwar gegenüber den Industrieländern, die ein institutionalisiertes Forum für Kompensationsforderungen der Entwicklungsländer fürchten, nicht durchsetzen. Es wurde aber unter der Verhandlungsführung Fidschis ein internationaler Expertendialog vereinbart, der sich bei den nächsten Zwischenverhandlungen im Mai 2018 gezielt mit Finanzierungsfragen im Zusammenhang klimabedingten Schäden und Verluste befassen wird. Dessen Ergebnisse sollen wiederum 2019 in die Bewertung des WIM einfließen. Zudem wurde in der entsprechenden COP-Entscheidung explizit die Sorge vor der Häufung und Intensivierung klimabedingter Katastrophen aufgenommen, wogegen sich insbesondere Australien und die USA bis zuletzt verwehrten. Auch wenn dies trivial anmutet, ist es im prozeduralen Klein-Klein der multilateralen Klimapolitik ein nicht zu unterschätzender Fortschritt, auf den in zukünftigen Verhandlungsrunden fortan Bezug genommen werden wird. Ohne die symbolträchtige Präsidentschaft der Fidschi-Inseln wäre dies wohl kaum erreicht worden.
Nicht zuletzt ist auch die Einrichtung des sogenannten Talanoa-Dialogs zu erwähnen, der die Parteien zum fortlaufenden Austausch über die Einhaltung sowie die angestrebte Erhöhung ihrer jeweiligen Klimaziele anhält. Damit gewährleistet die Fidschi-Präsidentschaft eine effizient strukturierte Vorbereitung der COP24 unter Einbeziehung ihrer polnischen Nachfolger. Derart soll das Kohleland Polen, das nicht zu den klimapolitischen Vorreitern zählt, bereits vor Beginn seiner COP24-Präsidentschaft in die Pflicht genommen werden. Der Talanoa-Dialog gilt daher als der eigentliche Coup der Fidschi-Präsidentschaft. Das Format könnte der Fidschi-Präsidentschaft helfen, unvollendete Verhandlungsbaustellen weiter voranzutreiben und das weitere Geschehen aktiv im Sinne einer ambitionierteren Klimapolitik zu gestalten.
Der wahre Ertrag der Bonner COP wird sich indes erst bei der COP24 bemessen lassen, wenn ein ausverhandeltes Regelbuch zur Verabschiedung auf dem Tisch liegt.
Mon, 20/11/2017 - 09:44
Bonn, 20.11.2017. 2017 war bisher von turbulenten Ereignissen geprägt. Diplomatische Spannungen, Kriege und globale Probleme, wie die Erderwärmung oder die ökonomische Ungleichheit waren auch weiterhin an der Tagesordnung. Angesichts dieser Lage ist es ermutigend, die Agenda 2030 als gemeinsamen Referenzpunkt in den zwischenstaatlichen Beziehungen zu wissen.
Insbesondere während stockender Dialogprozesse werden Netzwerke, wie Managing Global Governance (MGG), eine Plattform, die das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik mit Partnerinstitutionen unterhält, bei der Diskussion globaler Probleme und Ungleichheiten sowie bei der Erarbeitung von Lösungen umso relevanter. Eine wichtige Diskussion, die auch im Zentrum unseres MGG Alumni- und Partnertreffens diese Woche steht, ist daher die Frage nach globaler Gerechtigkeit.
Globale Gerechtigkeit, was heißt das?
Die politischen und ökonomischen Beziehungen zwischen Staaten sind oft von großer Ungleichheit geprägt. Die Länder des Südens beklagen oft zu Recht schwere Missstände wie ungleiche Marktzugänge oder den umweltbelastenden Ressourcenabbau durch multinationale Konzerne und den Abfluss der Gewinne in andere Länder.
Aus diesem Grund fordern einige Wissenschaftler und Aktivisten unter dem Begriff der Globalen Gerechtigkeit eine Überwindung der weltweiten Ungleichheit. Zu den prominenten Vertretern werden u.a. gezählt: der 2002 verstorbene Philosoph John Rawls (Harvard University); der Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Nobelpreisträger Amartya Sen (Harvard University) sowie Martha Nussbaum, Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik (University of Chicago). Nussbaum entwickelte den Sens Capability-Ansatz zur Messung menschlicher Entwicklung weiter und legte eine Liste mit zehn Befähigungen vor, die zu einem guten Leben gehören. Dazu zählen u.a. die physische Unversehrtheit, die Möglichkeit ein selbst geplantes Leben zu führen, aber auch die Möglichkeit der Redefreiheit.
Die Agenda 2030 erlaubt - und erfordert - eine Konkretisierung der Gerechtigkeitsdebatte jenseits des wissenschaftlichen Diskurses.
Konkrete gemeinsame Schritte
Oft scheitert die Umsetzung von globaler Gerechtigkeit an mangelnder Zusammenarbeit zwischen Vertretern unterschiedlicher Institutionen. Ein konkretes Projekt, das seit zehn Jahren besteht und diesen Mangel zu beheben sucht, ist die Dialogplattform Managing Global Governance (MGG). MGG wurde 2006 vom BMZ gemeinsam mit dem DIE und der damaligen InWEnt (heute GIZ) begonnen und startete im DIE Anfang 2007 unter dem Namen „Global Governance School“.
Das Programm bringt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Vertreterinnen und Vertreter politischer Institutionen aus Deutschland und sechs aufstrebenden Staaten (Mexiko, Brasilien, Südafrika, Indien, Indonesien und China) regelmäßig in verschiedenen Formaten zusammen. Zu diesen gehört die MGG Academy, die über einen Zeitraum von fast vier Monaten junge Nachwuchsführungskräfte aus den genannten Staaten und Deutschland/Europa in Bonn zusammenführt. Hier entwickeln die Teilnehmenden, nach einer akademischen Phase, ein eigenes Projekt, das Lösungen für bestehende Probleme bietet. In Anlehnung an die Agenda 2030 versuchen die Nachwuchsführungskräfte z.B. Ideen für nachhaltigen Tourismus zu entwickeln. Darüber hinaus bietet das Netzwerk weitere Formate an, in denen sich Mitglieder des Netzwerks z.B. für die Einführung freiwilliger Produktionsstandards in den Partnerländern einsetzen.
Vom 20. bis 22. November feiert das Netzwerk sein zehnjähriges Bestehen mit einer großen Alumni- und Partnerkonferenz in Bonn. Die über 150 Gäste werden die Gelegenheit nutzen, um die Fragen der Agenda 2030 und der globalen Gerechtigkeit in verschiedenen Formaten zu erörtern. In einer Podiumsdiskussion werden sie z.B. ein alternatives Gerechtigkeitskonzept aus Ägypten kennenlernen, um dann den Begriff unter verschiedenen Perspektiven zu diskutieren. Die Beteiligten werden die Agenda 2030 und den Begriff der globalen Gerechtigkeit auf konkrete Projekte aus den eigenen Arbeitsfeldern, wie die Setzung von Standards und Normen bei der Güterproduktion oder die zwischenstaatliche Kooperation behandeln. Dabei werden sie aus dem Vollen schöpfen, denn die meisten Perspektiven werden durch die Expertise aus dem MGG-Netzwerk selbst abgedeckt.
Das Thema der globalen Gerechtigkeit ist ein Ideal. Mit der Verabschiedung der Agenda 2030 besteht jedoch die Chance, konkrete Maßnahmen auf diesem Weg einzufordern, zu überprüfen und umzusetzen. Der persönliche Austausch von Wissen, das gemeinsame Lernen und die Formulierung von Handlungsempfehlungen für relevante Akteure, wie es MGG seit zehn Jahren durch sein Netzwerk praktiziert, ist hier ein Beitrag zur Konkretisierung dieser Ziele und somit ein Schritt von der Debatte zum Handeln.
Thu, 16/11/2017 - 08:50
Bonn, 16 November 2017. The first Yearbook of Climate Action shows that effective climate action by businesses, cities and regions, and other actors could make significant contributions to narrowing the global emissions gap, adapting to climate change, and demonstrating to governments that higher ambition is desirable and doable. Moreover, climate action is growing in the global South, and many climate action initiatives are producing outputs toward their goals. Key challenges of inclusion and scope remain, however, creating an urgent need to invest in scaling up climate action – and the framework supporting it – in 2018.
It is difficult to overestimate the importance of actions by businesses, investors, civil society, cities and regions in today’s climate crisis. Pledges by governments under the Paris Agreement would still translate into 3°C warming or more, resulting in adverse impacts for a majority of people, and high risk of irreversible economic and ecological disruptions. Non-state and subnational actions could significantly narrow the global mitigation gap, as well as promote adaptation, especially in developing countries. The first Yearbook on Global Climate Action by the High-level Climate Action Champions, launched at the closing of the high-level Global Climate Action sequence at COP23, shows that non-state actors are starting to deliver.
First, the groundswell of climate action is expanding and diversifying; businesses, investors, civil society, cities and regions are not only making concrete contributions to reduce greenhouse gases, they are also addressing the need to adapt to already occurring climate change, and to build resilience among vulnerable communities.
Second, climate action is truly becoming a global affair engaging stakeholders from all sectors, and across developed and developing countries. Although most climate actions are still led by actors based in the Global North, they are rapidly scaling up implementation in developing countries.
Third, climate actions are becoming increasingly effective. The vast majority of current climate commitments are no longer just promises on paper; but they have become concrete actions, making real contributions to climate mitigation and adaptation.
Notwithstanding these encouraging trends, much of the vast potential of non-state and subnational actors remains unrealised. For instance, small and medium enterprises (SMEs) are underrepresented in the Marrakech Partnership, even though they contribute up to 60 per cent of employment and up to 40 per cent of economic output in emerging economies. For many developing countries, the shares of SMEs are even higher. Moreover, rural communities are currently underrepresented, even though they make up around half of the world’s population. A total transformation as implied by the Paris Agreement goal to achieve a carbon neutral world by the second half of the century can leave no single stakeholder group, sector or community behind.
As indicated in the Yearbook on Global Climate Action, businesses, civil society organisations, local governments and other actors run into operational challenges. They face a lack of (access to) funding, expert knowledge, and/or organisational capacity to implement their commitments. To ensure greater effectiveness over time, the Marrakech Partnership should consider additional ways to scale-up support to individual cities, businesses, civil society groups, and others seeking to deliver climate action on the ground.
As the world faces an urgent mitigation challenge in the next few years, a focus on large-scale mitigation actions is necessary and desirable. However, climate action encompasses more than mitigation. The impact of climate change is already wreaking havoc on vulnerable communities and developing countries. While non-state and subnational climate actions are diversifying, too little attention is still given to building climate resilience and adaptation capacity. The Marrakech Partnership should continue to incentivise and spotlight adaptation and resilience actions, especially in developing countries.
It is welcome news that the large majority of climate commitments are more than promises on paper; they are starting to deliver relevant outputs that could lead to desired changes in environmental and social indicators. However, data gaps continue to hamper a comprehensive valuation of non-state and subnational climate actions. For instance, limited data availability and the use of different methodologies to assess mitigation impacts hinder a clearer understanding of aggregate contributions of non-state and subnational actions. Stronger cooperation between data platforms and collaboration between data-analysts can help resolve knowledge gaps.
Finally, as the Marrakech Partnership for Global Climate Action moves forward, its continued success will depend on increased support from the governments in the UNFCCC process, the UNFCCC Secretariat, and other actors. To implement the Paris Agreement, we need to turn the Marrakech Partnership into a more effective bridge between parties and other actors. Cities, businesses, investors, and civil society can help to meet existing Nationally Determined Contributions (NDCs) while also identifying new opportunities to enhance ambition going forward. In 2018, the Talanoa Dialogue and the Global Climate Action Summit in California create an enormous opportunity to go further, faster, together.
Sander Chan is a Senior Researcher at German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) and Adj. Asst Professor at Copernicus Institute of Sustainable Development (Utrecht University), Thomas Hale is an Associate Professor in Public Policy (Global Public Policy) at the Blavatnik School of Government, University of Oxford, Angel Hsu is an Assistant Professor of Environmental Studies at Yale-NUS College and Adjunct of the Yale School of Forestry and Environmental Studies, Friederike Eichhorn is a Researcher at German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Ann Gardiner is Director at AG Climate and Energy Ltd, Brendan Guy is a Manager at Natural Resources Defense Council (NRDC).
Tue, 14/11/2017 - 12:15
Bonn, 14.11.2017. Zwei Jahre nach Abschluss des wegweisenden „Pariser Abkommens“ im Dezember 2015 diskutieren die Vertragsparteien der COP23 in Bonn darüber, wie sie ihre jeweiligen nationalen klimapolitischen Ziele kurzfristig erhöhen können, ohne dabei nationale und internationale Entwicklungsziele aus den Augen zu verlieren. Dabei sieht sich COP23 ungewollt mit der zusätzlichen Aufgabe konfrontiert, der Welt zu versichern, dass das Pariser Abkommen trotz der Abkehr der USA nicht zur Disposition steht.
Die erste Verhandlungswoche war diesbezüglich zumindest ermutigend. Angeführt von Prominenten wie dem ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore, dem vormaligen New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg und Hollywood-Legende Arnold Schwarzenegger demonstrierte die ungewohnt starke Präsenz von Gouverneuren und Senatoren aus einzelnen US-Bundesstaaten, den Bürgermeistern wichtiger US-Metropolen und wirkungsmächtigen amerikanischen Unternehmensvertretern und Nichtregierungsorganisationen unter dem Motto #WeAreStillIn eindrucksvoll, dass eine progressive US-amerikanische Klimapolitik auch ohne Unterstützung ihres Präsidenten weitergeht. Ein erfahrener COP-Teilnehmer aus Bangladesch brachte es im Rahmen der vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) mitveranstalteten Development and Climate Days am vergangenen Wochenende in Bonn wie folgt auf den Punkt: Zwar kehre der US-Präsident der Klimapolitik den Rücken zu, nicht aber sein Volk. Dies wird von COP23 mit Dank und Erleichterung zur Kenntnis genommen. Viele Unterhändler anderer Nationen bringen gar explizit Mitleid mit ihren US-Kollegen zum Ausdruck, die weisungsgebunden die Verhandlungslinien aus dem Weißen Haus vertreten müssen.
In substanziellen Fragen soll sich COP23 vor allem auf ein gemeinsames „Regelbuch“ verständigen, das zukünftig anleiten soll, wer wann, mit welchen Mitteln welche klimapolitischen Maßnahmen zur Umsetzung des Pariser Abkommens ergreifen sollte und wie sich die Vertragsparteien regelmäßig, in transparenter, umfassender und vergleichbarer Weise über ihre jeweiligen Umsetzungsfortschritte unterrichten wollen. Nach einer zähen ersten Verhandlungswoche erscheint zu Beginn der zweiten Verhandlungswoche eine Einigung greifbar. Ob sie gelingt, bevor am Mittwoch und Donnerstag die Staats- und Regierungschefs einfliegen, um medienwirksam die erwarteten Fortschritte zu preisen, ist jedoch keineswegs gesichert. Damit aber die entsprechenden Leitlinien auf der nächsten Klimakonferenz 2018 offiziell verabschiedet und für alle Parteien verbindlich in Kraft treten können, muss die Bonner Konferenz liefern. Die Regierungsspitzen sind im Zweifel gefordert, bei ihren Unterhändlern für den nötigen Nachdruck zu sorgen. Wird über die Bonner Klimakonferenz hinaus noch um die Regeln gefeilscht, riskieren die Vertragsparteien entscheidende Zeit zu verlieren, die am Ende fehlt, um das im Pariser Abkommen festgeschriebene Ziel einer maximalen globalen Erwärmung von 1,5-2°C in Reichweite zu halten. COP23 würde dann als "bad COP" in die Chronologie der internationalen Klimapolitik eingehen.
Nicht zuletzt ist COP23 erkennbar darum bemüht, die Verbindungen zwischen der globalen Klimapolitik und nachhaltiger Entwicklung herauszuarbeiten. Dazu müssen insbesondere die Ziele des Pariser Abkommens mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs) in Einklang gebracht werden, die ebenfalls 2015 verabschiedet wurden. Nur so können unvermeidliche Zielkonflikte sichtbar gemacht und zum Gegenstand politischer Abwägung und Prioritätensetzung werden, denn letztlich bleiben Klimawandel und Klimapolitik eine Entwicklungsherausforderung. Dies gilt umso mehr als absehbare Auswirkungen des Klimawandels erreichte Entwicklungserfolge untergraben und die Nachhaltigkeit der Entwicklungsanstrengungen grundsätzlich in Frage stellen. Deshalb soll die Bonner Klimakonferenz auch dazu beitragen, mehr Klimafinanzierung zu mobilisieren und sich insbesondere über die Zukunft des Anpassungsfonds der UNFCCC zu verständigen. Dieser soll Entwicklungsländern bei der Stärkung ihrer Resilienz und bei der Anpassung an den Klimawandel helfen. Auch diese Punkte bleiben in der laufenden Verhandlungsrunde umstritten und bedürfen nicht nur klarer Bekenntnisse, sondern auch konkreter Zusagen speziell der wohlhabenden Industrienationen. Sichtbare Fortschritte bei der Ausstattung des Anpassungsfonds und der Weiterentwicklung der in Paris auf den Weg gebrachten Anpassungsagenda werden maßgeblich über die Bewertung der COP23 in den Entwicklungsländern entscheiden.
Die offenen Punkte der Verhandlungsagenda wie auch das Verhalten der Trump-Administration erfordern eine noch führungsstärkere Klimadiplomatie der verbleibenden Hauptakteure globaler Klimapolitik, namentlich von China und der EU. Es wäre für die Bonner Verhandlungsrunde und darüber hinaus sehr hilfreich, wenn sich diese Einsicht endlich auch unter den Sondierern der designierten „Jamaika-Koalition“ durchsetzen würde. Auf ein entsprechendes Signal des Deutschlands, das seine selbst gesteckten Klimaziele krachend zu verfehlen droht, wartet COP23 nach wie vor vergeblich. So wird am Ende auch der Auftritt der Bundesregierung im für Mittwoch und Donnerstag anberaumten High-level Segment der COP23 mit darüber entscheiden, ob die Bonner Klimakonferenz als good COP oder bad COP im Gedächtnis bleiben wird.
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